Einige kurze Vorbemerkungen
Seit vielen Jahren schon versuchen Flüchtlinge von Calais aus Großbritannien zu erreichen. Bis 2002 gab es bei Calais ein zentrales Flüchtlingslager, dass vom Roten Kreuz betrieben wurden. Die Schließung erfolgte, nachdem staatliche Stellen massiven Druck ausgeübt hatten. Seitdem lebten die Flüchtlinge in leerstehenden Gebäuden in und um Calais, sowie in vertreut liegenden kleinen Zeltlagern. Über die Jahre gab es immer wieder Räumungen und Neubesetzungen, sowie zeitweise massive Angriffe durch örtliche Faschisten und "Bürgerwehren". Die Geschichte der Flüchtlinge in Calais ist aber über all die Jahre nicht nur eine Geschichte von Verfolgung und Repression, sondern auch von Widerstand, Unterstützung und gemeinsamen Kämpfen von Flüchtlingen, Unterstützern und antagonistischen Linken.
Nachdem es dem Staat gegen einen hartnäckigen Widerstand gelungen war, in einem jahrelangen Zermürbungsprozeß sämtliche besetzten Gebäude und verstreut liegenden Zeltlager zu räumen und Neubesetzungen zu verhindern, konzentrierten sich nun im Jungle von Calais über fünftausend Menschen, darunter mehrere hundert unbegleitete Minderjährige. Hier entstanden mit Unterstützung von verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen zahlreiche Gemeinschafts- und Infrastrukturprojekte. Der Jungle besitzt heute Schulen, Theater, Restaurants, ... Es wäre an dieser Stelle vermessen, angesichts des Lebens in improvisierten Hütten und Zelten, angesichts der teilweise gewaltförmigen Strukturen, die sich auch im Jungle ihren Platz gesichert haben, das soziale Leben im Jungle zu idealisieren. Aber der Jungle ist ebenso wie die Kämpfe, die über all die Jahre in und um Calais stattgefunden haben, auch ein Ausdruck dessen, was unter schwierigsten Bedingungen an Selbstorganisierung, und Solidarität möglich ist. Die Hetze in einigen bürgerlichen Medien zielt nicht umsonst auf genau diesen Prozess ab.
Calais - Räumungen und Widerstand. Aktionen gegen das Grenzregime und gegen die Repression. (2016)
Bereits im Dezember 2015 kommt es zu zwei spektakulären Aktionen, bei denen viele hundert Menschen gleichzeitig versuchen den Tunnel in Richtung Großbritannnein zu stümen, bzw. auf die Lastkraftwagen zu gelangen, die in Richtung Großbritannien unterwegs sind. Hierbei kommt es zu größeren Auseinandersetzungen mit den Bullen.
Am 5. Januar verkündet die Gemeinde von Calais, dass sie nur 2000 Menschen im Jungle tolerieren wird. Zu diesem Zeitpunkt leben aber bereits um die fünftausend Menschen im Jungle. Es ist klar, dass dies bedeutet, dass Teile des Jungle geräumt werden.
Am gleichen Abend kommt es zu einem Angriff von Faschisten auf eine Gruppe von Flüchtlingen, die vom Lager aus in Richtung Stadt unterwegs sind. Die Faschisten ziehen bei der Konfrontation den Kürzeren, dafür greifen die Bullen ein und es kommt bis in die Morgenstunden zu heftigen Kämpfen, bei denen hunderte von Gasgranaten und Gummigeschosse verschossen werden.
Am 6. Januar versuchen Flüchtlinge die am Jungle vorbei führende Autobahn zu blockieren, um auf die nach Großbritannein fahrenden LKW zu gelangen. Es kommt daraufhin zu neuen Kämpfen mit den Bullen.
In der Nacht zum 7. Januar kommt es am Rande des Jungle zu neuen Kämpfen mit den Bullen, bei denen diese über Stunden Gasgranaten ins Lager schiessen. Auch zwei Wasserwerfer werden bei den Kämpfen eingesetzt. Auch eine Gruppe Faschisten versucht erneut ihr Glück und muss sich wieder zurück ziehen.
