Hätte vor ein paar Monaten jemand behauptet, dass zur „Aufklärung“ der neonazistischen Mordserie Akten vernichtet, Untersuchungsauschüsse belogen, Referatsleiter des BfV Falschaussagen machen, wäre er als Verschwörungstheoretiker lächerlich gemacht worden. Wenn vor Monaten jemand behauptet hätte, dass die verschiedenen Geheimdienste nicht dilletantisch, sondern perfekt zusammengearbeitet hatten und über ausgezeichnete Kontakte zum neonazistischen Thüringer Heimatschutz/THS verfügten, also zum Umfeld der daraus hervorgegangenen Terror-Gruppe ‚NSU‘, wäre ihm gleiches widerfahren.
Jetzt sind diese berechtigten Annahmen gerichtsverwertbar: Zwischen den Jahren 1997 und 2003 waren der Thüringer und Bayerische Verfassungschutz, das Bundesamt für Verfassungsschutz/BfV und der Militärische Abschirmdienst/MAD, die Crème de la Crème der Geheimdienste, an der ‚Operation Rennsteig‘ beteiligt. Das Ziel dieser koordinierten Aktion war eindeutig: „Im Rahmen der operativen Zusammenarbeit des BfV mit dem LfV Thüringen und dem MAD unter der Bezeichnung „Rennsteig“ von 1997 bis 2003 hat das BfV … Werbungsfälle mit THS-Bezug eröffnet, aus denen … erfolgreiche Werbungsmaßnahmen resultierten.“ (Schreiben des BfV an an den Generalbundesanwalt vom Dezember 2011, FR vom 16.6.2012) Der Erfolg konnte sich sehen lassen: „Demnach war fast jeder zehnte Aktivist in der damaligen Neonazi-Vereinigung ein Spitzel des Verfassungsschutzes.“ (http://www.mittelbayerische.de/nachrichten/politik/artikel/jeder-zehnte-...) Die Frage also, ob die beteiligten Geheimdienste problemlos den drei Mitgliedern der NSU in den ‚Untergrund‘ folgen konnten, ob eine/r von ihnen gar zu den ‚erfolgreichen Werbungsmaßnahmen‘ zählt, könnten die Akten beantworten, die nun vernichtet wurden. Würden die Akten das Gegenteil beweisen können, könnten die Akten die bislang lancierte These, man habe die Spur zu den abgetauchten NSU-Mitgliedern verloren, untermauern, wären sie nicht vernichtet worden! Angesichts dieses organisierten und kriminellen Vorgehens vonseiten der Verfolgungsbehörden sind die Fragen der FR von auffallender, fortgesetzter Naivität: “Gibt es Verbindungen zu Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe? Waren Mitglieder des Trios womöglich V-Leute? Haben sie Geld vom Verfassungsschutz erhalten? Hat das Bundesamt die Mörder sogar geschützt?“ Im folgenden trage ich alle Indizien und Fakten zusammen, die bis heute an die Öffentlichkeit gelangt sind, um auf zwei der vier gestellten Fragen (Frage 1 und 4) mit einem sicheren „Ja“ zu antworten.
[NSU - VS]
Über 13 Jahre wurde die rassistische Mordserie, der mindestens neun Menschen zum Opfer fielen, einem kriminellen, ausländischen Milieu zugeordnet. Von ›Döner-Morden‹ war die Rede. Nach einem Banküberfall im November 2011 wurden die mutmaßlichen Täter verfolgt und wenig später tot aufgefunden. Es handelte sich um Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Was dreizehn Jahre absolut nicht möglich war, fügte sich innerhalb von Tagen und Wochen zu einem barbarischen Bild zusammen: Die zwei toten Männer im Campingwagen waren nicht nur routinierte Bankräuber, sondern vor allem Mitglieder der neonazistischen Terrorgruppe ›NSU‹, die nach ihrem Abtauchen 1998 für unauffindbar gehalten wurden – will man den Verfolgungsbehörden Glauben schenken. Wie kann es sein, dass man innerhalb von Wochen mehr weiß, als zahlreiche Sonderkommissionen, mehrere Verfassungsschutzämter und Staatsanwaltschaften in den letzten 13 Jahren? Die späteren Mitglieder des Nationalistischen Untergrund/NSU waren jahrelang in neonazistischen ›Freien Kameradschaften‹ organisiert.
[National-Attack-Jena -2007]
Zu deren Credo gehört, alles, was nicht deutsch genug aussieht, in Angst und Schrecken zu versetzen, mit dem Ziel, ›national befreite Zonen‹ zu schaffen. Dazu zählen Angriffe auf MigrantInnen und Geschäfte, die diesen gehören genauso, wie Angriffe auf antifaschistische Gruppierungen und Mitglieder. Dass Todeslisten von diesen organisierter Neonazis existieren, ist seit langen - auch den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden - bekannt. Bislang werden im Zeitraum zwischen 2001 und 2006 zehn Morde, denen fast ausschließlich Menschen türkischer Herkunft zum Opfer fielen, dem Nationalistischen Untergrund/NSU zugeordnet. Zwei Mitglieder des NSU sollen sich 2011 das Leben genommen haben, das dritte Mitglied, Beate Zschäpe, soll am selben Tag das Haus, in dem sie über vier Jahre lebten, in Brand gesteckt haben.
Der staatliche Begleitschutz in den ‚Untergrund‘
Obwohl die Polizei im Januar 1998 in Jena eine Bombenwerkstatt der späteren Mitglieder des NSU entdeckte, über 1,4 Kilo Sprengstoff und Rohrbomben beschlagnahmte, wurden Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nicht verhaftet. Sie nutzen diese staatliche Fürsorge und tauchten ab. Wie sich diese staatliche Beihilfe abspielte, erzählte die Mutter von Uwe Böhnhard in einem ZDF-Interview sehr eindrucksvoll: Auf dem Weg zur Garage warnte ein Polizeibeamter Uwe Böhnhard mit den Worten: „ „Jetzt bist du dran ... ein Haftbefehl ist unterwegs.“ Was daraufhin passierte, beschreibt Frau Böhnhard so: „Die Polizisten sind weitergegangen, unser Sohn hat sich umgedreht, ist zu seinem Auto gegangen und ist weggefahren. Das ist wie in einem schlechten Film.“ (Brauner Terror - Blinder Staat - Die Spur des Nazi-Trios“ ZDF-Sendung vom 26.6.2012) In besagter Dokumentation fragt sich die Mutter von Uwe Böhnhard zurecht: „Was ist da für ein Spiel gelaufen? Und warum warnt ihn ein Polizist? Und er hatte an diesem Tag auch noch genug Zeit, nachhause zu fahren, Uwe Mundlos anzurufen und Beate Schärpe... ein paar Sachen zu packen und zu verschwinden.“
Im Tal der Ahnungslosen
Über 13 Jahre verbreiteten Polizei, Verfassungsschutzbehörden und Medien über die politischen Motive der neun Morde eine Version. Es handele sich dabei um Abrechnungen innerhalb eines kriminellen und ausländischen Milieus. Obwohl genau dieses Motiv in keinem einzigen Fall bewiesen werden konnte, blieben alle bei dieser Version, obwohl den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden auch andere Indizien, Zeugenaussagen und Hinweise vorlagen. Ihre Unterschlagung ist kein Fehler, sondern Ausdruck einer politisch motivierten Vorgehensweise. Wenn Polizei, Verfassungsbehörden und Presse dieser Mordserie das Brandmal ›Döner-Morde‹ geben, wenn sich eine Sonderkommission der Polizei den Namen ›Soko Bosporus‹ gibt, dann verschweigen sie nicht nur rassistische, neonazistische Motive, sie bedienen sich genau dieser rassistischen Zuschreibungen. Dabei spielt die immer wieder vorgebrachte Begründung, zu den Mordtaten hätte es kein Bekennerschreiben gegeben, das für politisch-motivierte Straftaten typisch wäre, nicht mehr als eine Schutzbehauptung: Den ermittelnden Behörden waren die Verbindungen zwischen deutschen neonazistischen Kameradschaften und ›Blood & Honour‹- und ›Combat 18‹-Gruppen bekannt. Diese propagieren seit Jahren einen Rassenkrieg, der gezielte (Mord-)Anschläge auf MigrantInnen miteinschließt. Explizit verzichten sie dabei auf Bekennerschreiben, da sie ganz auf eine Strategie der Angst und des Terrors setzen. Wenn nun innerhalb von Tagen und Stunden Indizien, Beweise und Zusammenhänge auftauchen, die die Morde einer neonazistische Terrorgruppe zuordnen können, dann haben Polizei und Verfassungsschutzbehörden nicht schnell gearbeitet, sondern auf alles zurückgegriffen, was jahrelang in diesen Ämtern unter Verschluss gehalten wurde. Quasi über Nacht tauchen 24 Aktenordner beim Thüringer Verfassungsschutz auf, die voll mit Indizien und Spuren sind, die nun ausgewertet und zu den plötzlichen ›Fahndungserfolgen‹ führen. Was heute so schnell, so schlagartig auftaucht, sind also jahrelang unterschlagene Akten, seit Jahren gesicherte Spuren und Indizien, denen Jahr um Jahr nicht nachgegangen wurde.
Hat der Verfassungsschutz über Jahre die Verfolgung der NSU-Mitglieder durch die Polizei verhindert?
Man kennt es aus dem Fernsehen, aus vielen Krimiserien: Es kommt zu einem schweren Verbrechen. Die Polizei erscheint mit Blaulicht am Tatort und nimmt die Ermittlungen auf. Dabei stößt sie auf brisante Hinweise und will diesen nachgehen. Dann taucht entweder ein Beamter in Zivil auf, erklärt den Ermittlern, dass sie den Fall übernehmen oder der leitende Polizeibeamte wird zu seinem Chef gerufen, der ihm mit vielsagenden Blicken erklärt, dass sie aus dem Fall raus sind. Anweisung von oben… Diesen Konflikt zwischen Polizei- und Geheimdienststellen gibt es nicht nur im Fernsehen. Polizeidienststellen haben (für gewöhnlich) die Aufgabe, Straftaten aufzuklären. Geheimdienste, hier der Verfassungsschutz und möglicherweise der MAD/Militärischer Abschirmdienst, decken Straftaten, verhindern deren Aufklärung, wenn dies ›übergeordnete Interessen‹ gebieten. Die bisher gekannt gewordenen Indizien beweisen, dass Polizei- und Geheimdienststellen über 13 Jahren die Mitglieder der NSU observiert und verfolgt haben. In all diesen Fällen kam es weder zu einer Festnahme noch zu einem Haftbefehl. Warum ist jetzt etwas möglich, was über 13 Jahre mit allen Mitteln verhindert wurde? Wer hat das Schloss dieser konzertierten Untätigkeit geknackt? Welches Ereignis hat das Fass zum Überlaufen gebracht? War es der Mord an die Polizistin Michèle Kiesewetter 2006? Ein Mord, der die Spannungen zwischen Polizei und Verfassungsbehörden auf die Spitze treiben musste, gerade dann, wenn eine Kollegin ermordet werden konnte, weil Verfassungsbehörden eine schützende Hand über die Mitglieder der NSU hielten? Dass der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter der mögliche Wendepunkt war, wird plausibel, wenn die lange lancierte Behauptung, man hätte diesem Mordanschlag weder ein politisches Motiv, noch mögliche Täter zuordnen können, in sich zusammenbricht. Das Magazin Stern vom 30.11.2011 veröffentlichte Auszüge aus einem Observationsprotokoll des US-Militärgeheimdienstes ›Defense Intelligence Agency (DIA)‹ von jenem Tag. Darin wird detailliert beschrieben, dass in diese Schießerei nicht nur besagte Polizeibeamte, sondern auch ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes involviert waren. Nicht nur die Anwesenheit von Verfassungsschutzbeamten ist darin vermerkt, sondern ein weiteres wichtiges Detail. In dem Protokoll wird festgehalten, dass es sich bei den Attentätern um »right wing operatives«, also um Neonazis handelte. Warum konnten die Mörder ›unerkannt‹ entkommen? Warum verschweigt der Verfassungsschutz bis heute sein Wissen über diesen Mordanschlag? Der Mordanschlag auf die beiden Polizisten dürfte das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Doch schon lange davor bauten sich Spannungen zwischen Polizeibehörden und Verfassungsschutzabteilungen auf. Das belegen Hinweise, die die Be- und Verhinderung der Polizeiarbeit auf Anweisung von oben dokumentieren: »Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte. Dieses Vorgehen führte seinerzeit zu Krisengesprächen zwischen den Staatssekretären der Landesministerien für Justiz und Inneres sowie zwischen dem Thüringer Generalstaatsanwalt und dem LfV-Präsidenten. Große Folgen hatte das jedoch nicht: Im Jahr 2003 wurde das Ermittlungsverfahren gegen das gesuchte Trio eingestellt – und damit auch die Fahndung beendet.« (FR vom 8.12.2011) Nicht nur das Zurückhalten, das Verschweigen von Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörde(n) be- und verhinderten polizeiliche/staatsanwaltschaftliche Maßnahmen. Der Verfassungsschutz hatte zudem aktiv die Bindeglieder zu den Abgetauchten vor polizeilichen Maßnahmen gewarnt bzw. geschützt: »So habe das LfV seinen V-Mann Brandt über die Observationsmaßnahmen der Polizei auf dem Laufenden gehalten. Dem Neonazi sei demnach mitgeteilt worden, dass er aus einer angemieteten Wohnung in der Nähe seines Hauses heraus überwacht werde.« (FR vom 19.12.2011) V-Mann Tino Brandt hatte »noch im Jahr nach dem Abtauchen der Neonazis mit einem Mitglied der Terrorzelle in Kontakt gestanden«. (jW vom 23.12.2011)
Die Legende von den spurlos Verschwundenen
Es ist eine Legende, dass die im Jahr 1998 abgetauchten Neonazis ›spurlos‹ verschwunden seien. Tatsache ist vielmehr, dass diese Neonazis nur abtauchen konnten, weil sie den Schutz von Verfassungsbehörden genossen. Unter Berufung auf das Thüringer Landeskriminalamt berichtete der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), »dass die drei Hauptverdächtigen 1998 kurz nach ihrem Untertauchen von Zielfahndern aufgespürt worden waren. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei habe die Möglichkeit zum Zugriff gehabt, sei aber im letzten Moment zurückgepfiffen worden.« (jW vom 19.11.2011) Wer hat die Polizei daran gehindert, wenn nicht der Verfassungsschutz in Thüringen, der unter Berufung auf höhere, gewichtigere Interessen Polizeiaktionen unterbinden kann? Dass die NSU-Mitglieder ganz und gar nicht spurlos verschwunden sind, belegen weitere Indizien: Sowohl Beate Zschäpe, also auch Uwe Mundlos, verfügten über legal-illegale Papiere, mit denen sie sicher reisen konnten: Beide verfügten über auf falsche Namen ausgestellte Reisepässe (Schießen lernen in Südafrika? FAZ vom 27.11.2011), was über die sächsische Meldebehörde abgewickelt wurde. Wie ungestört sie damit reisen konnten, belegen staatliche ›Reisebegleiter‹ des Bundeskriminalamtes/BKA: »Böhnhardt und Mundlos sollen im September 1998 in Budapest geortet worden sein. Im August 2000 wurden sie angeblich in Bulgarien aufgespürt. Das war einen Monat vor dem mutmaßlichen ersten Mord.« Parallel dazu hielten V-Männer des Verfassungsschutzes direkt und/oder indirekt (über ihre Unterstützer) Kontakt zu den komfortabel Untergetauchten. Auch danach gab es zahlreiche Spuren, die zu den ›Abgetauchten‹ führten: »Auch konnten die Fahnder mehrere Kontaktpersonen der drei Flüchtigen identifizieren und deren Telefonate überwachen. Als Sachsen seinerzeit aber anbot, die verdächtige Wohnung mit einem Sondereinsatzkommando zu stürmen, blockte das Erfurter Innenministerium die Aktion ab. Die Gründe hierfür sind aus den bislang vorliegenden Akten nicht ersichtlich. Es war nicht die einzige verpasste Chance, das gesuchte Trio festzunehmen. Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte.« (FR vom 8.12.2011). Die Kontakte des Verfassungsschutzes zu den NSU-Mitgliedern waren so nahe, dass dieser über einen V-Mann selbst über die Pläne einer möglichen Flucht nach Südafrika bestens informiert war: »›Während Böhnhardt und Mundlos mit dem Ziel einverstanden seien und dies auch als Daueraufenthaltsort anstrebten, beabsichtige Zschäpe, die nicht ins Ausland wolle, sich nach der Abreise der beiden den Behörden zu stellen‹, zitiert die Zeitung (Die Welt) aus der ihr vorliegenden Dokumentation.« (FAZ vom 30.1.2012) Wer solche Insider-Kontakte zu den NSU-Mitgliedern hat und selbst die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Terror-Kommandos protokollieren kann, ohne dieses Wissen für Festnahmen zu nutzen, schützt neonazistischen Terror und verfolgt ihn nicht. In dieser Tradition bewegt sich auch die angeblich ermittelnde Bundesanwaltschaft. Anstatt aufzuklären, schreibt sie das Märchen vom Untergrund fort: »Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe und das Bundeskriminalamt (BKA) sind inzwischen davon überzeugt, dass die mutmaßlichen NSU-Terroristen bereits mit ihrem Verschwinden Anfang 1998 ›perfekt abgetaucht‹ sind und sich sofort ›hochkonspirativ verhalten‹ haben.« (Welt-Online vom 30.1.2012)
Die Legende von den Pannen innerhalb der Sicherheitsbehörden
Die ›Versäumnisse‹ und ›Pannen‹, die Polizei- und Verfassungsbehörden einräumen, werden mit mangelnder Zusammenarbeit erklärt. Dies geht mit der Forderung einher, dass in Zukunft Polizei und Verfassungsschutz enger und koordiniert (in Lagezentren) zusammenarbeiten müssten. Diese Eingeständnisse führen nicht nur in die Irre, die Forderung nach koordinierten Lagezentren stellt eine weitere Verhöhnung der Opfer dar. Dass über 13 Jahre eine Mordserie als Milieutaten unter Ausländern ausgegeben werden konnte, dass eine Festnahme der (späteren) drei NSU-Mitglieder verhindert wurde, dass V-Männer verschiedener Verfassungsbehörden Kontakt zum Umfeld und möglicherweise zu den Mördern selbst hatten, beweist gerade, dass Verfassungsbehörden hervorragend zusammengearbeitet haben. Nicht die fehlende Zusammenarbeit hat die Mordserie möglich gemacht, sondern die politische, geistige Nähe, die Verfassungsschutzbehörden zu neonazistischen Gruppierungen hatten und haben. Dass der Umstand, dass jeder dritte in Deutschland rassistische und nationalistische Theoreme teilt, keine anonyme Größe ist, belegt der ehemalige Verfassungsschutzchef in Thüringen Helmut Roewer, der von 1994 bis 2000 das Sagen hatte. Unter seiner Führung wurden nicht nur V-Männer (wie Tino Brandt und Thomas Dienel z.B.) in neonazistischen Kameradschaften (Anti-Antifa-Ostthüringen und Thüringer Heimatschutz) finanziert, deren ›Vergütungen‹ (über 200.000 Mark alleine über den V-Mann Tino Brandt) direkt in den Aufbau dieser Organisationen flossen. Für ihn stellten antifaschistischen Aktivitäten eine größere Gefahr als neonazistische Kameradschaften dar, deren Handlungen er als »Propagandadelikte« (Die Zeit vom 17.11.2011) verharmloste. Bereits kurz nach Amtsantritt, im Jahr 2000 ließ VS-Chef Roewer alle wissen, was man in seinem Amt über Faschismus und Antifaschismus wissen musste: Er bezeichnete Faschisten und Antifaschisten als »siamesische Zwillinge« (Referat von Roewer im LfV am 13. März 2000, Christoph Ellinghaus, Bürgerrechte & Polizei/CILIP 66, 2/2000). Eine unerträgliche Zumutung – nicht nur geschichtlich betrachtet. All das tat dieser Mann nicht aus Unwissenheit, sondern auf dem Hintergrund einer politischen Gesinnung, die ohne Umschweife an neonazistische Theoreme herreicht. 1999 war er Gast einer Podiumsveranstaltung: »Er sprach damals über das ›Dritte Reich‹ und dass man ältere Menschen verstehen müsse, die nicht nur schlechte Seiten daran gesehen hätten.« (Die Zeit vom 17.11.2011) Dass es nicht an fehlender Zusammenarbeit lag, die die Mordserie möglich gemacht hatte, sondern an der Übereinstimmung in rassistischen Grundannahmen, die in Verfassungsschutzbehörden geteilt wurde, belegt ein weiteres Beispiel, über alle Landesgrenzen hinweg.
„Mein Kampf“ und der ahnungslose Führer ... eines V-Mannes aus der Kasseler Neonaziszene
Im April 2006 wurde der Inhaber Halit Yozgat eines Internetcafés in Kassel ermordet. Kassel liegt in Hessen und wie es der kometenhafte Zufall will, war zur Tatzeit auch Andreas Temme zugegen, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Unmittelbar zuvor hatte er „mit einem von ihm geführten V-Mann aus der Kasseler Neonazi-Szene telefoniert." (FR vom 8.6.2012). Genau jener Neonazi war nach Informationen der Frankfurter Rundschau vor seiner Anwerbung „dreimal bei Kundgebungen in Thüringen« (FR vom 24.11.2011) Ebenfalls bekannt ist, dass die NSU-Mitglieder ihre Morde quer durch Deutschland dank exzellenter lokaler Kontakte zu Neonazis planen und durchführen konnten. Reiner Zufall also, dass sich die Wege eines Mitarbeiters des hessischen Verfassungsschutzes, eines Neonazis aus Kassel und die der Mitglieder der NSU an jenem Mordtag gekreuzt hatten? Aber halt: Vielleicht war der besagte Verfassungsschützer nur ein ganz normaler, unpolitischer Beamter? Zufällig nicht: Bisher ist unbestritten, dass er „zumindest in seiner Jugend selbst rechtsextrem gewesen war“. (FR vom 8.6.2012) Heute hat er nur Papiere neonazistischer Gruppierungen und Auszüge aus ›Mein Kampf‹ in seiner Wohnung. Einen Zusammenhang wollten weder die Vorgesetzten, noch der oberste Dienstherr, der hessische Innenminister erkennen. Auf die Spur dieses hessischen Staatsschützers kam man erst, nachdem man die Videokameras auswertete, die in dem Internetcafe installiert waren und die Internetbesucher befragte. Die letzte veröffentlichte Version, die seine Anwesenheit erklären soll, lautet zur Zeit: Er sei rein zufällig und privat dort gewesen und hätte ahnungslos an der Theke bezahlt, während der Besitzer bereits tot hinter der Theke lag. Obwohl alle anderen Internetbesucher die Schüsse gehört haben, will der hessischer Verfassungsschutzbeamte davon nichts mitbekommen haben. Genau so wenig von der Flucht der Mörder. Die Ermittlungen wurden eingestellt, obgleich ein Abschlussbericht festhält: „Außerdem hätte er das Mordopfer hinter dem Tresen liegend bemerken müssen." Würde irgend jemand dieser Serie von Zufälligkeiten Glauben schenken, wenn es um die Aufklärung einer ›linken Straftat‹ ginge? Und, angenommen, es wäre so: Warum verschwieg der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU) all diese beruflichen Implikationen? Doch damit nicht genug. Als Ermittler darauf bestanden, weitere Zeugen in diesem Fall zu befragen, bekamen sie als Antwort vom heutigen hessischen Ministerpräsidenten: „Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen ...zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesam
Die Selbstmordthese ist so evident wie die Behauptung, die NSU-Mitglieder seien spurlos verschwunden
»Hat der Neonazi Mundlos wirklich seinen Kumpel und dann sich selbst erschossen? Was, wenn alles ganz anders war?« Dieses kurze Aufblitzen journalistischer Sorgfaltspflicht taucht in der Frankfurter Rundschau nicht auf den vorderen Politik-Seiten auf, sondern als letzter Satz, auf Seite 40, gut verpackt in einen Artikel über einen Krimiautoren. (Risse in der Fassade, FR vom 30.12.2011)
Der Tod der beiden NSU-Mitglieder in Zwickau im November 2011 wird unisono als Selbstmord ›kommuniziert‹. Diese Version wird in allen Medien vertreten, obwohl dieselben Medien einräumen, dass sie sich jahrelang an der Nase herumführen ließen, dass sie mitgeholfen haben, falsche Fährten festzutreten. Allein die Tatsache, dass es für diesen Tathergang am 7. November 2011 zwei gravierend voneinander abweichende Versionen gibt, müsste stutzig machen. Die erste Version entstand kurz nach dem Überfall und wird von der Thüringer Allgemeine, die sich dabei auch auf Polizeiangaben stützte, so beschrieben: Die Bankräuber benutzten bei ihrem Banküberfall einen Caravan, dessen Spur auch Stunden später zu den NSU-Mitgliedern führte. Die Beamten näherten sich dem verdächtigen Caravan. Dann hörten sie »aus dem Innenraum zwei Knallgeräusche« ... Kurz darauf brannte der Caravan und dann war alles vorbei. Die zweite Version ist über zwei Monate jünger, ganz frisch und stammt vom Polizeidirektor Michael Menzel, Leiter der Soko in Thüringen, der ebenfalls mit seinen Polizeibeamten am selben Tatort war: Dieses Mal benutzten die Täter Fahrräder für ihren Banküberfall. Dieses Mal wurde diese ihr Verhängnis. Als die Beamten auf den Caravan stießen, wurden sie sofort mit MP-Salven empfangen: »Wir wussten, dass sie scharfe Waffen hatten. Sie haben sofort auf uns geschossen«, sagt Menzel. (Polizeidirektor Michael Menzel, Leiter der Soko in Thüringen, Bild.de vom 26.11.2011). Dann soll die MP geklemmt haben, worauf die Schützen sich selbst umbrachten. Beide Versionen werden von Polizeibeamten erzählt. Welche Polizisten, welche Version ist echt? Aufgrund des Umstandes, dass beide Versionen in entscheidenden Punkten voneinander abweichen, sind nuancierte Wahrnehmungsunterschiede auszuschließen. In jedem anderen Fall wäre eine Neuaufnahme des Tathergangs zwingend geboten – in diesem Fall nicht. Warum schweigen alle auflagestarken Medien? Warum geht niemand diesen eklatanten Widersprüchen nach? Warum picken alle Leitmedien brav die Körner auf, die ihnen die Behörden anbieten, obwohl sie doch allesamt versprachen, nicht länger von Staats wegen gelegte falschen Fährten blind zu folgen?
