Aufruf der antifa nt zur antifaschistischen Demo anlässlich des NSU-Prozesses am 13.04. in München Am 17. April 2013 wird am Oberlandesgericht München der Prozess gegen einige Akteur_innen des Nationalsozialistischen Untergrunds beginnen. Angeklagt sind Holger Gerlach, André Eminger, Carsten Schultze, Ralf Wohlleben und Beate Zschäpe. Auch wenn wir bis heute nicht genau wissen und wissen können, wie genau der NSU struktuiert war, wer was tat und wer wieviel wusste, so ist doch unzweifelhaft klar, dass er mehr Akteur_innen umfasste, als die fünf in München angeklagten.
Der NSU war nicht das „Terrortrio“, als das er oft in der boulevardesken Berichtserstattung erscheint, er war logistisch und ideologisch in Nazistrukturen eingebunden. Nur so konnte er 12 Jahre lang im Untergrund agieren, zehn Menschen ermorden, mindestens einen Sprengstoffanschlag verüben und eine ganze Reihe von Banküberfällen begehen. Nicht angeklagt sind die Mitarbeiter_innen der Verfassungsschutzämter, die das Umfeld des NSU mitaufgebaut, logistisch unterstützt, finanziert und bei den Morden des NSU zumindest weggesehen haben.
Die mediale und gesellschaftliche Bedeutung des Prozesses wird zumindest zu Beginn enorm sein. Hunderte Journalist_innen und andere Prozessbesucher_innen werden sich um die wenigen Plätze im Gerichtssaal streiten müssen und selbst diejenigen, die es in den Saal schaffen, werden dort auf einer Empore über dem Verhandlungsbereich sitzen und somit vieles, was sich im Prozess ereignet, gar nicht sehen können. Das Oberlandesgericht München tut somit alles, um eine kritische Berichterstattung über den Prozess zu verhindern. Und das obwohl gerade die bürgerliche Öffentlichkeit große Erwartungen an den Prozess hat. Vergleiche mit den Stammheimer RAF-Prozessen sind schnell bei der Hand und die Süddeutsche Zeitung spricht stellvertretend davon, dass der Prozess eine „kathartische“, also „reinigende“, beruhigende, harmonisierende, versöhnende, „Wirkung entfalten könnte“.
Der Prozess soll das wiederherstellen, was spätestens mit dem NSU
vollständig verloren gegangen sein muss: das Vertrauen in staatliche
Behörden im Kampf gegen Nazis und Rassismus. Mit seinem Urteilsspruch
soll auch ein Schlussstrich unter den NSU gesetz werden, die
Verantwortlichen benannt und bestraft und damit dann wohl auch wieder
vollständig zur Tagesordnung übergegangen werden.
Die Rolle, die dieser Prozess für uns als antifaschistische Linke
spielt, ist ambivalent. Einerseits gibt es die Hoffnung, dass sich im,
durch und während des Prozesses noch einiges über den NSU, seine Taten
und die Verstrickungen der Sicherheitsbehörden durch Vertreter_innen der
Opfer und Angehörigen sowie der kritischen Öffentlichkeit aufklären
lässt. Andererseits – und dieser Aspekt überwiegt deutlich – wäre es
naiv und gefährlich, sich allzu viel vom Prozess zu erwarten. Gegenstand
des Verfahrens werden die strafrechtlich relevanten, nicht-verjährten
Taten eines kleinen Teils des NSU bzw. dessen Umfeld sein. Die Fragen
nach logistischer und ideologischer Einbindung in die gesamte deutsche
Naziszene, die Fragen nach der Rolle der Verfassungsschutzämter und vor
allem die Frage nach dem Rassismus, der den Morden zugrunde liegt,
werden dort kaum oder gar nicht thematisiert werden. Genau diese stellt
sich aber in Bezug auf den NSU. Der Beginn des NSU-Prozesses ist für uns
daher nicht Anlass ans Gericht zu appellieren, sondern die Fragen zu
stellen, die sich strafrechtlich gar nicht beantworten lassen, sondern
nur politisch und gesellschaftlich.
Die Mordserie des NSU bedeutet für die antifaschistische Linke eine
Zäsur, einen Bruch, nach dem es nicht einfach so weiter gehen kann. Der
Prozess kann nur ein Anlass sein gegen Naziterror, staatlichen und
alltäglichen Rassismus zu demonstrieren und den Opfern und ihren
Angehörigen gegenüber Empathie und Solidarität auszudrücken. Ein Anlass
unter unendlich vielen. Der Schock, den das Bekanntwerden des NSU und
seiner Morde auch bei Antifas hinterlassen hat, sitzt noch immer tief.
