Der schüchterne Botanikstudent aus Toulouse wird von Umweltschützern, Stadtguerilleros und Intellektuellen vereinnahmt / Opfer einer Polizeigranate.
Nun also auch die Gymnasiasten der Pariser Vorstadt Saint-Denis. Auch
sie sind zusammengekommen, um des Toten zu gedenken. Und wie in vielen
anderen französischen Städten haben die Versammelten Rémi Fraisse als
Sinnbild dessen gewürdigt, was sie selbst verfechten. Wer der
Botanikstudent mit dem kaum zu bändigenden Lockenschopf wirklich war,
wer da tatsächlich bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei
durch eine von Gendarmen geschleuderte Schockgranate ums Leben gekommen
ist, interessiert weniger.
Ein Teil der Demonstranten von Saint-Denis trauerte um einen
couragierten Umweltschützer, der im Kampf für die gute Sache, den Stopp
des Staudammprojekts im südfranzösischen Sivens, in der Nacht zum 26.
Oktober sein Leben gegeben habe. Andere, dem Straßenkampf zugetane
Jugendliche huldigten dem 21-Jährigen als Opfer staatlicher Gewalt, das
es zu rächen gelte. Bewaffnet und vermummt suchten sie die Konfrontation
mit den Sicherheitskräften. Autowracks, ausgebrannte Papierkörbe,
zerbrochene Schaufensterscheiben und geplünderte Geschäfte zeugten am
Mittwoch von der Schwere der Auseinandersetzungen.
Zuvor hatten bereits Intellektuelle Fraisse auf den Schild gehoben. Der
Soziologe und Philosoph Edgar Morin etwa pries Fraisse als lebensfrohen
Menschen und arglosen Kommunisten, der sich mit den Opfern einer
schrecklichen Maschinerie zur Plünderung des Planeten solidarisiert
habe.
Tote sind geduldig, und für den Studenten der Hochschule Toulouse gilt
dies ganz besonders – war der aus dem südwestlich der Universitätsstadt
gelegenen Dorf Plaisance-du-Touch stammende Franzose zu Lebzeiten doch
kaum jemandem aufgefallen. Ehemalige Kommilitonen schildern ihn als
still und zurückgezogen. Er gehörte der Organisation "Frankreich, Natur,
Umwelt" (FNE) an, doch die hat von Fraisse wenig mitbekommen.
Versammlungen aller Art waren dem Schüchternen ein Gräuel. Bei einsamen
Streifzügen durch die Natur soll er Bauern und Bauherren gebeten haben,
eine von intensiver Landwirtschaft und Verstädterung bedrohte
Hahnenfußart zu respektieren.
Die Demonstration gegen das Bewässerungsprojekt, die zur blutigen
Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften ausartete, war seine
erste. An jenem Abend hatten sich Gendarmen auf dem Staudammgelände
hinter Gittern verschanzt. Als eine mit Steinen und Stöcken ausgerüstete
Menge näherrückte, warfen die Polizisten Schockgranaten, wie sie in
Frankreich seit Jahren gegen Gruppen gewaltbereiter Demonstranten
eingesetzt werden. Einer der Sprengkörper hat sich nach den Ermittlungen
zwischen Rucksack und Rücken des unerfahrenen Mitläufers verhakt und
ist dort explodiert. Frankreichs Innenminister Bernard hat den Einsatz
der Granaten bis auf Weiteres verboten. Die Eltern von Rémi Fraisse
haben Anzeige wegen vorsätzlicher Tötung erstattet.
Zwei Wochen später scheint ein Märtyrer gleichen Namens den Platz des
Opfers eingenommen zu haben. Und dieser ganz Frankreich geläufige Rémi
Fraisse macht möglich, wovon der leibhaftige nicht zu träumen gewagt
hätte. Das Staudammprojekt ist gestoppt worden und dürfte in der
ursprünglich geplanten Form nicht mehr verwirklicht werden. Frankreichs
Umweltministerin Ségolène Royal hat ein Gutachten eingeholt, wonach das
8,4 Millionen Euro teure Vorhaben finanziell wie ökologisch fragwürdig
ist und obendrein weitaus weniger Bauern zugutekommt, als die
Befürworter behaupten. Die Entscheidung des Regionalparlaments steht
noch aus, doch eine Zustimmung zu den ursprünglichen Plänen gilt als
ausgeschlossen. Außerdem haben Umweltschützer das Baugelände besetzt und
im Namen von Rémi Fraisse gelobt, es nicht zu räumen, bis das
Staudammprojekt endgültig vom Tisch ist.
vereinnahmung...
Ausdruck einer unwissenden und geschichtslosen journalie, deren subjekte die halbwertzeit von sozialen bewegungen und deren, meist dünne aber doch vorhandene, erinnerungsfähigkeit, immer wieder gar zu unbedarft im namen des sozialen friedens konterkarieren. auch carlo war kein "berufsdemonstrant" wie so manch andere und anderer und die antwort geben sie sich ja schon fast selbst. die "erfahrenen" werden nicht so schwer verletzt oder gar getötet. ein lehrbuchbild einer eu demokratie, in der proteste einen pseudo-militärischen erfahrungsschatz benötigen, um nicht in den "less leathal weapons" die körperliche unversehrtheit zu verlieren. wieder schmutzig auch der versuch, alle nun folgenden ereignisse darauf zurückführen zu wollen, das Remi ein symbol ist. ja ist er, aber er steht nicht allein, sondern ist eines von zahlreichen opfern der bullen in frankreich.
die frage muß, wieder einmal, lauten, warum es erst den tod von einem "musterprotestant" "braucht" um soziale brüche in diesem ausmaß zu erzeugen. es erscheint als ob die opfer in den vorstädten nicht die beachtung finden, womöglich weil sie people of color sind.
für eine vertiefung der sozialen brüche und gegen ein vergessen der vielen remis die es in der eu gibt.