Inszenierter Selbstmord?
Abgesehen von den komplett verschiedenen Tathergängen, wird als Motiv der schwer bewaffneten Neonazis ihre »aussichtslose Lage« angeführt. Was war daran aussichtslos? Wenn irgendjemand über 13 Jahre hinweg im ›Untergrund‹ sicher war, dann war es der Nationalsozialistische Untergrund/NSU! Was war an dieser staatlich lizenzierten Erfolgstory aussichtslos? Woher wussten sie, dass es dieses Mal keine Unterstützung ›von oben‹ geben wird? Warum sollte eine klemmende MP der Grund sein, sich selbst zu erschießen, anstatt alle anderen Waffen zu benutzen? Wie darf man sich das vorstellen: Zuerst schießen die beiden Neonazis mit der MP um sich, dann klemmt diese, Zeit genug, mit der rechten Hand die Kameradin Beate Zschäpe anzurufen, mit der linken den Campingwagen in Brand zu setzen, und nachdem alles ordentlich erledigt wurde, sich selbst umzubringen? Und wenn der 7. November 2011 ausnahmsweise aussichtslos war: Warum bringen sich Neonazis um, verbrennen gleichzeitig sich und den Campingwagen? Wenn Beate Zschäpe beim Banküberfall nicht dabei war: Wer hat sie informiert, gewarnt? Das In-Brand-Setzen des Campingwagens, das Abbrennen des Basislagers/Hauses in Zwickau macht nur Sinn, wenn jemand nicht an den Tod denkt, sondern an die Zeit danach. An Spuren, die über die Toten hinausweisen könnten. Verräterische Spuren also, um die sich in aller Regel nur Lebende sorgen. Der Brand des Hauses in Zwickau, das In-Brand-Stecken des Wohnwagens, in dem sie sich umgebracht haben sollen, lässt andere Motive viel plausibler erscheinen. Wurde hier etwa ein Selbstmord inszeniert, der vor allem der Beseitigung von Spuren diente, an die Aussichtslose keine Sekunde denken würden? Alleine die Tatsache, dass in dem abgebrannten Haus in Zwickau legal-illegale Papiere gefunden wurden (die den Brand überstanden haben), also amtlich gefälschte Identitäten, verstärkt doch den vielfach belegten Verdacht, dass es zwischen diesen NSU-Mitgliedern und Verfassungsschutzbehörden ›Verbindungen‹ gab, die über Kontakte zu V-Männern weit hinausgingen: »Nach Informationen des Tagesspiegels konnte ein Mitglied des NSU, Uwe Mundlos, über eine sächsische Meldebehörde an einen falschen Reisepass herankommen. Die Meldebehörde habe auf der Basis eines ebenfalls gefälschten Personalausweises einen so genannten legalen illegalen Reisepass ausgestellt, hieß es aus Sicherheitskreisen.« (Der Tagesspiegel vom 24.11.2011)
Der ›dritte Mann‹ des nationalsozialistischen Untergrundes/NSU – ein Anruf genügt… Eine Freischaltung zwischen NSU-Mitgliedern und sächsischen Behörden?
Alleine die Tatsache, dass in dem abgebrannten Haus in Zwickau legal-illegale Papiere gefunden wurden (die den Brand überstanden hatten), also amtlich gefälschte Identitäten, verstärkt den vielfach belegten Verdacht, dass es zwischen NSU-Mitgliedern und Verfassungsschutzbehörden ›Verbindungen‹ gab, die über Kontakte zu V-Männern weit hinausgingen: »Nach Informationen des Tagesspiegels konnte ein Mitglied des NSU, Uwe Mundlos, über eine sächsische Meldebehörde an einen falschen Reisepass herankommen. Die Meldebehörde habe auf der Basis eines ebenfalls gefälschten Personalausweises einen so genannten legalen illegalen Reisepass ausgestellt, hieß es aus Sicherheitskreisen.« Der Tagesspiegel vom 24.11.2011 Im Mai 2012 ist ein weiteres Puzzle an die Öffentlichkeit gelangt, das die Ahnungslosigkeit der Verfolgungsbehörden ad absurdum führt, und die Annahme unterstreicht, dass diese bis zur letzten Sekunde bestens informiert und eingebunden waren. Bis heute gibt es keinen Beleg dafür, dass Beate Zschäpe am Tag der tödlichen Ereignisse von ihren neofaschistischen Kameraden gewarnt wurde, um dann - für vier Tage - abzutauchen. Wer hat sie also gewarnt bzw. instruiert? Der Berliner Kurier vom 29.5.2012 rekonstruiert die Ereignisse, kurz nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wie folgt: »Etwas mehr als Stunde, nachdem sie ihre Wohnung in der Frühlingsstraße 26 in die Luft jagte, versuchte jemand Zschäpe anzurufen. Das Pikante: Die anrufende Nummer ist im Sächsischen Staatsministerium des Inneren registriert. Wer aus der Behörde in Dresden wollte Zschäpe sprechen – und vor allem warum?« Geht man von dieser Faktenlage aus, steht eines unzweifelhaft fest: Die staatlichen Verfolgungsbehörden hatten nicht den Kontakt zu den abgetauchten NSU-Mitgliedern verloren, sondern auf hoch professionelle Weise gepflegt. Wer im sächsischen Innenministerium eine Handynummer von Beate Zschäpe hatte, fahndete nicht nach ihr, sondern führte sie! Gäbe es Ermittlungen in alle Richtungen, dann wäre doch – ganz vorsichtig formuliert – auch ein anderer Ablauf denkbar: Mit dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2006 wuchs der Ermittlungsdruck gewaltig. Die seit Jahren existierten Spannungen zwischen Polizei- und Verfassungsorganen brachen ›offen‹ aus, ohne dass diese Spannung nach außen traten. Intern einigte man sich, dass die NSU-Mitglieder ›abgeschaltet‹ werden. Verfasssungsschutzorgane machten ihnen dies direkt bzw. über die zahlreichen V-Mann-Kontakte unmissverständlich deutlich: Mit dem Polizisten-Mord 2006 war die dead-line überschritten, fortan genossen sie nicht mehr den Schutz der Verfolgungsorgane. Es gehört zu den bekannten Regeln, dass V-Männer ggf. mit Papieren (neuer Identität)und Geld versorgt werden, um sie aus dem ›Dienst‹ zu entlassen. Tatsächlich hielten sich die NSU-Mitglieder an diesen Marschbefehl, verübten weder weitere rassistische Mordanschläge, noch Banküberfälle. Mit dem Entschluss 2011, doch wieder eine Bank zu überfallen, überschritten sie im wahrsten Sinn des Wortes die ›dead-line‹. Da die NSU nie abgetaucht war, der Verfassungsschutz den Kontakte zu dieser neofaschistischen Gruppe immer gepflegt hatte, ist der Anruf aus dem sächsischen Innenministerium kurz nach den tödlichen Ereignissen nur konsequent: Für Beate Zschäpe ging es darum, ihr Leben zu retten, für die involvierten Verfassungsschutzämter ging es darum, mit ihr einen Deal zu machen, der ihre ›Gewährungsleistungen‹ bzw. ›Führungsrolle‹ vertuscht. Nachdem dieser Deal unter Dach und Fach war, stellte sich Beate Zschäpe ›freiwillig‹.
Der Verfassungsschutz hat nicht die Verfassung geschützt, sondern eine neonazistische Terrorgruppe
Die Legitimation des Verfassungsschutzes wird immer wieder damit begründet, dass die von ihm finanzierten V-Männer Einblick in neonazistische Strukturen gewähren, um Straftaten und Verbrechen zu verhindern. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Ohne das Zutun verschiedener Verfassungsschutzbehörden wäre die Mordserie nicht möglich gewesen. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch der SPD-Abgeordnete Gentzel: »Unter Roewers Ägide sei es in der Behörde ›drunter und drüber gegangen‹ - eine Unterstützung des Mordtrios hält Gentzel deshalb durchaus für möglich.« (Die Zeit vom 17.11.2011) Wie viele ›braune Zellen‹ gibt es in Polizei- und Verfassungsdienststellen, wenn man davon ausgehen muss, dass systematisch Spuren falsch gelegt, Spuren, die zu neonazistischen Organisationen geführt hätten, verschwiegen und unterschlagen wurden, Festnahmen, die möglich gewesen wären, verhindert wurden? Christian Schlüter, ein Frankfurter Rundschau-Redakteur stellte am Ende seiner Betrachtungen die Frage: »Was hindert uns noch daran, von Staatsterrorismus zu reden?« (FR vom 22.11.2011) Die Faktenlage ist es jedenfalls nicht. Fügt man alle bis heute aufgetauchten Indizien, Spuren und Beweise zusammen, darf festgehalten werden: Die Existenz des Nationalsozialistischen Untergrundes/NSU ist ohne die NPD denkbar, aber nicht ohne die finanzielle, logistische und geheimdienstliche Unterstützung des Verfassungsschutzes in Thüringen.