Am 18. Januar erfolgt die erste Teilräumung des Jungle von Calais. Ein kleineres Teilstück an der Autobahn wird aus "angeblichen Sicherheitsgründen" geräumt. Die meisten Bewohner haben schon das Gelände verlassen und sind in andere Teile des Camps umgezogen, als die Bullen anrücken. Der Rest weicht ohne grösseren Widerstand, allerdings haben kurz zuvor zwei Baufahrzeuge einer Firma gebrannt, die an der Vertreibung von Flüchtlingen beteiligt war.
Am 23. Januar demonstrieren über 2000 Menschen in Calais gegen das Grenzregime. Unter den Demonstranten sind etliche Bewohner des Jungle, die sich der Demo angeschlossen haben. Gut organisiert gelingt der massenhafte Durchbruch in den abgesperrten Hafenbereich. Die Bullen feuern massiv Reizgas, was aber nicht verhindern kann, dass die Fähre Spirit of Britain gestürmt und besetzt wird.
Am 22. Februar wird in mehreren Sprachen ein Aufruf zur internationalen Unterstützung veröffentlicht. Die Behörden kündigen an, das der definierte Teilbereich des Jungle bis zum 23. Februar zu räumen sei. Allerdings werden Rechtsmittel eingelegt, sodass sich die Räumung bis zur Entscheidung des zuständigen Gerichts hinziehen wird.
Am 23. Februar findet in London eine Aktion während einer Veranstaltung mit dem französischen Botschafter statt. Mehrere dutzend Menschen stören vor und im Gebäude des Privatclubs mit Transparenten, Sprechchören und Rauchbomben den Empfang.
Am 26. Februar tauchen die Bereitschaftsbullen im Jungle auf. Allerdings wird noch nicht geräumt, sondern sie halten sich im Hintergrund, während "Sozialarbeiter" und Vertreter der örtlichen Behörden von Zelt zu Zelt und von Hütte zu Hütte gehen und die Menschen im betroffenden Gebiet auffordern, den Jungle "freiwillig" zu verlassen. Das zuständige Gericht in Lille hatte gestern die geplante Räumung für rechtmäßig erklärt. Nur wenige der Flüchtlinge gehen auf das Angebot der Behörden ein, sich in eines der quer über das Land verstreuten staatlichen "Migrationszentren" bringen zu lassen. Fast alle Plätze in den bereitgestellten Bussen bleiben leer. Der französiche Innenmninister erklärt öffentlich im Fernsehen, man wolle den Jungle "nicht mit Gewalt räumen".
Am Morgen des 29. Februar beginnt die (Teil) Räumung des Jungle. Mehrere Hundertschaften Bereitschaftspolizei marschieren auf, um den Einsatz der Arbeiter und Bulldozer des Abbruchunternehmens abzusichern. Anfänglich kommt es noch zu ausschließlich passiven Widerstand, die Menschen sitzen teilweise auf den Hütten, die abgerissen werden sollen. Doch ab dem frühen Nachmittag kommt es zu heftigen Zusammenstössen. Immer wieder fliegen Steine auf die Bullen, die Tränengas verschiessen und Wasserwerfer einsetzen. Die Zusammenstösse dauern über Stunden an, das Reizgas weht über weite Teile des Jungle. Am Abend kommt es zu heftigen Kämpfen auf der Autobahn, die am Jungle vorbeiführt, als aufgebrachte Flüchtlinge nach Großbritannien fahrende LKW stoppen und teilweise auch attackieren.
Am 1. März wird die Räumung fortgesetzt. Heute brennen nur vereinzelt Zelte, vorwiegend leisten die Bewohner passiven Widerstand. Wieder sind viele auf den Dächern ihrer Hütten und werden von den Bullen von dort teilweise mit Gewalt herunter geholt. In Nantes versammeln sich am Abend 200 Leute in Solidarität, es wird teilweise gesprüht und es kommt zu trouble mit den Bullen. In London versammeln sich 50 Leute zu einer Demo, in Paris sind es über 100, die meisten davon leben selber als Flüchtlinge in Paris.