Die Konsequenzen, die wir aus dem NSU und der rassistischen Mordserie
ziehen müssen, sind noch längst nicht klar. Angesichts des Ausmaßes der
NSU-Morde war die Reaktion autonomer Antifas über einige Zeit oft
verhalten und defensiv. Wir stehen noch immer am Anfang einer Debatte.
Doch eines scheint uns klar und notwendig: Das Problem heißt Rassismus
und der Kampf muss sich offensiv gegen staatlichen und
gesellschaftlichen Rassismus richten, der die Grundlage des Naziterrors
ist.
Wenige Tage nach Bekanntwerden des NSU schrieb der Spiegel: „Doch schon
jetzt steht fest: Deutschland hat es mit einem neuen Phänomen zu tun –
kaltblütig mordende Rechtsextremisten“ und hatte damit Recht und Unrecht
zugleich. Recht hatte er, weil sich tatsächlich nur wenige vorstellen
konnten, was über die letzten zwölf Jahre vor sich gegangen war. Das
„Neue“ daran ist aber nicht, dass Nazis kaltblütig morden, sondern, dass
sie dabei über einen so langen Zeitraum nicht entdeckt wurden, weil
Ermittlungsbehörden und weite Teile der Öffentlichkeit die rassistische
Dimension der Mordserie nicht begriffen haben, „neu“ scheint auch das
Ausmaß der Verstrickungen des Inlandsgeheimdienst und der staatlichen
Sicherheitsbehörden, die Strukturen um den NSU herum aufbauten und
finanzierten und die Morde zumindest nicht gesehen haben oder nicht
eingeschritten sind. Die Erkenntnis aber, dass Nazis kaltblütig morden,
solange sie niemand daran hindert, ist so banal, wie sie fürchterlich
ist. Rassismus tötet und Mord war seit jeher zugleich Mittel und Zweck
des Nationalsozialismus.
„Halbverrückte Spinner“ und „Bedauerliche Pannen“
Die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden, die die rassistische
Dimension der Morde nicht nur nicht sahen, sondern nicht sehen wollten,
ist dabei auch keine „bedauerliche Panne“ geschweige denn „Einzelfall“.
Sie sind selbst Ausdruck des Rassismus innerhalb der Behörden. Und das
auch nicht erst seit dem NSU.
Am 19. Dezember 1980 wurden in Erlangen Frida Poeschke und Shlomo Lewin
in ihrer Wohnung ermordet. Lewin war Antifaschist, Rabbi und ehemaliger
Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg. Er plante in
der Zeit vor seiner Ermordung auch in Erlangen eine jüdische Gemeinde zu
gründen. Der Mörder war Uwe Behrendt, Mitglied der neonazistischen
Wehrsportgruppe Hoffmann. Er schoß mit einer Maschinenpistole mehrere
Male auf Poeschke und Lewin, bis diese tot zusammenbrachen. Am Tatort
ließ er eine Sonnenbrille zurück, die Franziska Birkmann, der
Lebensgefährtin von Karl-Heinz Hoffmann, dem Anführer der
Wehrsportgruppe, gehörte. Eine Gravur auf dem Bügel der Brille verwies
auf ein Optikergschäft im Nachbarhaus von Hoffmanns vormaliger
Meldeadresse.
Die Polizei ermittelte damals „in alle Richtungen“. Konkret hieß das
dann: innerhalb der jüdischen Gemeinde. Ermittlungen gegen
neonazistische Gruppen gab es zunächst nicht. Auch damals wurde das
antisemitische Motiv der Morde nicht ernst genommen, auch damals fielen
erste Verdächtigungen auf das Umfeld der Opfer. Erst nach 5 Wochen wurde
Birkmann das erste Mal vorgeladen, Behrendt hatte Zeit sich in den
Libanon abzusetzen, wo er Suizid beging. Viele Spuren wurden überhaupt
nicht verfolgt, wie etwa die Zeugenaussage bei der Munition handle es
sich um verschwundene Bestände der Polizeiinspektion aus dem nahe
gelegenen Ansbach. Hoffmann, der damals in der Nähe von Erlangen wohnte,
galt als Drahtzieher und Auftraggeber des Mordes. Im Prozess wurde er
von einem ehemaligen Mitglied der Wehrsportgruppe belastet. Das Gericht
allerdings glaubte Hoffmann, der behauptete, Behrendt sei „Einzeltäter“
gewesen. Wegen anderer Delikte wurde Hoffmann zu neuneinhalb Jahren
verurteilt, wegen „guter Führung“ allerdings nach zwei Dritteln der
Haftdauer frei gelassen.