Der Rettungsschirm für die NSU liegt im Innenministerium
Wo liefen die Fäden dieser systematischen Unterstützung für die neonazistische Terrorgruppe/NSU zusammen? Selbstverständlich reichen die Befugnisse des Verfassungsschutzes nicht aus, schon gar nicht über einen Zeitraum von über 13 Jahren, aufgrund selbstherrlicher Lageeinschätzungen die Polizei zu behindern bzw. zu hintergehen. Die Entscheidung darüber, wer in einem solchen ›Zielkonflikt‹ zwischen Behörden das Sagen hat, wird im Innenministerium getroffen. Der Schlüssel für die fortgesetzte Untätigkeit, der Schlüssel für den verbrecherischen Umstand, dass Mitglieder der NSU über zehn Jahre morden konnten, liegt im Innenministerium des Landes Thüringen. Von 1999 bis 2002 war Christian Köckert (CDU) Innenminister. In seine Dienstzeit fiel die Anwerbung des früheren NPD-Landesvizes Tino Brandt als V-Mann. Zu den zahlreichen Rücktrittsgründen zählt auch eine in seinem Amt ›verloren gegangene‹ CD mit vertraulichen Daten, unter anderem Protokolle des Thüringischen Verfassungsschutzes und der Parlamentarischen Kontrollkommission. Sein Motto »Gemeinsamkeit ist das Geheimnis des Erfolges« darf wörtlich, also personen- und amtsübergreifend verstanden werden. Nachfolger wurde Andreas Trautvetter, ebenfalls von der CDU (2002-2004), dann trat Karl Heinz Gasser/CDU (2004-2008) in die Fußstapfen seines Vorgängers. Ein gutes Beispiel dafür, dass diese organisierte Untätigkeit nicht an einzelnen Personen liegt, sondern an der Verfasstheit des Innenministeriums. Wenn also geplante Zugriffe in letzter Minute abgebrochen, wenn mögliche Festnahmen verhindert werden, wenn Konflikte zwischen Polizei und Verfassungsschutz entschieden werden müssen, dann ist als oberster Dienstherr der Innenminister für diese Entscheidungen verantwortlich.
Lückenlose Aufklärung?
Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) hat in ihrer Regierungserklärung und bei jeder anderen Gelegenheit auch versprochen, die Aufklärung der grausamen Verbrechen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) mit Nachdruck und ohne Ansehen der Person voranzutreiben. Nehmen wir sie beim Wort. Dann wäre es nicht damit getan, die Morde, die dem Nationalsozialistischen Untergrund/NSU zugerechnet werden, aufzuklären. Dazu würde auch gehören, allen Hinweisen nachzugehen, die auf strafbare Handlungen im Amt hindeuten, also Handlungen, die eine frühzeitige Festnahme der Mitglieder des NSU verhinderten, Handlungen, die die Mitglieder der NSU logistisch, finanziell und operativ unterstützten, also neonazistische Mordanschläge über zehn Jahre mit ermöglicht haben. Die bisher verbreitete Version, es handele sich um »Pannen« kann dabei als durchsichtige Schutzbehauptung gewertet werden. Wenn das Innenministerium in einer Zeitspanne von über zwölf Jahre mehrmals polizeiliches Vorgehen verhinderte, das Verhaftungen ermöglicht hätte, wenn geplante Festnahmen ›abgeblasen‹ wurden, dann handelt sich dabei nicht um Pannen, sondern um geplante, immer wieder abgestimmte Entscheidungsprozesse. Das Strafrecht unterscheidet drei verschiedene Arten des Tatverdachts. Die geringste Stufe bildet dabei der Anfangsverdacht gemäß §§ 152, 160 StPO: »Ein Anfangsverdacht ist gegeben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für Straftaten vorliegen. Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte sind dann gegeben, wenn die Möglichkeit einer strafbaren Handlung besteht.« Gehen wir einmal davon aus, dass ein solcher Anfangsverdacht gegenüber einem Innenminister nicht schwerer oder leichter wiegt, als gegenüber jedem anderen Verdächtigen, dann stellt sich doch angesichts der zahlreichen tatsächlichen Anhaltspunkte die Frage, warum bis heute nicht gegen die jeweiligen Innenminister wegen des Verdachts der Strafvereitelung ermittelt wird? Warum wurde bis heute nicht von Amts wegen gegen die jeweiligen Innenminister wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ermittelt?
Kein Untersuchungsausschuss wird diese Fragen beantworten, geschweige denn die politischen und strafrechtlichen Konsequenzen daraus ziehen. Es wird entscheidend darauf ankommen, ob sich alle, die sich gegen Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus engagieren, darauf einigen, dass es nicht nur darauf ankommt, einen Neonaziaufmarsch zu verhindern, sondern auch darauf, sich einer fortgesetzt straffreien Exekutive in den Weg zu stellen. Die genehmigte Route eines Neonaziaufmarsches kennt man – die genehmigte Route zwischen Polizei, Verfassungsschutz, Staatsanwaltschaft und Innenministerium mittlerweilen auch.
Wolf Wetzel 29.6.2012
Die Langfassung findet ihr hier:
www.wolfwetzel.wordpress.com/2012/06/29/thesen-zur-neonazistischen-mords...
Mitglied in der ANK Frankfurt
Wer davon noch nicht genug hat bzw. das hier beschriebene für einen landesspezifischen Sonder – also Einzelfall hält, wird zu einer Reise durch hessische Geheimdienste eingeladen: ›Es geht nicht darum, einen guten Verfassungsschutz zu haben, sondern gar keinen‹: https://wolfwetzel.wordpress.com/2008/09/20/es-geht-nicht-darum-einen-gu...
andreas t. im regierungspräsidium kassel
laut diesem, ergänzende informationen bietenden text in der jw (http://www.jungewelt.de/2012/06-30/044.php) arbeitet der hessiche vs'ler jetzt im regierungspräsidium kassel. und zwar in der personalabteilung, bereich beamtenversorgung.
mit versorgung kennt man sich eben überall bestens aus...