Der 20. Transport

Inschrift des Denkmals »Drei Hände« am Bahnhof von Boortmerbeek.
Erstveröffentlicht: 
18.07.2013

Vor 70 Jahren überfielen Widerstandskämpfer in Belgien einen Deportationszug nach Auschwitz

Am 19. April 1943 stoppten drei junge Männer nachts auf offener Strecke einen Zug, in dem sich 1636 Jüdinnen und Juden in 40 Güterwaggons auf dem Weg vom belgischen Mechelen nach Auschwitz befanden. Es ist der einzige Deportationszug, der jemals von Widerstandskämpfern angegriffen wurde, um die eingesperrten Waggoninsassen zu befreien. 17 Menschen konnten sich infolge dieses Überfalls aus einem Waggon retten. Viele Waggoninsassen hatten jedoch bereits im Vorfeld geplant, aus dem Zug zu fliehen. So kam es, dass sich zusätzlich 215 Deportierte bis zum Erreichen der deutschen Grenze aus eigener Kraft aus dem Zug befreien konnten.

 

Besatzung und Widerstand

 

Belgien, im April 1943: Seit dem Einmarsch der Nazis im Mai 1940 waren die knapp 75.000 in Belgien lebenden Juden und Jüdinnen systematisch ent­rechtet und enteignet worden. Die Nazis hatten in einer ehemaligen Kaserne in Mechelen das zentrale Sammellager für Juden und Jüdinnen eingerichtet und im Sommer 1942 mit den Deportationen nach Auschwitz begonnen.

Unter den in Mechelen Inter­nierten gab es im Frühjahr 1943 unterschiedliche Annahmen, was sie am Ziel erwarten würde. Die Nazis versuchten ihnen glaubhaft zu machen, ein »Arbeitseinsatz« in Deutschland stünde ihnen bevor, doch vielen war mittlerweile klar, dass es eine Reise in den Tod sein würde. Sowohl über die BBC als auch über politische Netz­werke hatten Hinweise über den in Ost­europa von den deutschen Besatzern verübten Massenmord an Jüdinnen und Juden Belgien erreicht.

 

Die Allmacht der deutschen Besatzer erlitt Anfang 1943 Einbrüche. Am 20. Januar 1943 setzte sich Jean de Sélys Longchamp, ein belgischer Pilot der britischen Royal Air Force, bei einem Erkundungsflug von seinem Geschwader ab und nahm Kurs auf Brüssel. Ganz alleine flog er im Tiefflug über die Stadt und griff das Hauptquartier der Gestapo und der SS in der Avenue Louise an. Der Gra­natenbeschuss beschädigte das Ge­bäude schwer und tötete mehrere NS-Funktionäre. Danach verschwand Sélys Longchamp unbeschadet. Eine noch größere Verwundbarkeit der Besatzer offenbarte die endgültige Niederlage der 6. Armee in Stalingrad in den ers­ten Februartagen 1943. Zwei Ereig­nisse, die in der belgischen Bevöl­ke­rung die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges nährten und durch die die deutschen Besatzer den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren. Der Widerstand nahm zu und damit auch die Bereitschaft zur Flucht während der Deportationsfahrten.

 

Deportationen in den Tod


Aus diesen Gründen und weil aus den beiden Deportationszügen zuvor be­reits 304 Insassen geflohen waren, verschärften die Deutschen für den bevorstehenden 20. Transport die Bedingungen. Statt Personenzügen setz­ten sie nun Güterwaggons ein, deren Türen verriegelt und deren Luken vergittert oder zugenagelt waren. Wer flüchten wollte musste nun Werk­zeuge oder Messer in die Waggons schmuggeln, um damit Löcher in die Wände oder den Boden des Waggons zu sägen oder die Gitterstäbe vor den Luken zu zerschneiden. Wer es schaff­te, aus dem Waggon heraus zu kommen, sprang seitlich vom fahrenden Zug oder ließ sich ins Gleisbett unter den Zug fallen, in jedem Fall ein le­bens­gefährliches Unternehmen. Et­li­che starben bei der Flucht, viele verletzten und verstümmelten sich. Andere wurden von den schwer bewaffneten Begleitkommandos erschossen.

 

Bei den Bewachern handelte es sich in der Regel um Angehörige der Schutz­­polizei, die in separaten Personenwaggons am Anfang, in der Mitte und am Ende des Zuges unter strikter Trennung von den Deportierten pos­tiert wurden. Sowohl durch die Aussagen ehemaliger Schutzpolizisten in Ermittlungs- und Strafverfahren als auch aufgrund der Zeugnisse von Überlebenden ließen sich die Maßnahmen rekonstruieren, die im Falle eines Fluchtversuchs ergriffen wurden: die Bewacher nahmen die Fliehenden unter Beschuss, zogen die Notbremse und nahmen die Verfolgung zu Fuß auf.

