Bereits vor dem 18. Febraur wurde dieses Interview mit einem Mitglied der Unabhängige Arbeiter Gewerkschaft durchgeführt. In dem Interview wird auf die allgemeine Situation in der ukrainischen Gesellschaft historisch, politisch und wirtschaftlich eingegangen um zu erklären wie es zu der Situation in der wir uns jetzt befinden kommen konnte. Wir fanden das Interview sehr gut und aufschlussreich und haben es deshalb ins Deutsche übersetzt.
Das Original befindet sich in englisch hier:
http://avtonomia.net/2014/02/20/maidan-contradictions-interview-ukrainian-revolutionary-syndicalist/
Seit Wochen schauen wir auf die ukrainischen Ereignisse und versuchen einzuordnen,
was in Kiev und anderen Städten passiert. Wir haben Texte gelesen,
Kommentare und Interviews und Diskussionen über den Maidan, aber es
haben sich nur immer mehr unbeantwortete Fragen gestellt. Als deshalb
eine Möglichkeit bestand, in Kontakt mit ukrainischen Genoss*innen zu kommen, versuchten wir, diese so gut es ging zu nutzen. Als Ergebnis dieser Bemühungen und dank der Freundlichkeit und Geduld von Denis aus Kiev, Teil der revolutionären syndikalistischen Gruppe Unabhängige Arbeiter Gewerkschaft kam dieses Interview zustande. Hoffentlich kann es euch nützliche Einblicke in die Maidanbewegung und deren Kontext geben.
(Das Interview wurde vor der neuen Phase, die am 18. Februar begann, durchgeführt. Dennoch gibt es einen weiteren Kontext, um die aktuellen Entwicklungen zu verstehen.)
Vratislav:
Fast drei Monate ist es her, dass sich eine Bewegung in der Ukraine
entwickelt hat, welche seitdem sehr breit geworden ist und sich von Kiew
in andere Regionen ausgeweitet hat. Diese bedingte eine langanhaltende
Besetzung des Unabhängigkeits-Platzes
und der umliegenden Gebiete in Kiew, Riots, die Besetzungen oder
Blockaden von administrativen und anderen offiziellen Gebäuden in den
meisten Gebieten des Landes. Sie ist außerdem
bekannt für eine starke Beteiligung rechter Organisationen und eine
weite Verbreitung traditioneller nationalistischer Ideologie unter den
Protestierenden. Diese Bewegung wird "Maidan" oder "Euromaidan" genannt,
nach dem Namen des besetzen Platzes und der anfänglichen Forderung, dass
die ukrainische Regierung das Assoziierungsabkommen mit der EU
unterzeichnen sollte. Allerdings wurde diese Forderung relativ schnell
von einer anderen überschattet - eine viel prominentere Forderung, die es offensichtlich ermöglichte, viel mehr Menschen zu mobilisieren: den Sturz des Präsidenten Yanukovich mit seiner Regierung und des korrupten Staatsapparates. Ist das Bild so ungefähr richtig oder fehlt noch etwas? Ist die pro-EU-Forderung immer noch ein wichtiger
und integraler Bestandteil oder ist sie eher zweitrangig geworden? Ich
meine, wenn der aktuelle Regierungsclan gestürzt wird, wird er von einer
Masse gestürzt, die auf jeden Fall den "westlichen Weg" möchte? Ist die
Maidan-Bewegung in Kiew und überall im Land wirklich einig über die Frage des "Ultra-Euro-Optimismus"?
Denis:
Ja, deine Darstellung ist mehr oder weniger richtig. Aber du solltest
verstehen, dass die Menschen von Anfang an eine sehr eigene Vorstellung
von "Europa" haben. Das Bild ist ein sehr utopisches Ideal - eine
Gesellschaft ohne Korruption, mit hohen Löhnen, sozialer Sicherheit,
Rechtsstaatlichkeit, ehrlichen Politiker*innen, lächelnden Gesichtern,
sauberen Straßen, etc. - das nennen sie "EU". Und wenn mensch versucht, ihnen zu erzählen, dass die EU nichts mit diesem schönen Bild zu tun hat, dass Menschen EU-Fahnen verbrennen und gegen die Sparpolitik protestieren etc., entgegnen sie nur: "Du willst also lieber in Russland leben?" So, ja - von Anfang an war der Protest bestimmt von einem falschen Bewusstsein einer "kulturellen Frage", von nationalistischen ideologischen Mustern, die keinen Raum für die Klassenfrage ließen.
Das ist das Resultat der bürgerlichen kulturellen Hegemonie, mit
Gramscis Worten, und das ist das Hauptproblem, das wir bekämpfen müssen
in den nächsten Jahren (Jahrzehnten) in diesem Land. Aber "Europa" war
niemals das Hauptziel der Protestierenden. Anti-Regierungs- und Anti-Russland-Meinungen waren viel stärker, deshalb haben sie folglich die pro-EU-Rethorik abgelöst nach dem Polizeieinsatz am 1. Dezember und jetzt erinnern sich die meisten Menschen kaum daran, was der ursprüngliche Grund für die Demonstrationen war. Viele Menschen stimmen zu, dass der Begriff "Euromaidan"
mittlerweile anachronistisch ist. Rechte Gruppierungen, die am Anfang
ihre traditionelle Einstellung gegenüber der "liberalen verdorbenen EU"
verstecken mussten, um sich am Protest beteiligen zu können, konstatieren mittlerweile völlig offen, dass sie die EU nicht interessiert, und sie nur das Regime stürzen wollen. Diese Meinung is weithin akzeptiert innerhalb der Protestierenden.
Obwohl es andererseits stimmt, dass
die Ukraine historisch in zwei kulturelle/politische/sprachliche
Bereiche geteilt ist. Der südliche und östliche Teil hat mehr Menschen,
fast die gesamte Industrie, spricht russisch, ist größtenteils loyal zur "pro-russischen" Kultur und Politik-Agenda und nostalgisch in Bezug auf die Sowjetunion. Der Westen und die Zentralukraine sind mehr landwirtschaftlich geprägt und haben weniger Bevölkerung, sprechen mehr ukrainisch und orientieren sich mehr in Richtung
Westen, weg von Russland. Während des letzten Jahrzehnts ist Kiew
politisch vom ersten zum zweiten Teil gewechselt. Diese Teilung ist oft
übertrieben, sogar so weit, dass ein ukrainischer Staat nicht möglich wäre; das stimmt aber nicht: Die Ukraine ist immer
noch mehr ein einiger Nationalstaat als Belgien zum Beispiel. Aber
trotzdem existiert diese Teilung und übrigens ist das der Hauptgrund,
warum die Führungsschicht es bisher nicht geschafft hat, ein autoritäres Regime wie in Russland oder in Belarus zu etablieren: sie garantiert, das kein*e
Politiker*in bisher die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung
hatte. Sie mussten das Gleichgewicht halten und Zugeständnisse an die
schwache Arbeiterklasse machen: die bürgerliche Demokratie wurde
beibehalten und die staatliche Sozialfürsorge ist großzügiger als in Russland.
Betrachten wir all das, können wir zusammenfassen: Die EU-Integration
ist nicht die zentrale Frage der Protestierenden, aber implizit wird
sie als ein Schritt gesehen, welche die "gute" Regierung nach Yanukovich
gehen sollte.
Vratislav: Maidan brachte bestimmte politische Forderungen hervor. Allerdings existiert die politische Sphäre nicht in einem Vakuum, es gibt soziale Verhältnisse in der gleichen Weise, wie es ökonomische gibt. Darum sind die politischen Forderungen des Maidan nicht zufällig, und mich interessiert, welche Art sozial-ökonomischer Realität hinter diesen Forderungen steht. Welche generelle Situation in der Ukraine bringt genau diese Forderungen nach der Absetzung Yanukovichs und gegen die systematische Korruption, die den ganzen Staat durchdringt, hervor?
Denis: Zuerst bedenke die politische Heterogenität der Ukraine,
die ich zuvor beschrieben habe. Diese Teilung wurde durch
Politiker*innen während der letzten Jahre erneuert für ihre eigenen
Zwecke. Zum Beispiel 2009, kurz vor den Präsidentschaftswahlen, initiierte die Partei der Regionen, welche damals Opposition war, einen großen Protest gegen NATO-Manöver auf der Krim. Sie haben auch versprochen, Russisch als Amtssprache einzuführen. 2010, als sie an die Macht gekommen sind, waren die gleichen NATO-Manöver völlig in Ordnung und kein Mensch kümmerte sich um das Thema Sprache - bis 2012,
als sie die Parlamentswahlen gewinnen mussten. Dann verabschiedeten sie
ein Gesetz zum Schutz regionaler und Minderheitensprachen, welches
beide Teile der Bevölkerung aufbrachte: Der russischsprachige Teil, dem auf einmal wieder einfiel, dass er diskriminiert wurde, unterstützte die Partei der Regionen in der Hoffnung,
dass das Gesetz sie schützen würde; der ukrainischsprachige Teil
protestierte heftig gegen "sprachlichen Völkermord". Auf diese Weise
tricksen beide poltische Lager mit diesen Themen und radikalisieren die
Bevölkerung,
die sich von sich aus nicht dafür interessieren würde. Ein Jahr später
erinnerte sich niemand mehr an das "abscheuliche" Sprachengesetz. Es
gibt also immer einen großen Teil der Bevölkerung, der den aktuellen Präsidenten hasst, und nur einen kleinen Aufhänger braucht, um gegen ihn zu protestieren (vor allem seit Kiew, die Hauptstadt, zum "Oppositionsteil" gehört). Diesmal gab es einen solchen Aufhänger: eine EU-Hysterie, die von der Regierung selbst geschürt wurde! Über das ganze Jahr 2013 hinweg redeten sie ständig davon,
dass die Ukraine das Abkommen mit der EU unterzeichnen würde. Sie
hatten die Erwartungen des pro-europäischen Teils der Bevölkerung
geweckt, und als sie plötzlich eine Kehrtwende einlegten, waren die Leute extrem frustriert und wütend. Das brachte alles ins Rollen.
Aber natürlich gibt es auch ganz reale Gründe für die Menschen,
die Regierung zu hassen. Als Yanukovich 2010 Präsident wurde, hat er
auf unbeliebte neo-liberale Reformen gedrängt. Die Gaspreise sind
gestiegen; die Regierung führte Reformen im Gesundheitswesen durch, die schließlich zur Schließung vieler medizinischer Institutionen führen wird und zur Einführung der allgemeinen Krankenversicherung anstelle der bedingungslosen Absicherung; sie haben eine Rentenreform gegen den Willen von 90% der Bevölkerung durchgedrückt (die Anhebung des Rentenalters bei Frauen); es gab den Versuch, ein neues Arbeitsrecht zu erlassen, welches ernsthaft die Rechte der Arbeiter*innen beeinflusst hätte; die Eisenbahn wurde privatisiert; schließlich haben sie noch ein neues Steuerrecht erlassen, welches kleine Unternehmen trifft. Aber letztendlich war dieser Vorstoß nicht besonders erfolgreich
und die Regierung musste ihn zurückziehen. Die Preise für Gas, Strom,
Heizung, Wasser sind auf einem Level stagniert, dass
das niedrigste in Europa und den ehemaligen Sowjetstaaten ist; das
Arbeitsrecht wurde im Parlament begraben; die nächste Stufe der
Rentenreform wurde gestoppt (die Einführung gesetzlicher Rentensparpläne
statt des Solidaritätsprinzips).
Sie haben eingesehen, dass sie mit so wenig Unterstützung mit diesem
Kurs nicht fortfahren können. Aber dennoch, das Gemeinwohl der
Arbeiterklasse als auch die generelle wirtschaftliche Lage lassen zu wünschen übrig, und die Menschen haben allen Grund, einen besseren Lebensstandard zu fordern. Leider werden diese sozialen Missstände in nationalistische Forderungen verpackt.
Schließlich gibt es noch ein bedeutendes Detail. Seit 2010 ist Viktor Yanukovich, der anfänglich nur eine Marionette der Oligarchen war, selbst
ein ehrgeiziger Geschäftsmann geworden. Sein ältester Sohn hat ein
riesiges Vermögen angehäuft; "Die Familie" hat wichtige Positionen in
der Regierung inne, besitzt ein Monopol über die Kontrolle von Finanzströmen und hat angefangen, gegen Rinat Akhmetov, Dmitrie Firtasch und andere Oligarchen, welche diese ursprünglich unterstützten, zu kämpfen. Gewöhnlicherweise mögen die traditionellen Oligarchenclans so etwas nicht, weshalb der aktuelle Protest auch eine Bedeutung für die Elite hat.
Vratislav: Kann man die Forderungen vom Maidan zusammenfassen? Also gibt es Forderungen, die aus der Bewegung kommen und die sie vereint? Gibt es solche klaren und allgemein formulierten Forderungen? Oder sind die politischen Forderungen, die wir sehen und hören können, nur von den Oppositionsparteien vorgegeben, da der Maidan ja eher ein chaotisches Aufgebot individueller Anklagen ist, welche nichtsdestotrotz Yanukovichs korrupten und immer mehr autoritären Staat gemeinsam als Ursache und Gegner ansehen, und sie deswegen gemeinsam mit der parlamentarischen Opposition ihre Stimme erheben können?
Denis: Soweit ich das verstehe, gibt es nur eine einzige Forderung, die praktisch von allen Aktiven auf dem Maidan geteilt wird: Yanukovich loswerden. Das ist tatsächlich der Punkt, an dem alle sozialen Schichten und politischen Lager, die es dort gibt,
zusammenkommen. Natürlich würden die meisten behaupten, dass sie weiter
machen würden, dass sie eine "Säuberung" aller Regierungsstrukturen
wollen, so dass neue Leute nachrücken könnten. Bei genauerem
Hinsehen gibt es ein breites Spektrum von oft gegenläufigen Ansichten.
Also ja, ich denke du hast recht damit, dass die Opposition gerade
daraus Kapital schlägt, dass aktuell aller Hass auf Yanukovich gerichtet ist.
Vratislav: Ich denke, ich kann mir vorstellen, was das europäische Freihandelsabkommen und die IMF-Strukturausgleichsprogramme in der Ukraine verursachen würden. Trotzdem ist es für mich unklar,
worin eine Integration mit Russland münden würde. Was bedeutet die
Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan? Ich habe einen Artikel
von einem linken ukrainischen Journalisten gelesen, der behauptet, die ökonomische und soziale Politik Russlands ist klar neo-liberal? Stimmt das? Wenn das der Fall ist,
wird diese Politik "EurAsia" vereinigen? Vielleicht plus den
autoritären Charakter der Regime in Russland, Belarus und Kasachstan?
Denis: Nun ja, bisher ist die Situation der Arbeiterklasse in der Ukraine signifikant besser als in den von dir erwähnten Ländern - aus den oben beschriebenen Gründen. Und die Integration in die Zollunion bedeutet nur Negatives für die Arbeiter*innen: die Schrauben werden enger gestellt; sowohl die politische Freiheit als auch den Lebensstandard betreffend.
Eigentlich fordern die Regeln der Zollunion die Anpassung der
Arbeitsgesetze - das ist nur ein Beispiel. Die Regierung würde freie
Hand bekommen, um ein autoritäreres Regime zu installieren und niedrigeren Lebensstandard herbeizuführen.
In
der gesamtwirtschaftlichen Dimension würde diese Integration eine
Möglichkeit zur Erneuerung der Firmenverbindungen in der
Hightechindustrie bringen - diese Verbindungen sind seit den 1990ern
unterbrochen. So könnte das vielleicht irgendwann eine stärkere Wirtschaft bewirken,
aber zu schrecklichen Kosten, und nicht nur für die Arbeiter*innen,
sondern auch für das ukrainische Bürgertum. Unser nationales Bürgertum ist viel schächer als der russische Gegenpart und die Integration in die Zollunion würde sie faktisch auslöschen. Deshalb ist diese Idee sehr unbeliebt in der Führungsschicht!
Objektiv
gesehen wäre das optimale Szenario für die ukrainische Wirtschaft, wenn
sie die alte Politik der geopolitischen "Neutralität" weiter verfolgen
würde, ohne die Entscheidung einer Integration in Ost- oder
Weststrukturen. Jede "Entscheidung" wäre ein harter Schlag für den ukrainischen Export und das Wohlergehen der Menschen. Die einzige Frage ist, wieviel Zeit ist noch da für diese Neutralität? Es sieht aus, als ob beide - die EU und Russland - darauf drängen, dass die Ukraine sich entscheidet.
Vratislav: Ich würde sagen, da ist nicht mehr viel Zeit. Es scheint, als hätte die globale Krise die Möglichkeiten für eine kapitalistische Gesellschaft zwischen EU und Russland aufgelöst. Der Umstand, dass die Wirtschaft der Ukraine in einer Rezession ist und seit mehr als einem Jahr am Rand der Zahlungsfähigkeit steht, zeigt, dass jede Regierung diese "geopolitische Entscheidung" treffen muss, um mehr Kredite zu erhalten. Selbst wenn die kapitalistisch orientierte Schicht der Ukraine und ihre Repräsentant*innen einen "Mittelweg" finden würden (Kredite zu akzeptieren von Russland und IMF), scheint es offensichtlich, was du ja bereits gesagt hast, dass
in jedem Fall auch dieser "Mittelweg" mit "neo-liberalen"
Umstrukturierungen einhergehen würde. Die Zeit ist wahrscheinlich vorbei, um vorsichtig und langsam strukturelle Reformen durchzuführen,
um die Wähler*innen nicht abzuschrecken. Was denkst du darüber? Kannst
du uns mehr über die Auswirkungen der Krise in der Ukraine erzählen?
Denis: Ich würde nicht so schnell sein mit dieser Untergangsstimmungs-Prognose. Aus meiner Perspektive ist die Führungsschicht in der Lage, weiter ihre bisherige "Bonapart"-Politik durchzuführen, wenn die globale Ökonomie das zulässt. Sogar 2009, als die Wirtschaft ziemlich bergab ging, und das Einkommen der Bevölkerung sank, hat die Regierung versucht,
das abzufangen (weil die Präsidentschaftswahlen anstanden!). Der
Mindestlohn und die Renten wurden mehrere Male erhöht während dieser
Zeit.
Danach gab es eine gewisse Erholung der Wirtschaft, aber Mitte 2012 erreichte die Ukraine eine neue Stufe der Krise wegen der sinkenden Preise auf den ausländischen Märkten. Die Rezession herrscht mittlerweile seit anderthalb Jahren. Während dieser Zeit hat es die Regierung geschafft,
die Preise auf dem bisherigen Level zu halten und den Mindestlohn
anzuheben. Die nationale Währung wurde erst letzte Woche abgewertet.
Diese Politik erfordert mehr Druck auf die legalen Profite der Kapitalisten, letztes Jahr hat die Regierung Schritte unternommen, um zu unterbinden, dass die großen Unternehmen ihre Profite ins Ausland bringen.
Die Regierung hat auch angefangen, viel zu leihen. Sie erhielten Geld 2008 vom IMF, verweigerten dann aber, die unbeliebten Forderungen umzusetzten. Dennoch nutzen sie die günstigen Trends des ausländischen Geldmarktes und liehen zu Geschäftsbedingungen 2010-2013. Mittlerweile scheint es so, als wäre das bald nicht mehr möglich, da die US-Notenbank ihre Politik monetärer Lockerungen zurückfährt.
Sie haben es geschafft, Geld von Russland zu bekommen ohne offensichtliche Bedingungen. Wenn die Vereinbarungen mit Russland nicht zusammenbrechen vor den Wahlen 2015, dann besteht kein Zweifel daran, dass wenigstens bis dahin die Politik so weiter funktioniert. Aber letztendlich hängt es davon ab, ob die Situation der Internationalen Märkte vorteilhaft für die ukrainische
Wirtschaft ist, was abhängig ist vom Export und Import. Wenn es eine
Besserung 2014 gibt und die Führungsschicht sich durchschlängelt, dann
wird sie weiter machen wie bisher. Andererseits müssen sie drastische
Schritte unternehmen in Richtung Absenkung des Lebensstandards für Arbeiter*innen und neoliberale Angleichungen der Wirtschaft, um die Wirtschaft anzukurbeln und den wachsenden Stapel an Krediten zurück zu zahlen. In diesem Szenario hat der Ukrainische "Wohlfahrtsstaat" dieser Art genau zehn Jahre gelebt, von 2004-2014. Wird das ukrainische Bürgertum stark genug sein, diese Krise auszuhalten und sich nicht Russland oder der EU zu unterwerfen? Das ist eine Frage, die noch keine Antwort hat bislang.
Vratislav: Wenn ich mir die Maidanbewegung ansehe, bin ich immer neugierig, wie die politische und soziale Zusammensetzung ist und wie sie sich entwickelt hat in den letzten zwei Monaten. Du meintest, dass die anfänglichen pro-EU-Protestierenden eher aus der Mittelschicht sind. Hast du damit die Studierenden gemeint? Mittelschicht ist momentan eine moderne, aber auch sehr vage Kategorie. Könntest du das vielleicht ein bisschen mehr konkretisieren, vor allem im ukrainischen Kontext?
Denis: Das hängt von der Zeit ab,
die du meinst. Anfänglich waren die Protestierenden hauptsächlich
Studierende und städtische "Mittelschicht": Kleinbürgertum, Kulturszene,
Büroangestellte. Jetzt hat die soziale Zusammensetzung der
Protestierenden sich auf jeden Fall verändert zu einer mehr allgemeinen. Ich bin mir nicht sicher,
was die genaue Verteilung betrifft, aber zweifellos ist der Protest
mehr "proletarisch" - obwohl der Anteil der Arbeiter*innen immer noch
niedrig ist; und wenn sie vertreten sind, dann als "Ukrainer*innen" oder "Staatsbürger*innen",
aber nicht als "Arbeiter*innen". Das Leben in Kiew geht auch weiter wie
bisher, kein Mensch streikt oder so. Generell geht der Protest durch
alle Schichten: das schließt auch arbeitlose Menschen ein, genauso wie den Firmenchef von Microsoft Ukraine.
Vratislav:
Medienkommentatoren beschrieben ursprünglich die eigentlichen
Novemberprotestierenden als politisch liberal, die für demokratischen
Pluralismus, Multikulturalimus etc. stehen. Stimmst du dieser Beschreibung zu?
Denis: Auf jeden Fall nicht Multikulturalismus! Ich denke, heute ist allen bewusst, welche Rolle die Rechte in dem Protest inne hat. Sie ist nicht so allgegenwärtig, wie manch eine*r denken mag, aber Fakt ist, dass ihre Ideologie im Mainstream mittlerweile viel weiter verbreitet ist (dem Teil, der ohnehin einen Hang zur Rechten hatte). Zum Beispiel hat Vitali Klitschko erst
vor kurzem (welcher der liberalste von allen drei Oppositionsführern
ist) eine Kampagne gestartet, die heisst "Hab keine Angst. Du bist ein
Ukrainer!" Natürlich sagen die meisten Protestierenden tatsächlich, dass sie politischen Pluralismus, bürgerliche Demokratie wollen anstatt
einer schleichenden Monopolisierung von Macht einer Partei, wie es
gerade ist. Aber zur selben Zeit belebt die Menge auf dem Maidan tief
begrabene anti-moderne, mittelalterliche soziale Praktiken wieder wie Pranger, Lynchen und die Bekräftigung von traditionellen Geschlechterrollen. Diese gruselige Bereitschaft zur Barbarei wird gespeist von der allgemeinen Ernüchterung über die parlamentarische Politik und von dem allgegenwärtigen nationalistischen Mythos über die goldene Vergangenheit, welcher vermittelt wird in der Schule und in den Medien. Beachte mensch, dass die gleichen Sachen auch im anderen Lager vor sich gehen: die sozialen Netzwerke der Riotcops im Internet sind voll mit dem selben Scheiß.
Das ursprüngliche Euromaidan-Programm vom November war liberal, war für die EU, "ökonomische Freiheiten" und bürgerliche Demokratie. Aber dann wurden die Fragen von Multikulturalismus, LGBT-Rechten,
Arbeiter*innenrechten und Freiheit heftig unterdrückt durch das
politische Bewusstsein rechter Aktivisten, die sich an dem Protest
beteiligt hatten, obwohl ihr eigenes Programm immer eine klare Kritik gegen die EU als "liberalen
Faschismus" beinhaltete. Eigentlich kommt der Name "Rechter Sektor"
ursprünglich aus einem der gewaltsamen Zusammenstöße. Die Angreifer
repräsentieren nicht die Mehrheit der Protestierenden, aber die Mehrheit
war sehr empfänglich für ihre politische Agenda und sie haben diese
sehr agressiv durchgedrückt.
Vratislav:
Können wir sagen, dass nach dem ersten Polizeiübergiff die
Arbeiterklasse sich am Maidan beteiligte? Ich kann mir vorstellen, dass
alle arbeitenden Menschen den Maidan besuchen nach ihrer Arbeitszeit
oder dem Studium: Menschen mit festen Jobs, mit prekären
Arbeitsbedingungen, junge und alte, Männer und Frauen. Bildet irgendeine
dieser Kategorien jetzt eine Mehrheit auf dem Maidan? Und wer sind die
Menschen, die den Maidan dauerhaft bewohnen? Sind das Arbeitslose oder Gelegenheitsarbeiter*innen, die während des Winters arbeitslos sind, oder Obdachlose?
Denis: Also erstens kannst du nicht sagen, die "Arbeiterklasse" übernimmt den Maidan. Ja, die Menge der Arbeiter*innen hat zugenommen, aber wie gesagt, sie nehmen sich selbst nicht als soziale Kategorie der Arbeiter*innen wahr, für sie ist diese Kategorie nicht relevant. Das ist keine "Klasse für sich" auf dem Maidan. Und die Mehrheit der Arbeitnehmer*innen in Kiew ist eher apathisch - ich meine, du kannst nicht sicher sein, dass Menschen, die du auf den Straßen triffst, den Maidan unterstützen. Wie ich gesagt habe, momentan sind "alle" auf dem Maidan. Die Mehrheit, denke ich, sind immer noch Studierende und Kleinbürgertum plus Proletarier aus der Westukraine. Das gilt auf jeden Fall
für die, die dauerhaft auf dem Maidan sind. Obdachlose Menschen werden
immer angesprochen von kostenlosem Essen und Wärme, aber sie werden
nicht gern gesehen von den meisten Aktivisten.
---
Vratislav:
Wie hat der minimale "Zustrom" von Arbeiter*innen (wenn wir sie jetzt
auf der Grundlage des kapitalistischen Verhältnisses von Ausbeutung und
nicht nach ihrem Bewusstsein
identifizieren) die politische Landschaft auf dem Maidan verändert? Sie
veränderten den Protest hin zu einem Anti-Regierungskampf, denke ich? Aber was noch? Sind das die zahlreichen Unterstützer*innen von Nationalismus und rechten Ideologien, die den Einfluss von Svoboda und anderen faschistischen Organisationen vorangetrieben haben?
Denis: Ja, die Proteste wendeten sich mehr gegen die Regierung und für Demokratie, besonders nach den Gesetzen
vom 16. Januar. Die meisten Menschen waren erschrocken über diese
autoritäre Drohung, das waren ihre Hauptbedenken. Und nein, ich würde
nicht sagen, dass die meisten Unterstützer*innen der nationalistischen und rechten Gruppen Arbeiter*innen sind. Es sind die Intellektuellen und insbesondere
Studierende. Deshalb hat die "Demokratisierung" der Zusammensetzung der
Protestierenden zu einer vorübergehenden Schwächung der Nazis geführt.
Obwohl langfristig gesehen die rechte politische Hegemonie stärker geworden ist, wenngleich die hardcore-Nazis zahlenmäßig jetzt weniger sein dürften.
Vratislav: Das ist interessant, was du gerade
gesagt hast, dass Studierende und gebildete Leute Anhänger von
ukrainischen Faschisten und Ultra-Nationalisten sind. Kannst du Gründe
für dieses Phänomen nennen?
Denis: Ich denke, es passt gut zur klassischen marxistischen Analyse von Faschismus, oder? In der Tat sind in Kiew die Intellektuellen und das Kleinbürgertum die großen sozialen Kräfte, die den ukrainischen
Nationalismus unterstützen. In den westlichen Regionen der Ukraine hat
Svoboda eher ein proletarisches Wählerpotential, aber in Kiew gewannen
sie 2012 eine Rekordanzahl an Stimmen unter den Intellektuellen, die
ernüchtert waren von der "systemischen" parlamentarischen Opposition und
das Verlangen hatten, mal was "radikaleres" auszuprobieren. Und seit die allgemeine Meinung
auf nationalistischen fundamentalen Anschauungen basiert, findet eine
Radikalisierung in diese Richtung statt. Währenddessen sind die
Arbeiter*innen immer noch apathisch, und vertrauen teilweise den großen bürgerlichen Parteien.
Vratislav: Tatsächlich habe ich vor kurzem eine Analyse gelesen über die Maidanproteste von einem tschechischen Linken, der sich mit der Ukraine beschäftigt. Er behauptet, dass die Protestierenden "in erster Linie Mittelschicht" sind, was bedeutet,
ein Protest von "relativ gebildeten und erfolgreichen Menschen",
während die "radikale Rechte eher die Stimme der ärmeren Schicht der
ukrainischen Bevölkerung repräsentiert". Er sagte auch, dass "eine
Schicht von Intellektuellen, Schriftsteller*innen, Künstler*innen, die
andererseits die lauteste Stimme der Protestierenden repräsentiert,
keinen Einfluss" hat auf die Ultra-Rechten.
Deine Darstellung beschreibt das komplette Gegenteil, jedenfalls was
die Faschisten betrifft, oder? Was hat es auf sich mit der Beschreibung,
dass der Maidan in "erster Linie Mittelschicht" ist? Wäre das in deiner Sicht eine richtige Beschreibung?
Denis: Ich würde zustimmen, dass die "Mittelschicht" eine führende Rolle in den Protesten spielt - sie stellen sich als die Stimme der Protestierenden dar, auch wenn sie zahlenmässig nicht
dominieren (Ich bin mir nicht sicher über die Verteilung in diesen
Tagen, seit Anfang Dezember gab es keine soziologischen Erhebungen). Auf
jeden Fall beanspruchen Kiews Intellektuelle und das Bürgertum, nicht nur für sich zu sprechen, sondern auch für alle anderen, und es gibt keine Menschen, die diesen Anspruch in Frage stellen.
Haben sie Einfluss auf die Ultra-Rechten? Umgekehrt eigentlich. Was ich versucht habe zu erklären: die Rechten sind nicht vom Himmel gefallen, sie sind ein Produkt objektiver historischer
Faktoren und der Politik der Führungsschicht im weiteren Sinne. Sie
haben sich zu einem sich selbst erhaltenden politischen Subjekt
entwickelt, in der Lage, eine eigene Agenda zu verfolgen und ihre kulturelle Hegemonie auszuweiten.
In
den westlichen Regionen wird Svoboda als die proletarische Partei
wahrgenommen, eine politische Stimme der Arbeiterklasse. Ich denke, das
ist das, worüber dein Autor geschrieben hat. Das ist durch die letzten Parlamentswahlen bestätigt. In den östlichen Regionen ist
solch eine "proletarische Partei" die "Kommunistische" Partei der
Ukraine. Natürlich repräsentiert keine die Arbeiter*innen in irgend
einer Weise, das ist nur ein Bild von subjektiven Sympathien der Arbeiter*innen.
Während
dessen ist Kiew eine "traditionelle Zone" zwischen diesen beiden
Makrogebieten. Hier in Kiew hatte kein Mensch mit diesem riesigen Erfolg
von Svoboda bei den Wahlen 2012 gerechnet. Und die meisten Wähler*innen
von Svoboda stellten sich als die "gute Allgemeinheit" heraus : die gebildete und relativ gut situierte "Mittelschicht", die die aktuelle Lage hasst und mit den "kommunistischen" Überbleibseln verbindet. Die denkt, die EU sei eine Fantasiewelt, in der persönliche Tugenden mit materiellem Erfolg belohnt werden. Die über "einheimische Besatzung"
durch anti-nationale Elemente spricht. Die überwiegend russisch
spricht, aber sich einem ukrainischen Nationalismus hingibt.
Für diese Leute ist Politik neu, sie "wissen" nur, dass sie Rechte und Nationalisten sind. Und daher vertrauen sie auf die politisch erfahreneren Anführer*innen, um ihre Sicht zu zum Ausdruck zu bringen und ihre Programme für sie zu entwerfen. Es passiert einfach, dass diese führenden Personen dann Nationalisten oder sogar Nazis sind. Und so verschieben sie das Zentrum des politischen Diskurses nach rechts.
Das ist das politische Portrait der Mittelklasse-Mehrheit des Maidan. Das passiert, wenn sich keine keine linke Bewegung entwickeln konnte und die Liberalen alle so korrupt und furchtbar sind.
Vratislav: Du hast bereits erwähnt, dass es auch einen bedeutenden Teil von Kleinbürgertum gibt und sogar Bürgerliche daran teilnehmen. All die parlamentarischen Oppositions-Führer*innen und ihre Oligarchen-Freunde;
von daher haben wir eine sehr breite Bewegung mit einer Minderheit im
Spektrum der Arbeiter*innen, richtig? Wie sind nun die politischen
Perspektiven verteilt in dieser Masse? Ich habe gelesen, dass die Ultra-Rechten in der Minderheit sind innerhalb der Bewegung, aber trotzdem eine bedeutende. Kannst du eine ungefähre Schätzung machen, wie groß diese Minderheit ist und erklären, warum sie so bedeutend ist? Und was ist mit den Liberalen? Wieviele sind die denn, und welche Bedeutung haben sie in der Bewegung? Ich meine, was die Praxis betrifft.
Denis: Die
Ukraine hat ein großes Problem mit Liberalen - sie existieren nicht als
unabhängige starke politische Strömung. Beide politischen Lager werden
dominiert von rechtspopulistischen Ideologien - ein wilder Mix von
Konservatismus und Nationalismus. Das ist das größte Problem, weil die
eigentliche Zahl an ultra-rechten Aktivisten gar nicht so groß ist, sie ist sogar klein im Vergleich zu der Menge, die manchmal aus 100tausend oder sogar mehr bestand; das Mobilisierungspotential in der gesamten Ukraine beträgt so ein- bis
zweitausend. Aber erstens werden ihre Ideen positiv von der
unpolitischen Menge aufgenommen und zweitens sind sie sehr gut
organisiert, und außerdem mögen die Leute ihre "Radikalität". Der*die durchschnittliche ukrainische Arbeiter*in hasst die Polizei und die Regierung,
würde aber nicht offen gegen sie kämpfen und den eigenen Komfort
riskieren. Deshalb begrüßen sie so einen Vorreiter, der in ihrem
Interesse kämpft; besonders wenn dieser Vorreiter "gute" patriotische
Werte teilt.
Nichtsdestotrotz
gibt es eine Distanz zwischen Nazikämpfern und "normalen"
Protestierenden, sogar eine physische. Die ersteren sammeln sich an der
Grushevskogo-Straße, an den Barrikaden, während die normalen "Staatsbürger*innen" auf dem Maidan stehen.
Es
gibt eine gewisse (eher kleinere) Anzahl von Liberalen, die keine
Rechten unterstützen. Einige von ihnen haben sogar einen Protest gegen
den Bandera-Fackel-Marsch
organisiert. Andere Liberale stehen hinter den Oppositionsführer*innen,
aber die Opposition ist ziemlich unpopulär unter den Protestierenden.
Ich würde sagen:
die prinzipielle Stimmung ist patriotisch, sogar nationalistisch, aber
viele Menschen unterstützen die Nazis nicht und verstehen sie als
Provokateure.
Vratislav: Nach all dem was du bisher gesagt hast, sieht es so aus,
als ob sich die Menge der Protetierenden irgendwo zwischen rechten
Populisten, verschleiert als Liberale, und Faschisten befindet; sie
identifizieren sich mit keiner der zwei Pole der so genannten nationalen
Opposition, aber zur selben Zeit fühlen sie sich pro-national und
pro-demokratisch und alle diese drei politischen Strömungen vereint, dass sie gegen Yanukovich sind. Stimmt das so?
Denis: Das ist richtig!
Abgesehen von den parlamentarischen Liberalen: die versuchen,
sich selbst als linke Populisten darzustellen. Sonst kannst du keine
Unterstützung von der Arbeiterklasse bekommen. Deshalb hat jede größere
parlamentarische Kraft einen rechten liberalen Flügel, der immer für
Sparpolitik und liberale Reformen argumentiert und einen linken
populistischen Flügel, der mehr Almosen für die verarmte Bevölkerung von
der Regierung fordert. Die erste davon erlangt meistens die Oberhand, wenn sie an der Regierung ist
und keine Wahlen in Sicht sind; die zweite hat in der Rolle als
Opposition oder bei den Wahlen eine herausragendere Rolle. Das Resultat
dieser Parteien des großen Bürgertums ist ein lächerliches Manövrieren: zum Beispiel hat Arseniy Yatseniuk von der Batkivschyna-Partei auf einem Treffen auf dem Maidan gesagt, dass die Ukraine so schnell wie möglich alle Forderungen des IMF erfüllen sollte. Und eine Woche später sagt er, dass Russland jetzt einen Gas-Rabatt
gegeben hat und Yanukovich die Prozente der Gaspreise (die bereits
stark subventioniert sind) angleichen muss für die Bevölkerung.
Vratislav: Es ist offensichtlich, dass konservative Perspektiven eine wichtige Rolle spielen im Bewusstsein eines großen Teils der ukrainischen Bevölkerung. Wo finden wir historische und soziale Ursachen für diesen Konservatismus?
Denis: Ja, ich habe schon über die gruseligen archaischen Muster geschrieben,
die auf dem Maidan wiederbelebt wurden. Auch über die Gründe: während
der letzten 20 Jahre war die humanitäre Politik des Staates in den
Händen von Nationalisten. Und die haben eine Generation erzogen, die kein Problem hat mit Sprüchen wie "Die Ukraine für Ukrainer" oder "Die Ukraine über alles", mit dem Gedanken an einen "Genpool
der Nation". Auch die Traditionen und die "heroische" Geschichte werden
als etwas Gutes bewertet. Die aktuelle Lage und die sowjetische
Erfahrung leugnend, Befürchtungen hegend gegenüber progressiven Elementen der EU-Idee (wie Toleranz gegenüber LGBT, Popularität der linken Idee), halten sie sich gern an all die erfundenen Traditionen, die ihnen in der Schule gelehrt wurden.
Vratislav: Wäre es plausibel, eine Ursache für den Konservatismus auch in der Tatsache zu sehen, dass nach der initialen "Schock-Therapie" in den 1990iger Jahren die kapitalistische Restrukturierung ihren Schwung verlor und seitdem die Ukraine dazu neigte, zu einer "Welt für sich" zu werden, versuchend, einen gewissen sozialen Standard zu halten, möglicherweise, um eine Explosion so vieler Widersprüche (Klassen, Nation, Geopolitik, Ökonomie etc.) zu vermeiden, die sich überlagern in der ukrainischen
Gesellschaft? In einem solchen Kontext defensiver Zurückhaltung vom
globalen Liberalisierungsprozess würde ein weit verbreiteter und starker
konservativer Nationalismus, welcher unhinterfragt die "glorreiche"
Geschichte feiert, scheinbar Sinn machen.
Denis:
Ich weiß nicht viel über diese Restrukturierung, wie sie in
"Musterländern" wie der Tschechischen Republik gelaufen ist, aber haben wir nicht auch dort ein Wiedererstarken von konservativen Werten und nationalistischen Traditionen? So weit ich weiß,
ist das nicht nur ein Problem in der Ukraine oder Russland, sondern
auch in Ländern wie Polen, Ungarn, Rumänien und der ehemals
Jugoslawischen Republik. Ich würde das anders erklären: Der Crash des
"Realsozialismus" brachte auch einen Crash von progressiven Werten mit
sich, die in der Gesellschaft offiziell gefördert
wurden (Atheismus, Feminismus, Internationalismus). Die Lücke wurde
prompt mit einer wilden Mixtur aus Nationalismus und Konservatismus (und
New-Age-Sektenphilosophie, was das betrifft)gefüllt.
Diese Verlagerung wurde unterstützt durch den staatlichen ideologischen
Apparat. Tatsächlich wurden in vielen Universitäten zu Beginn der
1990iger Jahre die Lehrstühle des "wissenschaftlichen Kommunismus"
umgewandelt in einen "wissenschaftlichen Nationalismus"! Wenngleich später Politikwissenschafts-Lehrstühle daraus wurden. Diese Situation ist in
verschiedener Hinsicht ähnlich zu der Welle des Konservatismus und
Islamismus, wie er in den Ländern des Mittleren Ostens nach dem
Niedergang der modernisierenden bürgerlichen Diktaturen und der
gegnerischen sozialistischen Idee zu
finden ist. Meine Hypothese ist, dass die Stärke dieses Prozesses mit
dem Grad an Urbanisierung korreliert, der in einem Land vorhanden ist:
je größer der Anteil an Stadtbewohner_innen ist, desto kleiner ist die
Wahrscheinlichkeit für so einen rückschrittlichen Konservatismus vor
allem in der Tiefe. Es stimmt, dass es eine Zeit gab, in der westliche
liberale Ideen dominierten in den 1990igern. Dies war allerdings in dem
Moment vorbei, als der Staat seine Positionen wieder besetzte und die
Gesellschaft sich nach dem initialen Schock stabilisiert hatte.
Vratislav: Lass uns noch einmal auf die ultra-rechten Kräfte zurückkommen. Wie pro- oder antieuropäisch ist Svoboda?
Ich habe bisher eher widersprüchliche Informationen. Steht es wirklich
schon fest, dass Tyanhnyboh und seine Fraktion die IWF-Sparprogramme umsetzen will, für den Fall, dass die Bewegung Yanukovich stürzen und die heutige Opposition im Parlament eine neue pro-westliche Regierung stellen wird? Wäre das nicht politischer Selbstmord?
Denis:
Wie ich schon gesagt habe, sie behandeln die EU-Integration rein
pragmatisch, populistisch. Es widerspricht ihrem Progamm, aber sie
(Swoboda) werden das so lange unterstützen, wie es wichtig für die
Massen ist. Für den Fall, die Opposition gewinnt, werden die rechten Liberalen die Austeritätsprogramme vorantreiben und Svoboda
wird wahrscheinlich seine Partner kritisieren. Normalerweise sind sie
sehr sensibel, wenn es um sozio-ökonomische Themen geht, "verteidigen"
die Arbeiter. Aber letzten Endes ist es das alte Dilemma der Hitler- und Strasser-Anhänger. Und es gibt keinen Zweifel, dass die Ersteren die Letzteren besiegen werden. Tatsächlich gab es bereits eine Generation von Strasser-Aktivisten in den Reihen von Svoboda, die erst vor kurzem vertrieben wurden; jetzt kämpfen sie zusammen mit Svoboda in Lviv. Offensichtlich ist es so, dass, wenn Svoboda an einem Punkt in der Geschichte die Macht im Land stellt, sie ihren historischen Vorgängern folgen werden.