Wenige Monate zuvor war es schon einmal eine Einzeltäterthese, die
Hoffmann vor juristischer Verfolgung bewahrte. Gundolf Köhler, ebenfalls
Mitglied der einige Monate zuvor verbotenen Wehrsportgruppe Hoffmann,
platzierte in einem Mülleimer vor dem Haupteingang des Münchner
Oktoberfests eine Nagelbombe. Durch die Explosion kamen 13 Menschen,
unter ihnen Köhler, ums Leben, über 200 wurden zum Teil schwer verletzt.
Es ist der verheerendste nazistische Anschlag der deutschen
Nachkriegsgeschichte. Die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft und des
bayrischen LKA wurden nach zwei Jahren eingestellt, staatlicherseits
wurde die Rolle der Wehrsportgruppe Hoffmann, die Frage nach der
Herkunft der Bombe und der Motivation nicht aufgeklärt. Die
Bundesanwaltschaft ließ – entgegen der Indizien – wissen, Köhler sei ein
Einzeltäter, er habe „aus einer schweren persönlichen Krise und/oder
aus übersteigertem Geltungsbedürfnis gehandelt“. Sie stützte sich dabei
ausschließlich auf die Aussage eines mit Köhler befreundeten Neonazis,
der angegeben hatte, Köhlers Motivationen seien „eine unglückliche
Liebesgeschichte, eine gescheiterte Diplom-Vorprüfung an der Uni und
Geldsorgen“ gewesen.
Die bayrische Staatsregierung hatte sich in den Jahren zuvor immer
wieder geweigert, die Wehrsportgruppe Hoffmann zu verbieten. Der
bayrische Innenminister bemerkte im Februar 1980 nach dem Verbot durch
das Bundesinnenministerium, Grund sei nicht die reale Gefahr gewesen,
sondern das Ansehen Deutschlands im Ausland, das unter den
„halbverrückten Spinnern“ leide. Er hatte zuvor verlauten lassen,
solange die Gruppe sich an „Waffengesetz, Naturschutzgesetz und
Straßenverkehrsordnung halte“ könne man nichts gegen ihre
Wehrsportübungen unternehmen. Zum Zeitpunkt ihres Verbots hatte die
Wehrsportgruppe ca. 400 Mitglieder und veranstaltete paramilitärische
Übungen. Bei den folgenden Hausdurchsuchungen wurden Pistolen, Gewehre,
Munition und Granaten gefunden. Kein Jahr später hatten die
„halbverrückten Spinner“ 14 Menschen ermordet.
Bei den Ermittlungen zur Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter in
Heilbronn hingegen dauerte es nicht lange, bis eine heiße Spur gefunden
war. In der Nähe des Tatorts wurde gerade ein Volksfest aufgebaut.
„Mehrere Sinti- und Roma-Familien mit ihren Wohnwagen“ hielten sich
„keine hundert Meter vom Tatort entfernt“ auf, wusste der Stern
seinerzeit zu berichten und weiter: Heilbronn liege „in der Nähe
bekannter Stützpunkte großer Sinti- und Roma-Clans“. Von Seiten der
Polizei hieß es damals: „Wir prüfen auch intensiv im Zigeunermilieu”.
Der Zynismus, der solchen Aussagen zugrunde liegt, ist eigentlich
unaushaltbar. Während unbehelligt von Verfassungsschutz und Polizei der
NSU im Wohnmobil quer durch Deutschland reist, um (vermeintlich)
nicht-deutsche Menschen zu ermorden, nehmen die selben
Sicherheitsbehörden die bloße räumliche Nähe von Wohnmobilen, die
Rom_nija oder Sinti_zza gehören sollen, als ernstgemeintes Indiz, die
Mörder_innen von Michèle Kiesewetter entstammten einem
„Zigeunermillieu“.