 

Die zur Flucht entschlossenen Waggoninsassen warteten darauf, dass der Zug in Kurven und bei Steigungen langsamer fuhr und sie nutzen den Schutz der Nacht, um ungesehen abspringen zu können. Die Zeit war knapp. Da eine Flucht auf deutschem Reichsgebiet wegen der feindlich eingestellten Bevölkerung als aussichtslos eingeschätzt wurde, musste die Flucht noch vor der deutschen Grenze stattfinden. Diese war nach fünf Stunden Fahrt erreicht.

 

Die 1636 Gefangenen, die am 19. April 1944 zum Bahnhof in Mechelen und dort in die 40 bereitstehenden Waggons des 20. Transports getrieben wurden, erwartete ein kaum zu be­schreibender Alptraum: Zu Dutzenden eingepfercht in einen Güterwaggon, ohne Heizung oder Lüftung, ohne Sitze und Matratzen, wenig Verpflegung und Wasser. Als Toilette stand lediglich ein Eimer zur Verfügung, der nicht geleert werden konnte, schon nach kurzer Zeit überlief und einen schier unerträglichen Gestank in dem kaum belüfteten Waggon verursachte. Drei Tage und Nächte dauerte die Fahrt.

 

Die Nazis hatten ein perfides System entwickelt, um Fluchten zu verhindern. Für den Fall einer Flucht drohten sie mit der Erschießung der verbliebenen Waggoninsassen, ein von den deutschen Bewachern bestimmter »Waggonältester« wurde für den störungsfreien Ablauf in die besondere Verantwortung genommen. Viele Fluchtberichte beschreiben interne Konflikte. Fluchtwillige mussten sich mit Entschlossenheit und manchmal auch mit physischer Gewalt gegen die durchsetzen, die ihre Flucht zu verhindern versuchten. Die Krankenschwester und Widerstandskämpferin Régine Krochmal, die dem letzten Waggon des 20. Transports zugeteilt war, wo sie sich zusammen mit einem mitgefangenen Arzt um Schwerkranke und Sterbende kümmern sollte, beschreibt diese Auseinandersetzung beispielhaft. Als sie ihre Fluchtpläne offenbarte, entgegnete ihr der Arzt, das könne sie nicht machen, sie hätten die Pflicht, sich um die Kranken zu kümmern. Krochmal erwiderte, dass sie nichts für die Kranken und Sterbenden tun könne, dass es viel­mehr ihre Pflicht sei, zu ihrer Widerstandsgruppe zurückzukehren und erneut aktiv zu werden. Als der Arzt versuchte, sie an der Flucht zu hindern, schlug sie ihn nieder. Sie zersägte die Gitterstäbe vor der Luke und sprang aus dem fahrenden Zug.

 

Allen Gefahren und widrigen Umständen zum Trotz hat es aus den Deportationszügen ab Mechelen 577 Fluchten gegeben. Alleine aus dem 20. Transport konnten sich 215 Deportierte bis zum Erreichen der deutschen Grenze aus eigener Kraft unter anderem mit Hilfe der in jeden Waggon eingeschmuggelten Sägen aus der Lagerschreinerei befreien, denn viele Fluchten waren bereits im Lager geplant worden.

 

Die Deportierten des 20. Transportes hatten zudem zwei weitere Unterstützer: die belgischen Lokführer Albert Simon und Albert Dumon, die die Geschwindigkeit des Zuges während einiger Streckenabschnitte deutlich drosselten, um Fluchten zu ermöglichen. Angehörige des Comite de Defense des Juifs (CDJ) hatten sich zuvor der Unterstützung durch die Eisenbahner vergewissert.

 

Siebzehn weitere Jüdinnen und Juden ent­kamen, als drei Widerstandskämpfer zwischen den Orten Boortmeerbeek und Wespelaar den Zug stoppten. Die verwegene, mit ungeheurem Mut und Entschlossenheit durchgeführte Aktion ist ein bis heute wenig bekanntes Kapitel des Widerstands.