Vratislav: Wenn ich mir die Ukrainische Bewegung anschaue, kann ich mich des Eindrucks
nicht erwehren, dass hier einige wichtige Charakteristiken zweier
verschiedener Momente globaler Klassenkämpfe aufeinandertreffen. Auf der
einen Seite, ich kann mir nicht helfen, erinnert das an die Ungarischen
Riots 2005 und 2006. Das war noch vor dem Beginn der globalen Krise,
allerdings erlebte Ungarn damals schon den finanziellen Kollaps und
junge Faschisten stießen eine Bewegung an, die letzten Endes zu Orbans neoliberaler Regierung führte, unterstützt von Jobbik. Auf der anderen Seite sind da aber auch Ähnlichkeiten zwischen dem Maidan und indigenen
Protesten, Occupy oder Bewegungen des Arabischen Frühlings, in ihren
Formen und in ihren Inhalten. Arbeiter_innen werden durch die sozialen
und ökonomischen Missstände mobilisiert, aber sie kämpfen nicht direkt
auf dieser Basis. Sie scheinen die soziale Realität ihres Lebens zu ignorieren und kommen nur dann zusammen auf ein politisches
Terrain, als unzufriedene und wütende nationale Gemeinschaft oder
irgendwas dazwischen. Was denkst Du über dieses Bild, basierend auf
deinen konkreten Erfahrungen auf dem Maidan?
Denis:
Ja das ist eine sehr exakte Beschreibung. Das ist eine gute Parallele
zu Ungarn 2006. Aber ich würde die ukrainischen Proteste nicht mit den
spanischen indignados vergleichen, weil in der spanischen Gesellschaft eine zentral-linke kulturelle Hegemonie existiert, anders als in der Ukraine. Das gleiche gilt für Occupy:
auch wenn diese Bewegung konfus ist - der mainstream war links-liberal.
Eine gute Parallele ist allerdings Ägypten: Wir haben dort gesehen, wie
ein progressiver revolutionärer Impuls Mubarak zu Fall brachte, aber
dann übernahmen die Islamisten die Proteste, monopolisierten die Revolution und spalteten die Massen. Schließlich verschreckten sie die Bevölkerung zurück in die Hände des alten Regimes. Die Ukrainische Svoboda
und andere Faschisten haben viele Gemeinsamkeiten mit den Muslimbrüdern
und anderen Islamisten. Sie sind "die" Opposition zum verhassten
Regime; aber sie können (hoffentlich) nicht alle Protestierenden unter
ihrem Banner vereinen. Andererseits sind die protestierenden Menschen sehr wütend, aber sie haben keine eigene Sprache, um das auszudrücken und leihen sich daher die Sprache der prominentesten Gruppe. Sie sind nicht bereit,
sich anhand von Klassenkonflikten zu organisieren, sie präsentieren
sich selbst als eine "Nation" (oder "Umma", wie in Ägypten). Außer dem
Umstand, dass Ägypten homogener ist; es hat nicht die "andere Seite des Landes", welche loyal zu Mubarak gewesen wäre. Wenn wir die mal die Existenz des Südens und des Ostens beiseite
lassen, dann können wir sagen, dass die bürgerliche Politik mehr der in
Ungarn ähnelt. In der Zentral- und Westukraine sind die rechten
liberalen Populisten stärker (Batkivschyna), welche kleinere und noch radikalere Verbündete (Svoboda) haben - genau wie Fidesz und Jobbik.
Vratislav:
Es scheint so, dass der Kampf gegen korrupte Regierungen und/oder
korrupte Geschäftsleute etwas ist, was den Maidan mit anderen
Straßenprotesten verbindet. Ich würde sagen, dass der Kampf gegen Yanukovichs "Familie", die den Staat besetzt hat, gegen die schützende Polizei und das korrupte System selbst und für ein Ideal von einer "westlichen" Demokratie der ukrainische Weg eines Kampfes um eine "echte Demokratie" ist? Ist das richtig?
Denis: Genau so ist es. Ich wüsste nicht, wie ich das noch ergänzen soll.
Vratislav:
Der Maidan als soziale Einheit muss seine eigene Reproduktion
bewältigen, seine eigene Infrastruktur, Verteidigung etc. organisieren,
wie in Oakland oder auf dem Tahrir. Es wäre toll, wenn Du uns ein
bisschen über diesen wichtigen Aspekt erzählen würdest und uns
beschreibst, wie sich das innere Leben des Maidan aufrecht erhält und organisiert.
Denis: So weit wie ich das verstehe, wird jede potentielle Selbstorganisierung des Maidan ersetzt durch die organisierten Strukturen der rechten politischen Kräfte. Svoboda, der Rechte Sektor und Spilna Sprava besetzen Gebäude und managen den Alltag. Die parlamentarische Opposition hat in diesen Angelegenheiten auch etwas zu sagen; ohnehin
hängt alles stark von der Führung ab, welche die jetzigen etablierten
politischen Strukturen repräsentieren. Zum Beispiel gibt es die sotnias – “Hundertschaften”, welche die Verteidigungseinheiten sind. Früher unterstanden sie alle dem Kommando von Andriy Parubiy - einer der Gründungsmitglieder der Sozialistischen Nationalistischen Partei der Ukraine, die jetzt Svoboda genannt wird, und der jetzt ein Mitglied der Batkivschyna ist. In Wirklichkeit sind dort Einheiten, die weder Parubiy oder gar Svoboda folgen (wie der Rechte Sektor), aber ohnehin ist schon das Bestehen "nicht genehmigter" Einheiten an sich fragwürdig. Dasselbe gilt für andere Fragen: Essen, Feuerholz, Petroleum, Behelfswaffen. Du kannst herumlaufen und Geld sammeln für diese Zwecke, aber du musst 70% an die "Chefs" abgeben, die wissen werden, wie das Geld verwendet wird. Es gibt einen Raum für Selbstorganisierung,
aber der ist sehr klein. Grundlegende Sachen tauchen einfach auf in der
Wahrnehmung für normale Leute, einfache Leute nehmen nicht teil an Entscheidungsfindungen. Selbst wenn du zu einer eigenen "sotnia" gehörst; diese kann unabhängig sein im Verwalten ihres eigenen Geldes und ihrer Ressourcen. Alles hängt von der Struktur und dem Verhältnis der jeweiligen Einheit ab.
Vratislav: Während beispielsweise die indignados politische Parteien bei Besetzungen ausgeschlossen haben, sind beim Maidan die Oppositions-Parteien sehr präsent, mitten im Herzen; die Selbsterhaltung des Maidan ist abhängig von Batkivschyna, UDAR, Swoboda und deren eigene Strukturen und Ressourcen. Außerdem sagtest du, dass es keine Versammlungen auf dem Maidan gibt. Während dem Zusammensein und dem Kämpfen der letzten zwei Monate auf dem Maidan, haben die Teilnehmer*innen keine eigenen Möglichkeiten geschaffen,
ihre Meinung zu bilden. Warum ist das so? Weil Entscheidungen bei den
Oppositionsparteien und deren Hierarchie gebildet wurden? In anderen
Interviews hast du auch darauf hingewiesen, dass es eine Dichotomie
(Gegensätzlichkeit) zwischen "der Menge" und den Politiker*innen gibt.
Wie konnte diese Gegensätzlichkeit entstehen und wie drückt sie sich
aus?
Denis: Ich
denke ich habe deine Frage teilweise weiter oben schon beantwortet. Ja,
die Oppositionsparteien sind nicht sehr beliebt unter den Leuten auf
dem Maidan, sie gelten als Opportunisten, die ihre eigenen Interessen verfolgen und bereit sind, die Protestbewegung zu hintergehen. Aber tatsächlich sind sie es,
die die Infrastruktur des Maidan aufrechterhalten und die momentan die
Entscheidungen treffen. Tatsächlich gab es keine Versammlungen oder
andere Formen kollektiver Entscheidungsfindung. Vielleicht ist in
gewisser Hinsicht diese paradoxe Situation ein Spiegel der Gesellschaft
als Ganzes mit ihrer paternalistischen Haltung und sozialen Passivität: es ist angenehm, Chefs zu hassen, aber sie die Dinge machen zu lassen, die sie tun!
Vratislav: Folgt man allerdings der kleinen Analyse der Weißrussischen Anarchisten auf der Revolutionswebsite, so scheint es,
dass in den Regionen außerhalb Kiews, besonders in Lviv und Sumy, der
Widerspruch zwischen den Protestierenden und den Politiker*innen tiefer
und deutlicher artikuliert ist.
Sehr schnell einigte man sich auf ein erarbeitetes Konzept eines
"apolitischen Protestes" (ohne Vorrang von Politiker*innen vor zivilen
Aktivist*innen). In Sumy, so sagen sie, gab es eine Versammlung, die einen sogenannten regionalen "Nationalen Rat" wählte; sie richteten Bezirks National Räte ein, um lokalen Politiker*innen zu kontrollieren und wegen Korruption zu ermitteln und um "Bürger-Miliz"-Einheiten zu organisieren. Sie beschreiben den selben Prozess in Lviv und berufen sich auf den örtlichen "Kommandeur Sokolov", der meinte, die Nationalräte würden übernehmen und würden ihre Exekutiv-Kommitees wählen, während Politiker*innen davon ausgeschlossen würden,
weil ihnen die Menschen nicht mehr trauen. Kannst Du uns diese
Entwicklung ein bisschen mehr erklären oder sie vielleicht ein bisschen
einordnen?
