Wer sieht was? Debattenbeitrag zu Antisemitismus, Krieg und Solidarität

nix_sehen_gr

Debattenbeitrag zu „Wer nur eins sieht, übersieht unendlich viel“
bzw. „Wer unendlich viel sieht, übersieht das Wesentliche“

Wir hatten die Debatte vor einigen Wochen mit einem Text eröffnet, weil wir vor dem Hintergrund einer immer wahrscheinlicher werdenden Eskalation des Konfliktes zwischen Israel, den USA, der EU und dem Iran eine Zuspitzung innerlinker Zerwürfnisse als Folge eines Bedürfnisses nach einfachen Antworten befürchteten. Wir hofften einen kleinen Beitrag zur Findung differenzierter Positionen leisten zu können.
Es gab eine schriftliche Reaktion auf unseren Text, von der hannoverschen Gruppe Alerta.
Zunächst finden wir es erfreulich, dass tatsächlich eine halbwegs solidarische Kritik an unseren Positionen formuliert wurde und anscheinend Interesse an einer Debatte besteht. Umso bedauerlicher ist es, dass der Text unsere Sorge bestätigt.

 

Neben sinnvoller Kritik wird oft nicht auf das eingegangen, was wir geschrieben haben und Vorwürfe gegen uns in Stellung gebracht, die wenig mit unserem Text zu tun haben. Zudem werden wir in sehr überheblichem Tonfall als dumm, infam und ignorant beleidigt. Wir versuchen eine Antwort, die auf entsprechende Retourkutschen verzichtet. Neben konkreter Textkritik bemühen wir uns auch um eine darüber hinausweisende Klarstellung unserer Positionen.

Dass wir weiterhin Interesse an reger Diskussion haben, dürfte klar sein. Schließlich haben wir sie uns ja eingebrockt.
Alle folgenden, kursiv gesetzten Zitate in Anführungszeichen sind aus dem Antworttext der Genoss_innen von Alerta, soweit sie nicht anders gekennzeichnet sind.

Zur Funktionsweise des Antisemitismus
Uns wird vorgeworfen, wir würden die „Funktionsweise von Antisemitismus“ nicht verstehen und deshalb zu einer „Fehleinschätzung“ der Situation kommen. Wesentlich erschreckender als dieser Vorwurf, ist allerdings der umgekehrt gezogene Schluss, dass das richtige Verständnis der „Funktionsweise von Antisemitismus“ zu einer Kriegsbefürwortung führen müsse.
Doch bleiben wir zunächst bei der Kritik des Antisemitismus. Nichts von dem, was uns in dem „Exkurs zu den Grundlagen des Antisemitismus“ erklärt wird, haben wir in unserem ersten Papier bestritten oder würden wir in Frage stellen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb sich hier nicht auf Stellen in unserem Text bezogen wird. Stattdessen wird im Anschluss an den Exkurs bezuglos behauptet, es hätte sich „das Gefühl“ aufgedrängt, wir hätten Antisemitismus mit Rassismus gleichgesetzt. Dabei hatten wir mehrfach darauf hingewiesen, dass wir Unterschiede zu Rassismus für wesentlich halten. So haben wir in Bezug auf Zuspitzungen von vorhandenen Strukturen der Ungleichheit und Diskriminierung im Zuge der Militarisierung einer Gesellschaft festgehalten, dass es nicht darum gehen kann, Unterschiede zu verwischen. Auch haben wir z.B. bezüglich der Occupy-Bewegung auf die Anknüpfungsfähigkeit vieler ihrer Positionierungen zum Antisemitismus hingewiesen. Diese entsteht in diesem Punkt dadurch, dass Antisemit_innen im Gegensatz zu Rassist_innen „vermeintlich übermächtige Gegenspieler_innen“ konstruieren. Der Vorwurf, wir würden unzulässige Gleichsetzungen betreiben, führt in dieser Form einerseits dazu, dass die Unterschiede innerhalb antisemitischer Konstruktionen verwischt und andererseits dazu, dass andere Formen der Ungleichheit und Diskriminierung verharmlost werden.
Wenn Alerta schreibt „Eine Kritik an Israel und dem Zionismus kann genauso gut mit antisemitischen Argumentationslinien aufgeladen sein, oftmals auch ohne das sich die Sprecher_in darüber bewusst ist.“, ist das inhaltlich zweifellos richtig.
Allerdings halten wir einen Aspekt für entscheidend, um daraus Schlüsse ziehen zu können: es kann so sein, muss es aber nicht. Also muss es im Zweifelsfall daraufhin überprüft werden. In unserem Text benennen wir ausdrücklich unsere Furcht vor bestimmten Positionen der Friedensbewegung und von Teilen der sich als antiimperialistisch verstehenden Linken und sprechen uns genau deshalb explizit gegen eine einseitige Kritik an Israel und Aktionen gegen israelische Symbole aus.
Doch gleichzeitig geben wir mit dem Ausschnitt des Manifests des Gaza Youth Movements ein praktisches Beispiel dafür, dass nicht jede Kritik an israelischer Politik antisemitisch aufgeladen sein muss. Dazu schweigt Alerta lieber.
Zudem gibt es unterschiedliche Arten des Antisemitismus und eben nicht, wie behauptet wird, nur eine, deren Erscheinungs- und Ausdrucksformen auf eine „völlige und weltweite Ausrottung“ von Juden und Jüdinnen abzielt. Mit eliminatorischen Antisemitismus meinen wir, in Abgrenzung zu anderen Formen, eine, die sich eine Vernichtung der Jüd_innen wünscht und/oder versucht sie umzusetzen.
Spätestens wenn Sprecher_innen sich ihrer antisemitischen Argumentationslinien nicht bewusst sind, ist offensichtlich, dass sie nicht von Vernichtungswünschen besessen sind. Deshalb ist es weder „verharmlosend“ noch „scheinbar feinsinnig“ und erst recht nicht „dumm und infam“, sondern notwendig, Unterschiede zu analysieren. Denn bekämpft werden müssen alle Formen des Antisemitismus, aber eben auf unterschiedliche Art und Weise.
Die Ausführung darüber, dass die „Unterscheidung [von Jüd_innen und Israel] vor dem Hintergrund eines antisemitischen Weltbildes keinen Sinn“ macht, teilen wir nicht. Denn vor dem Hintergrund der Suche nach effektiven Mitteln im Kampf gegen Antisemitismus macht sie sehr viel Sinn. Eine Kritik am Antisemitismus und die adäquaten Mittel gegen seine jeweiligen Ausprägungen lassen sich nur finden, wenn Unterschiede erkannt werden. Deshalb ist es rückschrittlich, Kritik am Antisemitismus so zu formulieren, dass einerseits wesentliche Unterschiede innerhalb antisemitischer Weltbilder verwischt werden und andererseits eine Abgrenzung zu anderen Formen der Ungleichheit und Verfolgung über eine Verharmlosung dieser geschieht.
Dies gilt auch für die Einordnung des Antisemitismus im Iran. Der iranischen Führung nutzen antisemitische Projektionen u.a. in Form der Konstruktion einer zionistischen Verschwörung zum Machterhalt. „Das Ergebnis ist schlussendlich“ ganz und gar nicht „genau das selbe“ wie wenn sie ausschließlich einen eliminatorischen Antisemitismus verfolgen würde. Denn dann wäre die Folge (zunächst) die Ermordung der Jüd_innen im eigenen Land. „Harmlos“ ist der Antisemitismus der iranischen Führung und von Teilen der Bevölkerung trotzdem überhaupt nicht.
Die Beschwerde über unsere Aneinanderreihung von Absätzen zu Gaza Youth und der Situation im Iran ist berechtigt. Da wäre eine klarere Abgrenzung sinnvoll gewesen.
Außerdem: Wenn Alerta zur Abgrenzung schreibt, Rassismus habe keine Ausrottung zum Ziel, verklärt dies, dass eben auch Rassismus unterschiedliche Erscheinungsformen hat und einige davon durchaus das Ziel der Vernichtung „einer anderen Rasse“ haben. Der Genozid an den Herero und Nama in den deutschen Kolonien, ist ein Beispiel dafür.

Zur Solidarität mit Israel
Den Vorwurf, wir blieben „die Antwort schuldig“, wie der Schutz vieler Juden und Jüdinnen zu garantieren sei, wenn „nicht durch Israel selbst“, wundert uns. Denn wir haben an mehreren Stellen explizit geschrieben, dass wir uns niemals anmaßen werden, zu verurteilen, dass jüdische Menschen zu ihrem Schutz den Staat Israel verteidigen. Wir sind ganz sicher nicht dafür, dass die Existenz Israels von einer äußeren Gewalt beendet wird. Der Staat Israel existiert und er wird sich weiterhin selbst verteidigen.
Alerta nennt Detlev Claussen als Bezug, zitiert ihn aber nicht und führt nicht aus weshalb seine Position, als Vertreter der kritische Theorie, ihrer Meinung die Diskussion voranbringen würde.
Wir wollen trotzdem darauf und auf einige weitere Vorwürfe mit einem längeren Zitat des israelischen Soziologen Mosheh Tsukerman antworten.

„Israel war von Anbeginn mein Land; d.h. das Land, in dem ich geboren wurde und in das ich zurückgekehrt bin. Aber es ist gerade darin auch das Land der großen Desillusion meines Lebens geworden und kann, so besehen, schon deshalb nicht mehr "mein Land" in einem wie immer gearteten affirmativen Sinne werden. […] Und politisch? Ja, politisch bin ich in der Tat heimatlos, aber nicht nur in Israel und in Deutschland, sondern in der Welt. Die Welt, in der ich zu Hause, im wahren Sinne beheimatet wäre, ist ja noch nirgends historisch geworden. [..]
[Auch lässt sich] Adornos Sicht der Shoah als ein menschheitsgeschichtliches Katastrophenereignis schlicht nicht auf die Ebene nationaler Staatsbildung reduzieren. Das zivilisationskritische Paradigma Adornos redet da eine diametral entgegengesetzte Sprache. [..]
Es ist schon schlimm genug, sich anhören zu müssen, wie sich intellektuelles Mittelmaß anmaßt, Adorno modifizieren zu wollen. Dass diese Wohlmeinenden darüber hinaus noch nicht begriffen haben, dass die Kategorien, mit denen sie operieren, gerade die nächste Kollektivkatastrophe der Juden zeitigen könnten, wenn sie auf längere Sicht zur Grundlage der realen Politik Israels werden würden, grenzt schon an himmelschreiende Verantwortungslosigkeit.
Denn nicht nur ist Israel heute der für die Existenz des Juden als Individuum bedrohlichste Ort der Welt; nicht nur hat selbst der Vorsitzende von Yad Vashem* in Abrede gestellt, dass der Zionismus die einzige Antwort auf die Shoah, mithin auf den Antisemitismus sei; nicht nur würden sich die allermeisten Israelis dagegen wehren, ihren Staat als den "Staat der Shoahüberlebenden" apostrophiert zu sehen (und sie wissen sehr gut, warum - Lorbeeren hat sich dieser Staat im Umgang mit den Überlebenden wahrlich nicht verdient); sondern man muss schon blind sein, um nicht zu begreifen, dass die einzige Chance Israels, in dieser Region längerfristig zu überleben, der Frieden sein kann. Für diesen Frieden muss Israel zwar zur Selbstverteidigung fähig sein (und es ist es auch - da brauchen sich die deutschen Solidarisierer keine inadäquaten Sorgen zu machen). Aber es muss vor allem eine gänzlich andere Nahostpolitik führen. [...]
Den Nachfahren der Opfer wird von den Nachfahren der Täter auferlegt, das aufzuheben, was die Täter-Ahnen an den Juden verbrochen haben, und zwar weit entfernt von Deutschland, eben im Nahen Osten. Es kümmert sie dabei einen Dreck, ob Israel mit seinem "knallharten sicherheitspolitischen Kurs" nicht nur die Palästinenser, sondern auch sich selbst zu Grunde richtet; ob die Israel von ihnen zugeschriebene Bollwerkfunktion dereinst Israels Untergang zeitigen könnte, wenn Israel in dieser seiner Funktion in alle Ewigkeit Fremdkörper in der Region und Hassobjekt seiner Nachbarn bleiben sollte.[...]
Die große Frage ist doch, bedroht der Iran Israel existenziell, kann er der Existenz Israels wirklich gefährlich werden? Meine Antwort ist: Nein. Wenn wir dieser Frage nachgehen, ist klar, dass der Iran Israel nur nuklear und nicht konventionell bedrohen könnte, und für dieses Szenario muss man einfach in Rechnung stellen, dass Israel, wie außerhalb Israels berichtet wird, ein hochgradig nuklear bewaffnetes Land ist. Es gibt heutzutage kein Land im Nahen Osten, das Israel bedrohen könnte, ohne seinen eignen Untergang damit festgeschrieben zu haben. Würde der Iran mit der existenziellen Bedrohung Israels ernst machen, würde er sich auch selbst existenziell bedrohen. Zur Zeit des Kalten Krieges hieß das "Gleichgewicht der Abschreckung" - und das gilt auch für den Nahen Osten, den Israel im äußersten Extremfalle eines Angriffs auf seine Existenz komplett in Schutt und Asche legen könnte. Insofern stellt der Iran ein Gefahrenpotential dar, aber es ist als solches nur dann bedrohlich, wenn man auf die Rhetorik des iranischen Staatspräsidenten fixiert bleibt. Eine existentielle Bedrohung stellt der Iran nicht dar.“

* israelische Shoah-Gedenkstätte

Zu Solidarität und weltweiter, grundlegender, emanzipatorischer Umwälzung
Wenn Alerta erklärt, ihre Solidarität gelte „denen von Antisemitismus bedrohten und betroffenen Menschen, egal ob uns als deutsche Linke ihre Positionen gefallen oder nicht“ und uns gleichzeitig vorwirft „eine recht wahllose Solidarität mit um Befreiung kämpfenden Menschen“ zu fordern, ohne dass wir uns dabei „über deren Ziele und Inhalte Gedanken“ machen würden, finden wir das absurd.
Die Erkenntnis, dass wir als radikale Linke dagegen sein sollten, dass irgendwer, unabhängig davon ob uns seine_ihre politischen Positionen gefallen, von Antisemitismus bedroht ist, ist genauso banal, wie die Erkenntnis, dass jeder Mensch ein „Existenzrecht“ hat. Dies ist allerdings eine Feststellung, die Alerta zum Lachen findet. Antiautoritären Linken sollte klar sein, dass wir uns gegen alle Formen der Diskriminierung und Verfolgung von Menschen wenden. So sind wir z.B. auch unabhängig davon, ob Menschen im Iran unsere Ziele teilen oder „Anhänger_innen von Mussawi, einem moderaten Anhänger der islamischen Republik“ sind, dagegen, dass sie in einer klerikal-faschistischen Diktatur leben müssen. Ebenso aber auch, dass sie bombardiert werden.
Für die Frage, inwieweit wir mit wem aktiv solidarisch sind, spielen politische Positionen allerdings sehr wohl eine Rolle. Wir fordern keine „wahllose Solidarität“ ein, sondern rufen dazu auf, sich mit den „Zielen und Inhalten“ verschiedenster Akteure, in verschiedensten Kämpfen auseinander zu setzen. Wenn wir schreiben, dass wir die Positionen in den von uns empfohlenen Lesetipps nicht alle teilen, meinen wir das durchaus ernst. Wenn wir z.B. das Gaza Youth Movement zitieren, dann nicht weil wir „wahllose Solidarität“ mit ihnen einfordern wollen, sondern weil wir denken, dass ihre Positionen wahrgenommen und durchaus auch kritisiert werden sollten. Unsere Solidarität beinhaltet immer die Kritik und ist nicht „wahllos“, gerade deshalb aber auch niemals „bedingungslos“. Eine Voraussetzung für kritische Solidarität ist es, herauszufinden, wer welche Positionen vertritt.
Dagegen erkennt Alerta zwar, dass es z.B. innerhalb Israels „emanzipatorische und reaktionäre“ Positionen gibt, behauptet dann aber, dies sei „nicht der springende Punkt“. Was das konkret heißt, wird wohlweislich nicht ausgeführt. Die „Sicherheit Israels“ ist „vom Können und Wollen einer ominösen sozialen Bewegung in Syrien/Iran etc.“ genauso wenig abhängig, wie von den Positionierungen der deutschen Linken. Einen Austausch oder sogar eine „Vernetzung mit progressiven, emanzipatorischen Menschen in der Region“, wird es aber wohl kaum geben, wenn ihre Kämpfe und Positionen für unwesentlich erklärt werden. Wie soll man sich z.B. mit der israelischen Linken vernetzen, wenn das Eintreten gegen einen Krieg gegen den Iran als Unverständnis der „Funktionsweise des Antisemitismus“ gedeutet wird und ihre Kritiken am eigenen Staat „nicht der springende Punkt“ sind?
Alerta redet davon, dass wir in einem „linksradikalen Elfenbeinturm“ säßen, bekommt aber „Bauchschmerzen“ wenn sie die „Wahlergebnisse der Moslembrüder“ in Ägypten sieht.
Während Alerta sich um den eigenen Bauch sorgt, kämpfen in Ägypten tausende Menschen gegen die entstehende Militärdiktatur, das Wiedererstarken der alten Machteliten und religiösen Fundamentalismus. Hunderte sind in diesen Kämpfen eingeknastet, gefoltert und ermordet worden.  Das Regime Mubarak wurde gestürzt, übrigens auch mit Hilfe von Teilen der Muslimbruderschaft. Die Auseinandersetzungen darüber, was folgt, werden weiter ausgetragen. Um bei dem Beispiel zu bleiben: dies gilt auch innerhalb der sehr unterschiedlichen Fraktionen der Muslimbruderschaft. Während Teile eine Zusammenarbeit mit dem Militärrat praktizieren und sich eine Stabilisierung des Staatsapparates wünschen, riefen z.B. die Vereinigungen der Frauen und die der Jugendlichen innerhalb der Muslimbruderschaft in jüngster Vergangenheit zur Beteiligung an Demonstrationen gegen den Militärrat auf.
Gesellschaftliche Veränderungen sind oftmals kleinschrittig und fast nie frei von Widersprüchen. Diejenigen, die für umfassende, emanzipatorische Veränderungen kämpfen, sind damit konfrontiert, dass es eben nicht so ist, dass eines schönen Tages eine „weltweite, grundlegende, emanzipatorische Umwälzung“ alles hinwegfegt, sondern sie immer weiter kämpfen müssen. In Ägypten unter anderem gegen das Erstarken des Islamismus. Selbst der größte Sieg - und der Sturz einer 40-Jährigen Diktatur ist ein großer Sieg - schafft immer nur die Ausgangslage für die nächsten Kämpfe. Uns sind keine gesellschaftlichen Umwälzungen bekannt, die zu „guten“ und nicht nur zu „besseren“ Lebensbedingungen geführt haben. Verschiedenste Kämpfe mit all ihren Problemen, Rückschritten und Fehlern werden im hier und jetzt ausgetragen. Sie mit „Bauchschmerzen“ in paternalistischer Art und Weise zu begutachten oder ihre Legitimität auf die „romantisierte Vorstellung“ einer weltweiten Revolution zu verschieben, wird „eine Vernetzung mit progressiven, emanzipatorischen Menschen in der Region“ sicher nicht voranbringen. Denn eine derart überhebliche Sichtweise gelingt nur aus der Sicherheit derer, die viel zu verlieren haben, wenn die Verhältnisse sich ändern. Wir haben einen anderen Begriff von gesellschaftlichen Prozessen und von politischen Kämpfen. Uns geht es nicht darum uns „endlich als Teil einer Revolte fühlen zu können“, sondern darum die Menschen und ihre Kämpfe ernst zu nehmen und zu versuchen uns ins Verhältnis zu ihnen zu setzen.