 

Der Plan entsteht


Im März 1943 kursierte in Belgien die erste Ausgabe der Untergrundzeitung »Le Flambeau« des Widerstandsnetz­werks »Front d’Indépendence«. Der 38-Jährige Ghert Jospa, der mit seiner Frau Yvonne Jospa und Maurits Bolle die Sektion »Hilfe für Partisanen« des CDJ leitete, schrieb darin, dass die Deportation durch die Nazis dem Tod gleichkäme. In einem weiteren Artikel mit dem Titel »Je suis un évadé« berichtete ein Zugflüchtling von seinem Sprung aus dem Zug: »›Ich bin ein Ausbrecher‹, das ist nicht der Titel eines Films mit Paul Muni. Nein, es handelt sich um eine tatsächliche Begebenheit. Der 19. Transportzug, der mich nach Polen bringen soll, rollt mit 60 Stundenkilometern. Die Türen sind geschlossen, und alle fünf Minuten wird die Strecke und der Zug von einem Scheinwerfer abgeleuchtet. Die Deportation durch die Nazis ist Wirklichkeit geworden, sie ist gleich­bedeutend mit dem Tod. Ich be­schließe zu fliehen. Da ist die heruntergelassene Fensterscheibe der unteren Waggontür. Und mit einem Sprung lande ich auf der kalten Erde. Ich bleibe dort ausgestreckt bis zum Morgengrauen liegen. Einen grau­sa­men Schmerz spüre ich in meinem linken Arm. Mit gebrochenem Arm kehre ich nach der Flucht heim. Ein Einzelfall? Nein, bei jeder Abfahrt widersetzen sich Dutzende von Depor­tierten dem Tod.«

 

Der Bericht der Flucht fesselte Jospa und er begann, nach einem Weg zu suchen, die Eingesperrten aus den Zügen zu befreien. Zusammen mit Bolle und Roger Van Praag schmiedete er Pläne für einen bewaffneten Überfall auf den nächsten, den 20. Deportationszug. Ein Kommunist aus der Führungsriege der Partisanen lehnte ab. Um den Zug zu überfallen, so wandte er ein, seien mindestens zwanzig mit Gewehren und Granaten ausgerüstete Partisanen nötig, die die deutsche Begleitmannschaft angrei­fen müssten. Da diese sofort schießen würde, sei mit einem Blutbad zu rechnen. Das sei ein unkalkulierbares Risiko für die zu diesem Zeitpunkt bereits stark dezimierte Untergrundgruppe. Zudem fehle es an Transportmöglichkeiten für die Befreiten. Auch die Partisanengruppe Groupe G lehnte eine Beteiligung ab. Sie verübte Sabotageakte, war aber die direkte Konfron­tation und den Umgang mit Schusswaffen nicht gewöhnt und wollte sich deshalb auf keine Schießerei einlassen. Doch Bolle ließ sich nicht von dem Plan abbringen. Im 25-jährigen Georges Livchitz, genannt Youra, einem Freund und Kommilitonen seiner Tochter, fand er einen Mitstreiter. Livchitz gewann zwei ehemalige Schulfreunde für die Ausführung: Jean Franklemon und Robert Maistriau. Beide waren keine Juden. Der 25-jährige Jean Franklemon war Kommunist und Antifaschist und hatte bereits im spanischen Bürgerkrieg gekämpft. Der 22-jährige Medizinstudent Robert Maistriau hingegen hatte noch nie zuvor an einer Widerstandsaktion teil­ge­nom­men. Das CDJ stellte den dreien 50.000 belgische Francs, gestückelt in Scheine à 50 Francs, zur Verfügung, die den aus den Waggons Befreiten als Handgeld für die weitere Flucht ge­geben werden sollten. Ein alter Freund von Youra Livschitz, der bei der Groupe G aktiv war, ließ ihnen einen kleinkalibrigen Revolver zu­kom­men.

 

Der Überfall


Die »Verladung« der Deportierten des 20. Transports hatte bis in die Abendstunden gedauert. So war es bereits mondhelle Nacht als der Zug 13 Kilometer von Mechelen entfernt Boortmeerbeek passierte und auf Wespelaar zufuhr, wo Maistriau, Livchitz und Franklemon an der Strecke lauerten. Sie hatten eine Sturmleuchte mit roten Seidenpapier umhüllt und auf die Gleise gestellt, so dass sie wie ein Warnsignal aussah. Tatsächlich hielt der Zug an. Maistriau rannte zum hinteren Teil des Zugs und versuchte die verschlossene Tür eines Waggons zu öffnen. Dies war schwierig, da er in einer Hand eine Lampe hielt und mit der anderen mit einer Zange an der Tür hantierte. Seine Freunde verlor er aus den Augen, als die zunächst überraschten Wachmänner sie unter Beschuss nahmen. Maistriau gelang es, die Tür aufzubrechen. Er schrie auf Französisch und ein paar Brocken auf Deutsch, da viele Häftlinge nur Deutsch verstehen konnten. Sein Akzent machte allen klar, dass er nicht zu den deutschen Bewachern gehörte. Manche flohen sofort aus dem Waggon, andere fingen an zu schreien, niemand solle fliehen, das sei sehr gefährlich. Maistriau führte nacheinander zwei Gruppen vom Zug weg, drückte jedem einen 50 Francs-Schein in die Hand, damit sie für die weitere Flucht etwas Geld besaßen. Er kehrte zum Zug zurück, um einen zweiten Waggon zu öffnen. Er zögerte wegen der Gewehrsalven, die in seine Richtung zielten, und in diesem Moment fuhr der Zug wieder an. Das Ganze hatte eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten gedauert. Im Nachhinein sagte Maistriau, die ganze Aktion sei sehr improvisiert gewesen, es habe ihr jegliche logistische Überlegung gefehlt, sie seien nur zu dritt und bis auf den Revolver von Youra Livchitz unbewaffnet gewesen. Man müsse wohl 22 Jahre alt sein, um so etwas zu wagen.