Denis: So weit ich weiß, bestehen diese "Nationalräte" gewöhnlich aus selbsternannten Parteiaktivisten und Stellvertretern der lokalen und regionalen Verwaltungen. Sie haben versprochen, Wahlen abzuhalten, aber bisher wurden keine transparenten Wahlen organisiert. Der Optimismus der weißrussischen Genoss*innen
beruht auf sehr übertriebenen Annahmen. Diese "Nationalen Räte" würden
es nicht wagen, sich echte Machtbefugnisse anzueignen, sie haben nichts
getan, um die Macht an sich zu reißen und haben kaum ein Gesetz
gebrochen! Es gibt Nachrichten zur Situation in Lviv. Der Vorsitzende
des "Nationalrates" von Lviv, welcher übrigens parallel auch der Vorsitzende der Regionalregierung und ein prominentes Mitglied von Svoboda ist, forderte die Protestierenden auf,
das Gebäude der Regionalverwaltung zu verlassen. Andriy Sokolov, der
Anführer der "Miliz", die Du erwähnt hast, reagierte prompt und räumte
das Gebäude. Also, der "revolutionäre" Nationale Rat war effektiv tot, bevor er irgendetwas tun konnte.
Vratislav: Ich verstehe. Wir haben also sogar in den Regionen das gleiche Bild wie in Kiev:
das Misstrauen der Bewegung gegenüber den politischen Parteien wird
nicht wirklich in ernsthafte Versuche übersetzt, selbst-organisierte
Körperschaften zu formen, die in der Lage wären, die Inhalte der Bewegung authentisch zu artikulieren. Kürzlich habe ich gelesen, dass es einen Versuch verschiedener zivilgesellschaftlicher Projekte und Initiativen gab, die in den Maidan involviert waren, Bürger*innen-Räte
des Maidan als direkten Ausdruck der Bewegung zu organisieren. Aber die
oppositionellen Politiker*innen waren in der Lage, diesen Versuch zu
diskreditieren und zu verhindern. Kannst Du mir mehr über diese
Entwicklung berichten? Wer waren die Leute hinter diesen
Bürger*innenversammlungen? Wie und warum konnten sie so leicht
scheitern?
Denis:
Der "Zivile Rat des Maidan" wurde von verschiedenen prominenten
Menschenrechtsaktivist*innen, Anwält*innen, Stars und NGOs ins Leben
gerufen, welche weder die parlamentarische Opposition noch die
nationalen Kräfte mögen. So weit ich weiß, beteiligte sich auch der Bund
freier Gewerkschaften der Ukraine. Sie haben versucht,
eine liberale (teilweise sogar links-liberale) Alternative in der
Bewegung zu schaffen, die die Relevanz von Menschenrechten, bürgerlichen
Freiheiten, Basisdemokratie vorantreiben wollten. Aber irgendwie
schafften sie es nicht, tatsächlich stark zu werden. Die Initiative war
hauptsächlich virtuell, ohne eine nennenswerte Anzahl von Aktivist*innen
von Rang und Namen in ihren Reihen. Warum ist das so? Die Ursache,
denke ich, ist nicht die clevere Strategie der Opposition, sondern
vielmehr die objektiven Bedingungen, insbesondere der Stand des
öffentlichen Diskurses. Wenn sich jemand oppositionell engagieren
möchte, wird sie sich sehr wahrscheinlich den derzeit "stärkeren"
tapferen nationalistischen Machos und mächtigen Politiker*innen
anschließen. Die Anzahl der Leute, die tatsächlich an einer alternativen
"Zivilgesellschaft" interressiert sind, ist sehr klein; eher ist es so,
dass in diesem Feld alles bereits verbraucht wurde, im Dezember,
nachdem der "zivilgesellschaftliche" Maidan (der Maidan per se) mit dem
"politischen" Maidan (EU-Anhänger*innen) verschmolz. Danach sagten
Politiker*innen viele Dinge darüber, dass man ohne ihre Unterstützung
nichts würde erreichen können. Und bis zu einem gewissen Grad hatten sie
damit Recht! Denn tatsächlich stellten die Parteien viel Material und
Personal.
Vratislav: In einem Interview mit LibCom hast Du erklärt, wie die Oppositionsparteien versucht haben,
den Maidan über seine örtlichen Grenzen hinaus zu tragen und einen
politischen Generalstreik zu proklamieren und wie sie auf das kläglichste
scheiterten. Du hast als Begründung dafür angeführt, dass sie keine
Strukturen hatten, um so etwas zu tun. Trotzdem konnte sich der Maidan
von Kiev
in andere Regionen ausbreiten, aber es scheint wiederum nur als eine
Bewegung von Besetzungen und Riots. Du hast darüber gesprochen, dass zum
Beispiel die Angestellten der öffentlichen Verkehrsbetriebe
auch protestierten. Dieser Protest fand allerdings seinen Weg nicht zum
Maidan und umgekehrt. Und Du hast außerdem beschrieben, dass es die
Ukrainer*innen nicht gewöhnt seien zu streiken. Würdest Du sagen, dass
sich unterm Strich die Ukraine (wie auch die meisten anderen Länder
Mittel- und Osteuropas und viele andere Regionen in der Welt) als
absolut unerfahren in Sachen Arbeitskämpfe charakterisieren lassen? Was
sind deiner Meinung nach die Gründe dafür?
Denis:
Ja, das ist richtig. Es gibt eine ganze Reihe an Theorien, die die
Schwäche der Arbeiter*innenklasse in Osteuropa erklären. Eine der
überzeugensten ist die, dass das historische Erbe der sowjetischen
politischen Kultur wirkt, in der du es gewöhnt warst, dass die Bosse
alles für Dich und an Deiner statt
tun. Der Bund freier Gewerkschaften der Ukraine ist eine Institution
aus dieser Zeit der UdSSR. Offiziell haben sie Millionen von
Mitgliedern, aber es ist in keiner Weise eine militante Organisation zur
Verteidigung der Rechte der Arbeiter*innen. Sie haben gute Anwält*innen
und Verwalter*innen, welche sich an Sozialpartnerschaften beteiligen
und wirklich so viele Konzessionen
wie möglich zu erreichen, aber sie begreifen sich selbst als Co-Manager
in einer korporatistischen Ökonomie, und nicht als Repräsentant*innen
der Arbeiter*innen. Für wirklich unabhängige militante Vereinigungen
sind sie nicht vorhanden. Warum hat sich während der post-sowjetischen
Zeit keine militante Arbeiter*innenbewegung entwickelt? Teilweise
vielleicht wegen der langen und schmerzhaften Wirtschaftskrise. Du
kannst Dich nicht organisieren und streiken, wenn Du davon bedroht bist,
auf der Straße zu landen, und deine Fabrik kurz davor ist zu schließen.
Es gab massive Streiks in den 1990iger Jahren, sicherlich, aber sie
wurden hauptsächlich vom Management nicht-privatisierter Unternehmen organisiert als ein Instrument, um ihre Bosse unter Druck zu setzen. Neue Strukturen und Institutionen, welche eine Basis für eine unabhängige Arbeiter*innenbewegung hätte sein können, tauchten nicht auf. Das alte Muster, deinen Kampf an die Bosse zu delegieren, war so verbreitet. Und der wirtschaftliche Boom der 2000er Jahre war zu kurz, um diese Einstellungen zu verändern.
Vratislav: Okay, kannst Du uns jetzt möglicherweise noch erklären, welche anderen Kämpfe rund um den Maidan stattfinden, oder ob es Versuche gibt, andere Kämpfe mit dem Maidan zu verbinden? Wir haben schon über den Protest der Beschäftigten der Verkehrsbetriebe in Kiev gesprochen. Ich habe auch von einem Studentenstreik in der Kiev-Mohyla-Akademie gelesen. Kannst Du uns vielleicht auch erklären,
wie die Verbindung der radikalen Linken zu beiden, dem Maidan und
anderen Kämpfen ist? Was ist ihre Rolle und ihre Aktivitäten darin? Ich
nehme an, dass es sehr schwierig ist, sich direkt am Maidan
einzubringen, unter dem Einfluss der Faschisten und Ethno-Nationalisten.
Trotzdem habe ich von Anarchist*innen und Feminist*innen gelesen,
welche dort präsent und aktiv waren.
Denis: Die
radikale Linke hat sich bis zu einem gewissen Grad in Bezug auf den
Maidan gespalten. Ein kleinerer Teil erklärte den Protest als vollkommen
reaktionär und lehnte jede Unterstützung ab. Das Problem ist
allerdings, dass sie diese Position in eine regierungstreue Rolle bringt! Das logische Resultat ist die Situation, wo ein Mitglied einer solchen Organisation, Borotba, das regionale Regierungsverwaltungsgebäude in Odessa vor einer Belagerung durch oppositionelle Aktivist*innen verteidigt. Tatsächlich war es so, dass die Besetzung von Neo-Nazis angeführt wurde, unter den Verteidigern sich aber auch Neo-Nazis befanden! Namentlich die lokalen "Cossacks" - paramilitärische Pro-Russische Einheiten.