Die ermittelnden Beamt_innen nahmen zudem an, die von ihnen vernommenen
Anwohner_innen würden „mehr über die Tat wissen, als sie angeben“. Hier
wird das alte antiziganistische Bild der „inneren Verschworenheit
gegenüber der Polizei“ bemüht. Die Plausibilität, die die rassistischen
Annahmen sowohl für die ermittelnden Beamt_innen, wie für breite Teile
der Öffentlichkeit, die durch die Medien über das „Zigeunermillieu“
„aufgeklärt“ wurden, hatten und haben, sind nicht verständlich ohne die
gewaltige und gewalttätige Macht die antiziganistische Vorstellungen,
Bilder und Diskurse in Deutschland haben. Die irrsinnige
Assoziationskette Wohnmobil – „Sinti und Roma“ – Kriminalität –
Verschworenheit gegenüber den Ermittler_innen – Mordbeteiligung
erscheint aus antiziganistischer Perspektive in sich logisch und
weiterer Begründung nicht bedürftig. Es ist dasselbe rassistische
Denken, dass es über Jahre hinweg plausibel machte, anzunehmen, neun
„türkische bzw. griechische“ Gewerbetreibende seien in dubiose Geschäfte
und mafiöse Machenschaften verstrickt und deshalb auch ermordet worden.
Dass Sinti_zza und Rom_nija zu Verdächtigen im Mordfall Kiesewetter
wurden, weil in der Nachbarschaft Menschen in Wohnwägen wohnten, ist
keine ermittlungstechnische „Panne“, sondern Folge des Rassismus
innerhalb der Polizeibehörden. Dass die Polizei über Jahre hinweg
rassistische Morde als internen Konflikt eines ebenfalls rassistisch
markierten „kriminellen Millieus“ behandelt, die Opfer und ihre
Hinterbliebenen als Verdächtige und Verstrickte darstellt, ist keine
ermittlungstechnische „Panne“, es ist Folge des Rassismus innerhalb der
Polizeibehörden.
Dass die vielen Hinweise auf rassistische Motive bei neun der zehn
bekannten NSU-Morde vernachlässigt wurden, ist keine
ermittlungstechnische „Panne“, sondern Folge des Rassismus innerhalb der
Polizeibehörden.
Nach der Selbstenttarnung des NSU dauerte es noch ein halbes Jahr, bis
sich das BKA zu einer Entschuldigung durchrang. Er könne versichern,
„dass es im Interesse aller deutscher Sicherheitsbehörden liegt, keine
Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht zu stellen“ so BKA-Chef
Ziercke.
Bis 1970 gab es beim bayrischen Landeskriminalamt die sogenannte
„Landfahrerkartei“, in der Informationen über Sint_izza, Rom_nija und
andere als „Zigeuner“ verfolgte Menschen - zur „Verbrechensbekämpfung
und -aufklärung“ – zentral erfasst wurden. Die darin gespeicherten Daten
entstammten zum Teil noch den Datensätzen, mit denen die Nazis
Verfolgung und Ermordung organisiert hatten. Leiter der Stelle war
Joseph Eichberger, ehemaliger Mitarbeiter des nationalsozialistischen
„Reichssicherheitshauptamt“ und dabei verantwortlich für
antiziganistische Deportationen. Bis 2001 gab es im Erfassungssystem für
„Straftäter_innen“ bei der bayrischen Polizei die Kategorie
„Sinti/Roma“. Als im Oktober letzten Jahres das Oberverwaltungsgericht
Rheinland-Pfalz die allgemeinen Mindeststandards bürgerlichen Rechts
wahrte und entschied, racial profiling – also polizeiliche Massnahmen
und Kontrollen aufgrund von rassistischen Annahmen – sei illegal, tobte
der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt: „Man
sieht wieder einmal, die Gerichte machen schöngeistige Rechtspflege,
aber richten sich nicht an der Praxis aus!“
In einem Punkt ist Wendt zuzustimmen, die Praxis deutscher
Polizeibehörden ist durch und durch rassistisch. Sei es durch
Polizeikontrollen und alltägliche Schikane, sei es durch die
Durchsetzung der Residenzpflicht, die die Bewegungsfreiheit von
Asylbewerber_innen und Gedulteten auf ein behördlich bestimmtes Gebiet
eingrenzt, oder sei es durch rassistische Verdächtigungen und
Ermittlungen, wie gegen die Anwohner_innen in Heilbronn und die
Angehörigen der NSU-Mordopfer. Im Fall des NSU zeigt sich deutlich:
hätte die Polizei nicht rassistisch ermittelt, wäre es vielleicht
möglich gewesen, den Täter_innen auf die Spur zu kommen und damit
weitere Morde zu verhindern.
Nicht nur die Praxis der Polizei ist geprägt von rechten und
rassistischen Ideologien, auch der Verfassungsschutz funktioniert nach
ganz ähnlichen Prinzipien. Die Mischung aus wohlwollendem Wegsehen,
Kleinreden und aktiver Unterstützung der politischen Rechten und ihrer
Taten durch den Inlandsgeheimdienst verwundert dann nicht mehr, wenn man
sich die Geschichte dieser Behörden vor Augen führt: Gegründet vor dem
Hintergrund des Antikommunismus der Ära Adenauer unter Einbindung
ehemaliger Nazis agierte er jahrzehntelang vor allem gegen linke
Bewegungen. Vom westdeutschen Antikommunismus der Fünfziger über die
Totalitarismustheorie bis hin zum aktuellen Gefasel von politischem
Extremismus der Ränder, die die Mitte bedrohten, war sein ideologisches
Leitmotiv die Diskreditierung der Linken und damit faktisch einhergehend
die Verharmlosung und Unterstützung der politischen Rechten. Dass der
VS dabei auch noch zwischen „normalem“ „Extremismus“ und einem
sogenannten „Ausländerextremismus“ zu unterscheiden weiß, setzt dem
Irrsinn noch die Krone auf.
All dies spielt sich in einer Gesellschaft ab, die sich um Sicherheit
und Grundstückspreise fürchtet, wenn Asylbewerber_innen in ihr
Stadtviertel ziehen, die sich nicht daran stört, dass
Staatsangehörigkeit und ökonomische Verwertbarkeit bestimmen, wer hier
leben kann und wer nicht, die bis heute den hunderttausendfachen
industriellen Massenmord an Rom_nija, Sinti_zza und anderen als
„Zigeuner“ oder „Asozial“ Verfolgten höchstens als Randnotiz beachtet
und es ohne größere Rührung nimmt, dass tausende Menschen auf dem Weg
nach Europa alljährlich im Mittelmeer ertrinken.
Das Problem heißt Rassismus!
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, aber auch die meisten
ihrer Unterstützer_innen, erfuhren ihre politische Sozialisation Anfang
der Neunziger Jahre. Im Zuge der Wiedervereinigung erhielten
Deutschtümelei und Nationalismus im wiedererstarkten, vereinigten
Deutschland enormen gesellschaftlichen Zuspruch. Zugleich erlebte die
deutsche Naziszene einen großen Aufschwung, sie konnte Profit aus dem
gesellschaftlichen Rechtsruck schlagen. Schnell schlug die Stimmung in
offene Gewalt gegenüber (vermeintlichen) Nicht-Deutschen und
Migrant_innen um. In Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen griffen Nazis
zusammen mit Bürger_innen Flüchtlingswohnheime an, während gleichzeitig
Politik und Presse gegen Flüchtlinge und Migrant_innen mobil machte.
Ende November 1992 verübten Neonazis in Mölln einen rassistischen
Brandanschlag auf zwei Häuser. Drei Menschen wurden dabei getötet. Zwei
Wochen später einigten sich CDU/CSU und SPD auf den sogenannten
„Asylkompromiss“, der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl.
Am 26. Mai 1993 beschlioß der Bundestag mit Zwei Drittel-Mehrheit und
Stimmen aus CDU/CSU, SPD und FDP die Abschaffung Grundrechts, drei Tage
später zündeten Neonazis in Solingen ein Haus an, das eine türkischen
Familie bewohnte. Fünf Menschen starben, 14 wurden schwer verletzt.
Die Nazis konnten sich damals nicht ganz zu Unrecht auf die Fahnen
schreiben als „bewaffneter Arm der Stammtische“ erfolgreich gewesen zu
sein und das nicht trotz, sondern wegen der tödlichen Gewalt, die von
ihnen ausgeht. Es ist die Erkenntnis, dass Nazis und andere gewalttätige
Rassist_innen, jenseits von parlamentarischer Vertretung, durch Terror
ihren Beitrag zur Abschaffung des Grundrechts auf Asyl leisten konnten,
die bis heute nachwirkt. Nazis konnten und können immer noch an
rassistische Einstellungen, Diskurse und Mobilisierungen anknüpfen. Der
Erfolg, den die Nazis mit und durch die rassistischen Pogrome und Morde
hatten, ist nicht erklärbar, ohne die nationalistische Stimmung im
Nachklang der Wiedervereingung und die rassistische Mobilmachung gegen
Flüchtlinge und Migrant_innen durch weite Teile der deutschen
Mehrheitsgesellschaft Anfang der neunziger Jahre mit in die Kritik
einzubeziehen. Diejenigen, die damals von „Asylantenschwemme“ und „Das
Boot ist voll“ sprachen und damit die faktische Abschaffung des
Grundrechts auf Asyl vorantrieben, haben das Fundament für die
Brandanschläge, Pogrome und Morde gelegt, selbst wenn sie sich nachher
im Schein der Lichterketten betroffen zeigten. Die Folgen dieses
Bündnisses aus Mob und Elite sind bis heute präsent: die militarisierte
Migrationspolitik der Europäischen Union, Frontex und die tausenden auf
dem Weg nach Europa im Mittelmeer Ertrunkenen.
Bei aller Notwendigkeit die Verstrickungen des Staates oder Teile seiner
Organe zu skandalisieren, ist es vielsagend, wenn weiten Teilen der
radikalen Linken zum Thema NSU nicht viel mehr einfällt als die –
sicherlich richtige – Forderung nach der Abschaffung des
Verfassungsschutzes. All jene Erklärungsansätze für den NSU, die sich
ausschließlich für das Trio Mundlos – Böhnhardt – Zschäpe und die
Verwicklungen des Verfassungsschutz interessieren, laufen ins Leere.
Rassismus als Leitmotiv steht an zentraler Stelle, sowohl was die Taten
und die Verfasstheit des NSU in Bezug auf die Vorgehensweise staatlicher
Behörden angeht, als auch ihrer medialen Thematisierung.
Dementsprechend halten wir es für elementar notwendig, antirassistische
Theorie und Praxis offensiv voranzubringen – gerade auch in (autonomen)
Antifa- Zusammenhängen, in denen Antirassismus ein oftmals
vernachlässigtes Thema ist. Eine antifaschistische Praxis, für die
Antirassismus nichts als einen weiteren Teilbereichskampf darstellt,
greift zu kurz.
Rassistische Zuschreibungen finden ihren Ausdruck nicht einzig in offen
gewalttätiger Form. Diese Erkenntnis sollte eigentlich eine
Binsenweisheit sein. Dass dem nicht so ist, zeigt nicht zuletzt der
murmeltierartig wiederkehrende Reflex des Betroffenheitsäußerns und
öffentlichkeitswirksamen Appelierens. Deren Zynismus liegt darin, dass
sie als Anlass stets blutiger Gewalt bedürfen, um Rassismus überhaupt zu
thematisieren. So aufrichtig manch bürgerliches Entsetzen über die
Mordtaten des NSU auch sein mag, so schnell geht manch einer auch wieder
den täglichen Geschäften nach: „Allen muss klar sein, dass wir uns als
exportorientes Land, Ausländerfeindlichkeit gar nicht leisten
können“ mahnte Innenminister Hans-Peter Friedrich. Das gleichzeitige
Schweigenüber die ganz normale rassistische Realität in Deutschland ist
dabei nur konsequent.Die zur Schau gestellete Betroffenheit funktioniert
auch als Entlastungsstrategie für diejenigen, die im „vollen Boot“
sitzen oder von Abschiebemaschinerie, Illegaliesierung und „sicheren“
EU-Außengrenzen profitieren. Rassismus ist nicht allein ein
„Nazi-Problem“ an einem fiktiven „Rand der Gesellschaft“. Er ist mehr
als eine gewisse Disposition in puncto Verhaltensweise, Denkschema oder
konkreter Handlungen Einzelner oder bestimmter sozialer Gruppen. Als
eine über die Jahrhunderte etablierte Kultur der Dominanz weißer und
meist völkisch definierter Deutscher konstituiert er Gesellschaft auf
struktureller Ebene, wie auch die sozialen Beziehungen und Denkweisen
ihrer Mitglieder.
Antirassismus muss mehr sein, als Aufklärung und gute Argumente.
Keineswegs kann es nur darum gehen, das Leben in den hiesigen
Verhältnissen ein bisschen weniger menschenverachtend und ein bisschen
weniger ausgrenzend zu gestalten. Ideologien der Ungleichwertigkeit sind
einer Gesellschaft, die auf Ausbeutung und Konkurrenz, Profit- und
Verwertungslogik gründet, immanent. Staat, Nation und ihre Grenzen
bedingen zwangsläufig Ausschluss und die Genese des modernen Rassismus
fällt nicht zufällig mit der Herausbildung kapitalistischer
Wirtschaftsweise und kolonialer Herrschaft zusammen.
Auch im Zuge der aktuellen Krise zeigt sich deutlich, wie sehr
rassistische Imperative zur Durchsetzung und Absicherung handfester
kapitalistischer Interessen ins Felde geführt werden und wie schnell
eigentlich überkommen geglaubte Bilder „fauler“ und zu ökonomischem
Handeln unfähiger Südeuropäer_innen wieder an Bedeutung gewinnen können.
Doch ist es falsch, Rassismus nur als eine Ideologie zu betrachten, die
– mehr oder minder zielgerichtet und intentional – bei
gesellschaftlichen Konfliktsituationen in Stellung gebracht wird. Sei es
durch Spaltungsimpulse, das Aufstellen von Sündenböcken oder zur
handfesten Herausarbeitung von Privilegien der Mehrheitsgesellschaft um
als Ventil und Rettungsanker der bestehenden Verhältnisse zu dienen.
Rassismus ist weit mehr als das! Er ist eine komplexe, die gesamte
Gesellschaft und alle ihre Teilbereiche durchziehende und bestimmende
Struktur und Organisationsweise, von der es in dieser Gesellschaft kein
Außen geben kann. Darüber brauchen wir uns – auch als radikale Linke –
keine Illusionen zu machen.
Eine konsequente Antwort auf den Themenkomplex NSU muss mehrgleisig
fahren. Zum Einen hat klassische Anti-Nazi-Arbeit nichts von ihrer
praktisch-politischen Notwendigkeit verloren – im Gegenteil: Nazis
müssen auf allen Ebenen bekämpft werden. Spätestens durch all die
„Skandale“, Vertuschungen und Verstrickungen des Inlandsgeheimdienstes
könnte es selbst den noch so Staatsgläubigen bewusst geworden sein, dass
diese Institution nichts, aber auch gar nichts, zum Besseren zu wenden
vermag, sondern Teil des Problems und nicht seiner Lösung ist. Die
Bestrebungen dieser Einrichtung mehr Kompetenzen, etwa in der
Bildungsarbeit, zu erlangen gilt es zurückzudrängen und zu
delegitimieren. Der Inlandsgeheimdienst gehört abgeschafft, anstatt auch
noch mit einem gemeinsamen Abwehrzentrum in Zusammenarbeit mit dem BKA
belohnt.
Eine Kritik, die die Zusammenhänge zwischen alltäglichem, „ganz
normalen“ und institutionalisiertem Rassimus mit dem Terror der Nazis
nicht sieht oder nicht sehen will, blamiert sich an der
gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Kampf gegen Nazis muss immer auch
der Kampf gegen Rassismus in all seinen Formen sein.
Die Demonstration am 13. April ist kein Appell an den Staat und seine
Justiz, die Angeklagten möglichst hart zu bestrafen. Diese Demonstration
soll für uns Anlass einer gesellschaftlichen und innerlinken
Auseinandersetzung und Debatte über alltäglichen und institutionellen
Rassismus und ein Wachrütteln der eigenen Strukturen sein.
Nicht einfach so weiter!
Mehr Infos unter:
Vielen Dank
Starker Text
Jepp
Da möchte ich mich anschliessen! Antirassistische Grüße aus Bremen!
stimmt, aber...
ja starker text find ich auch, aber wo die linke kaum dikussionen zu fuehren scheint ist die frage, wie widerstand gegen die nsu ueberhaupt moeglich gewesen waere, wenn wir die informationen rechtzeitig gehabt haetten. einerseits zeigt uns die erfahrung, dass wir nicht genug recherche betrieben hatten und dass wir momentan ueberhaupt keine strukturen haben, die einem faschistischen terrormob nachhaltig entgegntreten kann. diese 2 punkte sehe ich als nicht zu vernachlaessigen in der Diskussion.
solidarische gruesse