 

Im 20. Transport befand sich auch der 30jährige Meyer Tabakman. Ihm gelang die Flucht dank der Werk­zeuge, die sein Vater ins Sammellager Mechelen hatte einschmuggeln las­sen. Als der Zug kurz bei Boutersem, knapp 40 Kilometer nach Mechelen, langsamer fuhr, sprang Meyer Tabakman. Es war seine zweite Flucht aus einem Deportationszug. Er hatte be­reits am 15. Januar 1943 aus dem 19. Transport entkommen können – und danach in der Untergrundzeitschrift Le Flambeau den Bericht »Je suis un évadé« geschrieben, ohne den der Überfall auf den 20. Transport vermutlich nicht stattgefunden hätte.

 

Was aus ihnen wurde


Am 1. Dezember 1943 flog Meyer Tabak­­man in Forest mitten in der Herstellung gefälschter Papiere erneut auf und wurde verhaftet. Aufgrund seiner vorangegangenen Fluchten wurde er am 15. Januar 1944 mit dem 23. Trans­port in einem besonders gesicherten Waggon nach Auschwitz deportiert. Er starb dort noch im selben Monat.

 

Die drei Angreifer des 20. Transports konnten zunächst entkommen.

 

Youra Livchitz wurde am 14. Mai 1943 verhaftet und im Hauptquartier der Gestapo in der Avenue Louise schwer gefoltert. Er konnte jedoch seinem Bewacher einen Revolver ent­reißen, diesen niederstrecken und fliehen. Nach seiner erneuten Verhaftung wurde er ins Auffanglager im Fort Breendonk eingeliefert. Am 26. Juni 1943 wurde er dort, wie es in der Begründung des SD hieß, als Chef einer Bande von Terroristen und wegen des Angriffs »auf einen Judentransport« erschossen. Robert Maistriau schloss sich der Groupe G an und war dort für Organisation und Rekrutierung zu­ständig. Im März 1944 wurde er gefasst, im Mai mit der Haftkategorie »Politischer Belgier« in das KZ Buchenwald eingeliefert und von dort nach Mittelbau Dora überstellt. Er überlebte die Naziverfolgung. Robert Maistriau starb 2008 mit 87 Jahren in Woluwé-Saint-Lambert in Belgien.

 

Jean Franklemon wurde am 7. August 1943 gefasst und überlebte die Lagerhaft im KZ Sachsenhausen. Er kehrte nach Belgien zurück und blieb der Kommunistischen Partei verbunden. Aus einer Akte, die die Stasi über ihn anlegte, geht hervor, dass er 1968 in die DDR übersiedelte, da er in Belgien keine Arbeit fand. Um seine Verwandten in Belgien weiterhin besuchen zu können, blieb er belgischer Staatsbürger, obwohl ihm, wie es in einem Spitzelbericht heißt, bei Annahme der DDR-Staatsbürgerschaft die Anerkennung als Kämpfer gegen den Faschismus und damit eine groß­zügige Rente zugekommen wäre. So wohnte er mit seiner Lebensgefährtin Irène Lecarte in ärmlichen Verhältnissen in Kleinmachnow bei Berlin, sie trat als Chanson-Sängerin auf, er begleitete sie am Piano. Jean Franklemon starb 1977. Spuren einer Erinnerungskultur an den belgischen Anti­faschisten finden sich in Kleinmachnow nicht.

 

1995 wurde, getragen von der Jüdischen Gemeinde Belgiens, der Belgischen Eisenbahn Gesellschaft und anderen Initiativen, am Bahnhof von Boortmerbeek eine Anlage errich­tet zum Gedenken an die Depor­tierten, die zu Tausenden zwischen 1942 und 1944 den Bahnhof passiert hatten. Ein Denkmal dieser Anlage erinnert an Youra Livchitz, Robert Maistriau und Jean Franklemon. In der Inschrift des Denkmals der »Drei Hände« heißt es: »Freund, der du vorbeigehst, ehre diese Hände, die in einem heroischen Akt jene retteten, die von den Mächten des Bösen in die Hölle geführt werden sollten.«

Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert