Paris ist zauberhaft

paris magique

Die Protestwelle in Frankreich, über die die Leserinnen von Linksunten dank der Berichte des fleißigen Johhny regelmäßig informiert werden, scheint ja bereits wieder abzuklingen. Während die Mehrheit des Protest sich in langweiligen Gewerkschaftsmärschen oder ebenso langweiligem Herumsitzen auf öffentlichen Plätzen gegen irgendein neues Arbeitsgesetz erschöpfte, scherte ein Teil der Jugend sich um Arbeit und Gesetz wenig und veranstaltete allwöchentlich einigen Rabatz auf den Straßen. Hier nun ein Erfahrungsbericht eines Aktivisten von einer dieser Krawalldemos am 31. März in Paris in deutscher Übersetzung. Außerdem sei auf eine Videozusammenfassung desselben Ereignisses von 666 Media hingewiesen: https://vimeo.com/163250760

 

Der Anfang

 
Nach den Großtaten der Schüler vom Lycée Bergson am Freitag dem 25. war das Wochenende eher ruhig gewesen. Eine Versammlung war für den Montagnachmittag in Ménilmontant einberufen worden. Leider sind die angekündigten Treffen nunmehr vor allem Treffen mit der zahlreichen Polizei, mobilisiert für solche Momente des Kampfes, die eine ideale Gelegenheit bieten, um ihre Lieblingsmaßnahme zu vervollkommnen: den Kessel. 40 Personen werden noch vor der Versammlungszeit eingekreist, beschimpft, kontrolliert – die Bullen haben Listen mit Namen und suchen nach Leuten. Sie finden sie nicht. Nach einer langen Wartezeit werden alle freigelassen und die Versammlung zerstreut sich. Nutzen wir diese Niederlage, um alle daran zu erinnern, nie an der U-Bahn-Station auszusteigen, die vom Aufruf angezeigt wird; besser ist es, eine Station davor auszusteigen und den Rest zu Fuß zu laufen, um umkehren zu können, falls die Vertreter der öffentlichen Autorität schon gut aufgestellt wurden. Am Dienstag und Mittwoch finden die Vollversammlungen fast überall statt. Die Losung ist: am Donnerstag übernehmen wir die Führung, diesmal wirklich. Die nationale Koordination schlägt ihre neue spektakuläre Aktion der Woche vor: eine Art burleske und „festliche“ Gedichtrezitation vor dem Sitz des Unternehmerverbands MEDEF, umgeben von einem Kordon abgestumpfter Bullen.

 

Donnerstagvormittag

 
Der Vormittag steht den Schülern zu. Die Zahl der blockierten Gymnasien hat sich in der letzten Woche verdoppelt. Um 11.00 versammeln sich zweitausend Schüler auf dem Place de la Nation. Es regnet. Die Gewerkschaft SUD-RATP hat aufgerufen: dreißig Bahnarbeiter sind da, um die Schüler zu beschützen. Es muss gelingen, gemeinsam den Place d’Italie zu erreichen, entweder über die Bastille und die Rue du Faubourg Saint-Antoine, oder über den Gare de Lyon und den Boulevard Diderot. Angesichts der Spannung der letzten Woche versuchen wir über die Bastille durchzukommen, weniger günstig für die Polizeikessel als die Umgebung des Gare de Lyon. Noch bevor die Demonstration anfängt, schreien einige Schüler der NPA [Neue Antikapitalistische Partei] und der FIDL [Schülergewerkschaft] in die Megaphones: „Zur U-Bahn, zur U-Bahn“. Sie rufen auf, vom Nation mit der U-Bahn zu fahren, um den Zug der Studenten von Tolbiac zu treffen. Als wir sie ein wenig genauer fragen, warum sie versuchen, einen Teil der Leute in die U-Bahn zu schleppen, anstatt sie die Straße nehmen zu lassen, geben sie schließlich deutlich zu, dass sie den Zug spalten wollen, um die angeblichen „Randalierer“ unter den Schülern zu isolieren – eigentlich alle, die keine eingetragenen Mitglieder sind und sich nicht von den Verstärkern dieser Trottel führen lassen. Nachdem deren kleine Manipulation schnell ausgeräumt war, setzt sich der Zug mit mehreren hundert vermummten Personen, Rauchbomben und Knallern in Bewegung. Es regnet immer noch; viele K-Way-Regenjacken.

Die Bullen sperren die Rue du Faubourg Saint-Antoine ab; es wird also über die Diderot gehen, mit der Falle des Gare de Lyon am Ende. Seit der letzten Demo spürt man, dass die Taktikexperten des Innenministeriums nicht untätig waren. Sie breiten sich schnell aus, versuchen die Demo einzukreisen, bilden um sie herum eine Art mobilen Kessel. Vor der Spitze des Zuges sind Bullenlinien in Kontaktweite, die rückwärts gehen und Beschimpfungen einstecken müssen, während sie uns angucken. Die Zivis sind da; sie sind hungrig, aber tun nicht viel. Die Scharmützel gehen schnell los; Eier, Flaschen, mit Farbe gefüllte Feuerlöscher; Steine und Straßenpflaster; Stöcke, Schilder und Fahnen. Die Lage ist konfus. Jede Kreuzung zwingt die Bullen dazu, seitwärts zu laufen, um die Straßen zu sperren. Sie gehen in die eine Richtung und dann in eine andere, sie sprühen Gas, was das Chaos verstärkt und beinahe den Zug teilt. Dieser kann sich jedoch reformieren; wir halten trotz allem stand und immer noch im Regen kommen wir am Gare de Lyon an. Es gibt überall Absperrungen, riesige Wartehäuschen, die den Zug teilen, Tunnel, Brücken und vor allem den Vorplatz des Bahnhofs. Wir versuchen, den Vorplatz zu stürmen; die Bullen erwarten uns, kreisen die Leute ein, bringen sie dazu, eine zwei Meter hohe Brüstung runter zu springen, um auf die Demoroute zurückzukehren. Wir helfen uns gegenseitig, um das Hindernis zu überschreiten, um zusammen zurückzukommen. Wir gehen weiter; das Steinewerfen geht weiter, manchmal mit Freundesbeschuß. (Rückt vor, um zu werfen, verdammt!) Die Bullen sprühen nochmal Gas, gerade als wir in Sichtweite des Flusses kommen. Wir treiben sie, wir rücken vor und finden uns auf der Austerlitz-Brücke wieder, gedrängt, eng zusammengerückt, schließlich an den Seiten frei, mit einer kleinlauten Linie der Bullen vor uns. Einige marschieren alleine vor den Transparenten, werfen Steine, heben sie auf, werfen sie aufs neue. Andere schreien "Ahou, ahou, ahou" und wir greifen an, mehrere Mal. Wir treiben sie, wir schlagen sie, wir beschimpfen sie, Sprechchöre, wir rücken vor. Die CRS fängt an, ihre der Zerstreung dienenden Granaten unter unsere Transparente rollen zu lassen, damit sie zwischen den Beinen der Leute explodieren. Viele Verletzten. Aber der Zug ist mutig. Die Verletzten werden beim Laufen behandelt, diejenigen, die dazu noch in der Lage sind, und wir rücken weiter vor, nach diesem langen, strammen Marsch. Einigen sprechen im Spaß schon von der „Schlacht von Austerlitz“. Nach einer Weile, immer noch unter Beschuß, treten die Bullen beiseite. Wir gehen den Boulevard de l’Hôpital hoch; die Leute der SO-Gewerkschaft befinden sich um die Lastwagen herum, die Würste werden gegrillt und wir durchqueren im Verband den gewerkschaftlichen Zug. Die Lautsprecher der NPA speien die Internationale aus und es regnet immer noch.


Donnerstagnachmittag


Die studentischen Organisationen hatten vor, die Spitze des Zugs zu nehmen; sie tun es, aber langsam schafft der gewerkschaftliche Ordnungsdienst, sie zu verschlucken, sie an die Seite zu drängen, damit sie sich wieder einreihen. Sie tun es. Aber dieses Mal gehen viele Leute – Studenten, Schüler von Paris und aus den Randbezirken, Gewerkschaftler, Entschlossene, Bahnarbeiter, Goodyear-Leute – von sich aus an der SO vorbei und stürzen vor, um die Demo des Vormittags rückwärts zu machen. Die Transparente und die Lautstprecher sind zurück geblieben, aber die Leute sind da. Und das erste Mal seit dem Anfang der Bewegung besteht die Spitze der offiziellen Demonstration aus 3000 Personen, die nichts mit irgendeiner der gewöhnlichen Organisationen zu tun haben, die keinen Vorsänger haben, die nicht da sind, um ein schönes Foto für die erste Seite der Humanité zu machen. Sie sind für die Wut da. Die Spannung ließ von vorne bis hinten der Demonstration niemals nach. Wenn die Auseinandersetzungen auch weniger heftig als am Vormittag sind, fliegen immer noch einigen Geschosse, grundiert von einem permanenten: "Alle hassen die Polizei!". Als die Reihen der CRS einen Meter von uns zurücktreten und einen Reizgasschlag durchführen, reformieren wir uns und rücken verstärkt vor.

Wir gehen unter Spannung wieder über die Brücke, wir kommen wieder an der Gare de Lyon vorbei und an drei verschiedenen Stellen des Zugs brechen Konfrontationen aus, sogar hinter dem Ordnungsdienst. Es ist schwierig, die darauf folgende Stunde geordnet zu erzählen. Immer noch im Regen sind sehr viele vermummt, die Spitze des Zugs hat nicht aufgehört, die CRS zu bedrängen, die selber nicht aufgehört hat, Gas einzusetzen, gelegentlich anzugreifen und immer noch unglaublich nah am Zug blieb. Eine Gruppe ziviler Polizisten (Baqueux) wird durch einen spontanen Angriff vom Fußgängerweg vertrieben, Banken werden attackiert und die Situation wird zunehmend unkontrollierbar. Aber die Spitze des Zugs ist mutig und hält sich, trotz der Versuche, sie aufzulösen. Die Gewerkschaften sind nun komplett überholt, um nicht zu sagen abwesend. Tatsächlich, wie El-Khomri es gesagt hat: es gibt keine einheitliche Gewerkschaftsfront an diesem Tag, dem 31. März. Also müssen wir sie durch etwas anderes ersetzen, durch etwas viel interessanteres: eine merkwürdige Front aus genervten Leute, den Goodyear-Leuten, die Mann gegen Mann mit den Bullen machen, den Bahnarbeitern, die einen Block gegen die Angriffe bilden, steinewerfenden Schülerinnen und Studenten, die stand halten, Musikern, die den Rythmus der Lieder gegen der Regierung bestimmen.

Als wir auf dem Nation ankommen, spannt sich die Stimmung noch mehr an, ein umgefallener Müllkontainer ermöglicht eine ernsthafte Salve; die Bullen schmeißen etwa zehn Gummigeschoßgranaten in die gemischte Menge und verletzen dabei einen alten Mann schwer am Knie. Der Zug schafft es trozdem, vollständig auf dem Nation anzukommen, in einem nicht enden wollenden Regen. Der Platz wird eingekesselt und die Bullen scheinen so unzählbar wie die Pflastersteine des Platzes. Wir sind nass, erschöpft. Ein Lautsprecherwagen, der von einem bewussten Rapper betriebenen wird, fährt mehrmals um dem Platz herum. Wir zerstreuen uns, um vor der Nuit Debout wieder zu Kräfte zu kommen. Am Ende dieses Tages eine einfache Feststellung: Es ist der schönste Tag seit dem 9. März und es hat nicht aufgehört zu regnen. Ein bewölktes Wetter hätte uns das Polizeirevier des XIII. Arrondissement gebracht und die Sonne Solférino [Hauptquartier der Sozialistischen Partei]. Die Gewerschaften waren bedeutungslos, die Bullen zahlreich und die Demontranten entschlossen.
 

Donnerstag Abend


Nuit Debout. Ziemlich viele Leute, eine Vollversammlung, der schwer zu folgen ist, weil sehr zerfahren (aber fröhlich), Essen, Leute, Leute, Leute. Man verliert sich ein wenig innerhalb der Menge, man diskutiert, man trinkt. Das Plenum kommt zum Ende, man macht weiter, bis spät in der Nacht. Einige Leute schauen den Film "Merci patron" ["Danke Chef"]. Wenige Leute bleiben, um da zu übernachten und die Bullen räumen den Platz um 5 Uhr morgens.
Freitag früh

Man erholt sich. Schülerdemo vom Nation zum République. 1000 Personen. Gutes Wetter. Beim Einbiegen in die Rue du Faubourg Saint-Antoine legt sich der Wanderkessel sofort um uns. Mit ein paar kräftigen Stößen aus den Tränengasdosen wird klar gemacht, um was es geht: die Bullen wollen, dass wir mit 10 Wägen vorne und 10 Wägen hinten zu laufen, auf allen Seiten die CRS. Und das ist unverhandelbar. So eilen wir die Strecke entlang, ein wenig müde aber amüsiert von den ununterbrochenen Eierwürfen, die diesem völlig abgeriegelten Marsch seinen Rythmus geben. Die Bullen filmen den Zug bis zum Abwinken aus allen Richtungen. Wir passieren die Arbeiter, die gerade die bei der letzten Demo eingeworfenen Scheiben einer Bank austauschen. Fühlt sich seltsam an. Bei der Ankunft auf dem République – es gibt Applaus von den Balkonen – werden wir auch gefilmt. Die Schüler kippen einen Mülleimer voller Glasflaschen aus, eine Salve von Flaschen fliegt los. Die CRS, die uns gerade in die U-Bahn verfrachten wollten, fahren noch mal in den Haufen. Tränengas, Stöße mit dem Schild, Knüppel: Es trifft die Spitze des Zuges. Eine Schülerin im Krankenhaus. Die Botschaft ist klar: Die Bullen wollen weitere Schülerdemonstrationen abriegeln, und sie fahren die nötigen Mittel dazu auf. Die Herausforderung am Dienstag wird sein, diese Maßnahmen der beweglichen Betreuung zu vereiteln, die dazu dienen, unsere Rufe und Geschosse aufzusaugen und uns brav auf einer vorgegebenen Route halten sollen.
Die Fortsetzung

Freitag abend, zurück zum République. Einige versuchen ein Konzert zu organisieren, aber die Ausrüstung fehlt. Das muss auf morgen warten. Die Aktionskommission der Nuit Debout schlägt die Einrichtung einer ZAD [Zone À Défendre: "Zu verteidigendes Gebiet", Begriff aus der Besetzung in Notre-Dame-des-Landes, als Reaktion auf die Bezeichnung Zone d’Aménagement Différé, Bauentwicklungsgebiet] für einen Monat vor, und die Organisierung von Autoréductions [Kollektivierung von Supermarktbeständen], um den Platz zu versorgen, denn die Polizei verbietet es, Essen mitzubringen. In der langwierigen Diskussion gibt es weniger Zustimmung als in den vielen kleinen Gesprächen, die ruhig „am Rand“ der Vollversammlung kribbeln. Auch diese Nacht wird der Platz um 5 Uhr von der Polizei geräumt. Am Tag danach gibt es zusätzlich zur Vollversammlung ein offenes Mikrofon und ein Electro-Set. Es regnet, aber viele Menschen sind da. Nachts, nach der Abwehr eines armseligen Angriffs von durch die Polizei geschützten Faschos, diskutieren die Besetzer des Platzes bis zum Ende der Nacht, ohne von den Bullen geräumt zu werden.

Der Platz bleibt besetzt.

Wir sehen uns Dienstag morgen, um 11 Uhr am Nation.

Quelle des Originals: https://lundi.am/Paris-est-magique

Quelle der Übersetzung: http://magazinredaktion.tk/paris-magie.php

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bezüglich deines ausdrucks "langweilige gewerkschaftsmärsche" - da gilt es dialektik walten zu lassen, auf benannten märschen sammeln sich prols in beträchtlicher zahl, die das laufende rad stemmen und gleichzeitig auch in der lage sind es anzuhalten, zu zerlegen, neu zuzsammenzusetzen oder womöglich auch einfach nur zu zerstören.

Die angesprochene Dialektik ist zweifellos vorhanden. Die Gewerkschaftsdemos und auch die staatsbürgerlichen nuit debout-Treffen werden von den Jugendlichen als Treffpunkte genutzt, um ihre Aktionen zu starten. Aber Voraussetzung für derlei dialektische Betrachtungen ist, die verschiedenen Pole erst einmal zu benennen. Die Mehrheit der an den Protesten beteiligten "Prols" hat gar nichts anderes vor als die langweiligen Märsche, deshalb sind die krawallbereiten Jugendlichen eine Minderheit.

an die GenossInnen nach Frankreich. Bringen ein paar Riots etwas?

 

Ja, sie geben Menschen in einem Europa der Refaschisierung Hoffnung und Kraft, um sich gegen den alltäglich Wahnsinn zu behaupten und daran festzuhalten, dass ein sozialer menschlicher Fortschritt hin zu Emanzipation, Inklusion , Toleranz und einem guten Leben für Alle weiterhin möglich ist. Sie geben Kraft in durchgedrehten Mehrheitsgesellschaften, die sich wieder nach der Barbarei zu sehnen scheinen. Auch wenn wir diese Kraft vorallem zur Selbstverteidigung und Abwehr eines Neofaschismus brauchen werden, der im Zeitalter der umfassenden Kontrolle Angst machen kann.

 

Paris, Lille, Nantes, Strasbourg.... zeigen, dass die Würfel noch nicht gefallen sind. En avant et Merci beaucoup!