Zu Dualismen und Krieg
Bereits in dem ersten Absatz des Textes wird uns vorgeworfen, dass wir einen „dritten Weg“ im „Irankonflikt“ zur Debatte stellen würden. An späterer Stelle wird dieser als „dritter Weg zwischen Bahamas und den Spinnern von RSH“ benannt. Es wird uns vorgehalten, dies sei „äußerst problematisch“, da die „eigentlich zentrale Fragestellung“ dabei unter den Tisch falle. Wir verstehen diesen Vorwurf und seinen Zusammenhang nicht. Weder die Bahamas, die jeden Krieg „des Westens“ bejubelt und keine Gelegenheit auslässt, sich von linker Theorie und Praxis abzugrenzen, noch die Rote Szene Hamburg, die gewalttätig gegen vermeintliche und tatsächliche Antideutsche kämpft, halten wir in irgendeiner Weise für einen Bezugspunkt. Uns kommt es sehr seltsam vor, dass unser Debattenbeitrag zwischen zwei deutschen Gruppierungen verortet wird. Denn wir hatten vorgeschlagen, sich mit den verschiedenen, zum Teil divergierenden Positionen der Menschen und Gruppierungen in den einzelnen Ländern (u.a. Iran und Israel) auseinander zu setzen. Dies deutet Alerta jedoch als Versuch „unter Vortäuschung von Sachlichkeit, zu erklären wie Israel und seine Nachbarn wirklich sind.“ Dabei erklären wir niemanden, wie irgendwer ist, sondern weisen darauf hin, dass es möglich ist, sich selbst ein Bild zu machen. Wir sehen dagegen keinen Grund, einen „dritten Weg“ zwischen zwei reaktionären deutschen Positionen zu suchen.
Wenn wir uns gegen einseitige Kritik an Israel wenden und trotzdem nicht von einem „bedingungslosen Existenzrecht“ für irgendeinen Staat reden wollen, dann deutet Alerta dies als Versuch der „Demaskierung Israels“.
Derartige Argumentationslinien, der von Alerta benutzte Solidaritätsbegriff, die Formulierungen „das Wesentliche“ und „eigentlich zentrale Fragestellung“ sowie die Kritik an der Suche nach differenzierter Auseinandersetzung („dritter Weg“) sind Ausdruck einer dualistisch zugespitzte Weltsicht.
Sie reproduziert genau das, was wir in unserem Text folgender Maßen beschrieben haben:
„Zur Rechtfertigung von Kriegen ist es immer wieder nötig, andere Standpunkte, Problem und Lösungsansätze auszublenden. […] Komplexe Strukturen müssen als einfache Widersprüche wahrgenommen werden, damit am Ende einer Überlegung nur eine Lösung möglich ist: Krieg! Dies gelingt durch die Herstellung vermeintlicher Dualismen. Es gibt nur (noch) richtig und falsch [...]“ Eine kriegerische Sprache ist die Folge kriegerischen, dualistischen Denkens. Diese zieht sich durch den gesamten Alerta-Text.