Am 2. März das gleiche Bild wie gestern. Gegen 8:30 Uhr fahren die Bullen vor, systematisch werden dann weitere Zelte und Hütten abgerissen. In der Nacht gab es ein grösseres Feuer im Jungle, es hat lange gedauert, bis die Feuerwehr kam. Ein Bewohner des Jungle ist in der Nacht an Herzversagen gestorben, die genaueren Umstände bleiben bis heute ungeklärt. Eine Gruppe von Iranern tritt am Nachmittag in den Hungerstreik. Mit zugenähten Mündern treten sie vor die Medienvertretern. In Athen wird als Reaktion auf die Räumungen in Calais das französische Institut mit Molotows beworfen
Am 3. März fallen weitere Hütten und Zelte den Abrissarbeiten zum Opfer. Im Jungle macht sich immer mehr Ohnmacht breit, trotzdem sitzen immer wieder Menschen auf den Dächern ihrer Hütten oder zünden ihre Behausung aus Protest lieber selber an, bevor diese abgerissen wird. Einige weitere Menschen schliessen sich dem Hungerstreik an. Im Flüchtlingscamp von Grande-Synthe, in dem die Bedingungen weitaus katastrophaler als im Jungle sind, kommen immer mehr Flüchtlinge aus Calais an. In Brüssel findet eine kleinere Solidaritätskundgebung statt.
Am 4. März wieder die Bullen im Jungle, es wird weiter abgerissen. Am Abend demonstrieren in Paris 500 Menschen gegen die Räumungen in Calais.
Am 5. März ruhen die Abbrucharbeiten in Calais, es ist Wochenende. In London treffen sich um die 100 Leute, die Westminster Bridge im Herzen der Haupstadt wird kurzfristig blockiert.
Am 6. März kommen etliche Leute aus verschiedenen Teilen Frankreichs, aber auch aus Großbritannien nach Calais in den Jungle. Die Bullen rücken auch am Sonntag mit diversen Mannschaftswagen an, sicher ist sicher. Denn der Jungle lebt.
Am 7. März rücken wieder die Bullen im Jungle an, das Wochenende ist vorbei. Der Hungerstreik geht weiter, die Leute haben jetzt einen eigenen blog. "Ärzte ohne Grenzen" eröffnet in Grande-Synthe ein Camp mit festen Holzhütten. Das ist das erste Mal, dass die Organisation so etwas in Zentraleuropa tätigt. Lediglich der grüne Bürgermeister des Ortes hat mitgeholfen, dass das Camp gebaut werden kann. Der Zentralstaat ignoriert, von der Präsenz von Bullen abgesehen, die Existenz des Camps. Die ersten Flüchtlinge ziehen ein.
Am 8. März gehen die Abrucharbeiten im Jungle von Calais weiter, während das gerade gestern erst eröffnete Lager in Grande-Synthe von "Ärzte ohne Grenzen" schon aus allen Nähten platzt. Im Laufe des Tages werden Flüchtlingen von dort wieder weggeschickt, versuchen daraufhin in ihr altes Lager zurück zu kehren. Die Bullen verhindern aber, dass sie dorthin mit ihren Habseligkeiten zurück kehren, es wird sogar unterbunden, dass sie ihre Schlafsäcke mitnehmen. Es gibt erste (unbestätigte) Berichte von Feuern und Explosionen im alten Lager von Grande-Synthe.
Weitere Berichte und Reportagen:
B. Schmid auf labour net (1):
http://www.labournet.de/internationales/frankreich/menschenrechte-frankreich/calais-teilraeumung-des-jungle-camps-von-migranten-am-aermelkanal-ist-im-gange/
B. Schmid auf labour net (2):
http://www.labournet.de/internationales/frankreich/menschenrechte-frankreich/calais-frankreich-grossbritannien/#more-94632
Bericht in der Jungle World (1)
http://jungle-world.com/artikel/2016/09/53587.html
Bericht in der Jungle World (2)
http://jungle-world.com/artikel/2016/09/53589.html
Bericht aus dem Tagesanzeiger:
http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/standard/am-kap-der-hoffnungslosigkeit/story/19104604
*Rumble in the Jungle - War die Bezeichnung des weltweit Aufsehen erregenden legendären Boxkampfes zwischen George Foreman und Muhammed Ali 1974 in der Hauptstadt des damaligen Zaire. Sowohl Ali selbst auch auch der Austragungsort in Zentralafrika standen stellvertretend symbolisch für ein neues schwarzes Selbstbewusstsein, auch wenn der Kampf in Kinshasa ausgetragen wurde, um die Millioneneinnahmen aus dem Kampf nicht versteuern zu müssen.
Danke!
F[r den {berblick
Danke für den Bericht.
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