So wird unseren „theoretischen Feststellungen“ zur Unvereinbarkeit von Staat und Emanzipation, sowie der These von der Zuspitzung von Ungleichheitsstrukturen und Gewaltverhältnissen durch Krieg zwar zugestimmt, sich aber gleichwohl „ob des Kontextes“ gegruselt. Die theoretische Zustimmung ist jedoch nichts wert, wenn sie umgehend beiseite geschoben, bzw. denunziert wird. Es wird einfach behauptet, dass es gruselig sei, auch kriegerische, patriarchale, heterosexistische und rassistische Gewaltverhältnisse zu benennen (wenn es um Israel geht). Wir hatten uns bemüht auszuführen, wie innerhalb dieses Kontextes, Positionen zu Gewaltverhältnissen vertreten werden können. Dieser Mühe unterzieht sich Alerta leider nicht. Dazu hätten wir gerne etwas von ihnen gelesen; das hätte den Kern unseres Anliegens zumindest berührt.
Anstatt die Kritik am Antisemitismus innerhalb einer umfassenden Analyse von Strukturen der Ungleichheit, Herrschaft und Verfolgung immer mit zu denken, wird sie zur „eigentlich zentralen Fragestellung“, zum einzig „Wesentlichen“ konstruiert. Es wird nicht mal der Versuch unternommen, die eigene Kritik am Antisemitismus und die Kritik an anderen, zwar erkannten aber „ob des Kontextes“ scheinbar nicht aussprechbaren Gewaltverhältnissen, zusammen zu denken. Dieses bipolare Denken, das sozusagen einen Hauptwiderspruch für sich entdeckt hat, ermöglicht den „Problematiken einer militärischen Aktion“ zum Trotz, abgehoben und zynisch Krieg „zum Schutz von Menschen“ zu befürworten.
Die Sprache der Militärstrateg_innen verdeutlicht, wie wenig sich mit der „Realität des Krieges“ und ihren „Auswirkungen“ beschäftigt wurde. Solche Formulierungen verstecken „die Realität des Krieges“, mit ihren Zuspitzungen von Ungleichheiten und Verfolgung auf allen Seiten. Tausende verstümmelte, traumatisierte, vergewaltigte, gefolterte und ermordete Menschen verschwinden hinter abgehobenen Worten. Doch nicht nur das. Gleichzeitig blenden sie aus, mit welchen Motiven eine kriegerische Eskalation vorangetrieben wird und wie ihre Zielsetzung ist. Dass die israelische Regierung im Moment so sehr auf einen schnellen Angriff pocht, hat nichts mit dem „Schutz von Menschen“ zu tun. Vielmehr geht es darum, vor allem die USA bzw. die Obama-Regierung, die im Wahlkampf am ehesten zu einer weitgehenden Unterstützungszusage zu bewegen ist, unter Druck zu setzen.
Wenn nicht von Anfang an, dann spätestens wenn der Iran auf einen Angriff auf seine Atomanlagen, mit erwartbaren Gegenangriffen reagiert, geht es um einen weiteren „Regime Change“ in der Region. Traditionelle Gegner des Iran wie Saudi Arabien werden genauso mitmischen wollen, wie auf der anderen Seite Syrien, die Hisbollah im Libanon und schiitische Kräfte in verschiedenen weiteren Ländern den Iran unterstützen werden. Spätestens dann wird der Krieg nicht nur für die Menschen im Iran, sondern auch in vielen anderen Ländern der Region real. Auch in Israel.
„Glück und Freiheit“ wird das für niemanden bedeuten.

Zum Aussitzen unangenehmer Positionierungen
Unsere Suche nach umfassend emanzipatorischen Positionen und unsere Weigerung, uns innerhalb einer dualistischen Weltsicht zu verorten, bezeichnet Alerta als „Aussitzen unangenehmer Positionierungen“. Eine Positionierung auf der Seite der israelischen Regierung, die Alerta einfordert, hilft den von „Antisemitismus bedrohten Menschen“ aber nicht im Geringsten. Wir fragen uns auch, wie Handlungsoptionen für eine solche Solidarität in Deutschland praktisch aussehen sollten. Soll es im Kampf gegen den Antisemitismus Solidemos für Thyssen-Krupp und die Bundesregierung geben, weil sie Kriegsgerät nach Israel liefern und Solipartys, um den Israel Defense Forces im Einsatz Pizza zu schicken?
Ja, wir sind in Deutschland mit einer „antisemitischen Grundstimmung unter einem großen Teil der bundesrepublikanischen Bevölkerung“ konfrontiert. Dem entsprechend war die Befürchtung, dass Teile der Friedensbewegung und der sich als antiimperialistisch verstehenden Linken im Falle eines Krieges zwischen Israel und dem Iran antisemitische Positionen beziehen, einer der Ausgangspunkte unseres ersten Debattenbeitrags. 
Es besteht auch die Gefahr, dass verkürzte, dem Antisemitismus Anknüpfungspunkte bietende Kapitalismuskritiken stärker werden. Deshalb werden wir aber nicht aufhören, Kapitalismuskritik zu formulieren, sondern dabei immer auch versuchen, den antisemitischen Charakter verkürzter Kritiken zu entdecken und zu bekämpfen. Ebenso verhält es sich mit Positionierungen zu Staatlichkeit, Militarisierung und Krieg. Wir werden nicht aufhören, Kritik daran zu formulieren, sondern denjenigen entgegentreten, die offen antisemitische oder daran anknüpfungsfähige Positionen beziehen und weiterhin versuchen, eine umfassend emanzipatorische Kritik zu formulieren. Wir sind in Deutschland nämlich auch mit dualistischen Weltbildern und den daraus resultierenden Legitmationsmustern für Krieg „unter einem großen Teil der bundesrepublikanischen Bevölkerung“ konfrontiert. Dem entsprechend war die Befürchtung, dass Teile der deutschen Linken sich kriegsbefürwortend positionieren, ein weiterer Ausgangspunkt unseres ersten Debattenbeitrags.
Die Notwendigkeit einer Positionierung hat etwas damit zu tun, womit wir konfrontiert sind. Die Qualität der Positionierung hat wiederum etwas damit zu tun, ob sie es schafft, verschiedenste Widersprüche einzubeziehen und praktische Handlungsoptionen zu erarbeiten.
Unser Bemühen um eine solche Position wurde anscheinend entweder nicht begriffen oder es wurde sich von dem Anspruch, eine grundlegend emanzipatorische Kritik zu formulieren, verabschiedet. Einerseits besteht gar nicht die Notwendigkeit, sich innerhalb einer kriegerischen/bipolaren Logik einzusortieren, andererseits erfordert doch gerade eine Positionierung außerhalb einer solchen Logik die von Reflexion und Zweifeln begleitete Auseinandersetzung mit komplexen Verhältnissen. Angenehm ist das überhaupt nicht, schließlich werden wir von vielen Seiten angefeindet. Es führt aber trotzdem kein Weg daran vorbei. Wir sehen es als Aufgabe emanzipatorischer Bewegungen und linker Politik Kritiken und Praxen zu entwickeln, die allen Ungleichheitsstrukturen entgegentreten und nicht immer wieder aufs Neue unterschiedliche Formen gegeneinander ausspielen. Eine linksradikale Kritik kann nicht in wesentliche und unwesentliche Herrschafts- und Gewaltverhältnisse sortieren. Sie muss sie ins Verhältnis setzen und Wege emanzipatorischer Veränderungen aufzeigen. Wir hatten uns bemüht, auf diesem Weg einen Millimeter weiter zu kommen – und haben vorgeführt bekommen, dass auch jeder Millimeter aus unendlich vielen kleineren Schritten besteht.                                                                    

Temporäre autonome Zelle

 

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Eine sehr lesenswerte Antwort. Schön wäre es gewesen, wenn ihr in dem obigen Text noch einen Absatz geschrieben hättet, der sich auf andere Debattenbeiträge  bezieht (auch eine Einschätzung bspw. zur Online-Diskussion, die doch recht exemplarisch für vieles war, was eine vermeintlich linke Debatte sein soll).

Schon nach den ersten Zeilen wird mir klar: das ist der selbe Kram wie zuvor. Ein weiterer Versuch, eure "Friedenspolitik", euren sturen "Antimilitarismus" und euer Appeasement in Einklang zu bringen mit der Abwehr der Kritik, die euch vorwirft, strukturell antisemitisch zu denken und den Mördern freies Geleit verschaffen zu wollen. Das Ganze noch schön einsortiert in euer konservatives Schubladendenken, und das Weltbild ist perfekt. Bravo!