Ein anderer Teil der Linken hat wiederholt versucht, sich an der Bewegung zu beteiligen, auch nachdem sie wiederholt dort rausgeworfen wurden. Einige der "euro-begeisterten"
Linken kamen zum Maidan im November mit einer roten (anstatt einer
blauen) Flagge der EU, mit Transparenten für eine kostenlose
Gesundheitsversorgung und Bildung, und mit feministischen Slogans. Sie
wurden massiv durch die Nazis angegriffen. Dann gab es eine Episode, wo
die Rechten das Zelt der Gewerkschaftsunion angriffen in der Nähe des
Maidan. Ein Mann auf der Bühne sprach im Anschluss davon, dass
"Provokateure" vor Ort seien und sagte "Männer, Ihr wisst was zu tun
ist"; im Ergebnis dieser Aktion
wurden einem Gewerkschaftsaktivisten die Rippen gebrochen, ihr Zelt mit
Messern zerstört und ihre Ausrüstung gestohlen. Die Opfer hatten nichts
explizit "linkes" getan, aber sie waren Mitglieder der linken Bewegung,
ihren politischen Gegnern bekannt, und das war genug.
So oder so verstehen die meisten linken Aktivist*innen, dass es nicht ihr Krieg ist. Nachdem die "diktatorischen Gesetze" erlassen wurden, entschieden sie,
an der Bewegung teil zu nehmen - nicht so sehr als politische
Aktivist*innen, sondern mehr als normale Bürger*innen, deren politische
Freiheiten in Gefahr waren. Viele Linke organisierten sich in Einheiten,
die "Hospital watch" initiierten: sie begleiteten Verletzte in die
Krankenhäuser, damit diese nicht einfach von der Polizei entführt
wurden. Natürlich ist das mehr ein infrastrukturelles, "humanistisches"
und kein politisches Projekt. Andere Leute versuchten einen Studierenden-Streik. Sie starteten in der Kiev-Mohyla-Akademie, aber scheiterten letztendlich: es war alles vorbei, nachdem die Universität für die Winterferien geschlossen wurde.
Jetzt gibt es noch eine andere Gruppe, die oft durcheinander gebracht wird mit der radikalen Linken. Ich meine Organisationen wie "Narodniy Nabat"
und mehrere andere Initiativen, die sich selbst anarchistisch nennen,
aber eigentlich sehr konservative politische Programme voll mit
Männlichkeitswahn und Rassismus haben. Nachdem der Protest angefangen hatte,
sind sie dramatisch nach rechts gerutscht; sie haben Waffenruhe mit den
Nazis geschlossen und gemeinsam mit ihnen Molotovcocktails auf die
Polizei geworfen. Letztendlich haben sie sich von der linken Bewegung
getrennt.
Vor einer Woche haben sie gemeinsam mit eigentlichen Linken, die gerne was "machen" wollten, beschlossen eine "anarchistische sotnia" auf dem Maidan zu organisieren. Um dies umzusetzten, waren sie bereit, einen Eid auf Andriy Parubiy zu schwören. Aber als sie ihre Reihen formieren wollten, um das zu tun, kamen ungefähr 150 Svoboda-Kämpfer mit Äxten und Baseball-Schlägern. Sie beschimpften sie, rassisch unrein und politisch irrelevant zu sein und zwangen sie, den Maidan zu verlassen. Und jetzt kommt der lustige Teil, am nächsten Tag sagten diese macho-nationalistischen "Anarchist*innen", dass der Grund dafür, dass sie Probleme mit den Svoboda-Paramilitär gehabt hätten, darin
lag, dass einige unserer Genossen Antinationalistische Graffities rund
um den Maidan gemalt hätten. Und drohten mit Gewalt, weil ihre
Freundschaft mit den Nazis dadurch verhindert wurde.
Die
sinnvollste Strategie für die Linke, jedenfalls für mich, ist eine
zweite Front gegen die Regierung und die Nazis zu bilden. Und das sollte ausserhalb des Maidan und nicht innerhalb dessen passieren. Wir sollten keine Angst davor haben zu sagen,
wer wir sind und was unsere politischen Ziele sind; nur so können wir
starke politische Koalitionen mit anderen Kräften bilden, die sich
gerade in der selben Position befinden (wir linke Liberale, die auch von
der Bewegung ausgeschlossen sind). Gerade planen wir eine Kampagne
gegen die politische Diktatur, um darauf hinzuweisen, dass
die Schwächung der präsidialen Macht eigentlich nicht mit den
Interessen der politischen Parteien korrespondiert. Das kann ein
Ausgangspunkt sein für eine breitere Koalition, von dem aus dann eine Kritik an der bürgerlichen Demokratie als Ganzer entwickelt werden kann. Eine andere wichtige Richtung ist, eine Anti-Austeritäts-Kampagne vorzubereiten, wenn die Regierung eine Budget-Krise haben wird im Verlauf des Jahres. Aber wie auch immer, wir müssen einsehen, dass
wir den grundlegenden Trend gerade nicht einfach umdrehen und über
Nacht eine kulturelle Hegemonie erreichen werden. Wir haben viel harte
Arbeit vor uns, die Jahre andauern wird, bevor wir unsere eigene Revolution haben werden.
Vratislav: Was sind die letzten Entwicklungen? Ich habe von der Möglichkeit gehört, dass das Militär auf der Bühne auftauchen könnte; und über eine Amnestie für eingesperrte Protestierende, der Yanukovich zugestimmt hat. Allerdings bleibt die Regierung dabei, darauf zu insistieren, dass das Assoziierungsabkommen mit der EU ein ökomomisches Disaster für die Ukraine wäre, während Klitschko weiterhin proklamiert, es gäbe keinen anderen als den Pro-Europäischen Weg...
Denis:
Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Einschreitens tendiert gegen
Null. Anders als in Ägypten ist das Militär der Ukraine chronisch
unterfinanziert und ineffizient, es wird auch überhaupt nicht als politischer Akteur wahrgenommen. Die Amnestie - gut, letzte Woche verabschiedete
das Parlament ein sehr seltsames Gesetz, welches festlegt, dass alle
politischen Aktivist*innen begnadigt werden und nicht durch die Polizei
verfolgt werden, wenn der Generalstaatsanwalt innerhalb der nächsten 15
Tage auf seiner Homepage die Nachricht veröffentlicht, dass alle
Verwaltungs- und Regierungsgebäude von den Protestierenden geräumt
worden sind und dass sich die Aktivist*innen auf den Maidan beschränken
und sich von den kürzlich besetzten Straßen zurückziehen. Gerade im
Moment ist es Gegenstand der Diskussion,
ob diese Bedingungen nicht wieder geändert werden, denn die Menschen
sind nicht glücklich mit den jetzigen Perspektiven und sind nicht bereit,
zurück zu gehen. Ohnehin dreht sich aber die aktuelle Situation um die
Besetzung des Neuen Kabinetts (wieviele Oppositionspolitiker*innen darin sein werden)
und die Möglichkeit einer Rückkehr zur vorherigen Version der
Verfassung, mit einem stärkeren Parlament und einem schwächeren
Präsidenten. Wegen des Assoziierungsabkommens - ich denke nicht, dass das gerade irgendjemanden interessiert. Natürlich, die EU und Russland werden jeweils versuchen, auf ihre eigenen Interessen zu drängen während der Lösung des Konflikts in der Ukraine, aber im Moment wird das von der Allgemeinheit nicht wahrgenommen. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass das Abkommen mit der EU in den nächsten Monaten unterzeichnet werden wird.
Vratislav: Am 07. Februar kündigte Andriy Parubiy einen Plan an, die Selbstverteidigung des Maidan in eine "Vereinigte Revolutionäre Armee" - genannt Ukrainische Selbstverteidigungs-Liga - zu transformieren und über das ganze Land zu erweitern. Er sprach von der Notwendigkeit, dass die Anzahl der Kämpfer von aktuell 12.000 auf 30.000-40.000 Freiwillige, "welche nach Kiev
gehen könnten und effizient gegen das Regime kämpfen" könnten,
anwachsen müsse. Sein Stellvertreter Andriy Levus ergänzte: "Von heute
an ist jeder Selbstverteidigungskämpfer nicht mehr nur ein Beschützer,
sondern auch ein revolutionärer politischer Soldat". Wie interpretierst
Du diese Worte und ihre Intention? Es scheint so, als hätten die
Oppositionsführer, die im Nationalen Widerstands-Hauptquartier zusammensitzen, entschieden, einen finalen Showdown vorzubereiten, in dem sie sich selbst als eine große kämpfende Kraft darstellen, was ihnen helfen könnte, ihre Macht um jeden Preis zu vergrößern.
Denis:
Zumindestens verschärfen sie die Rhetorik. Theoretisch würde das Sinn
machen. Das Militär kann nicht gerufen werden, die Polizei ist etwa
5.000 Mann stark; und die Regierung hat kürzlich schon Schritte in
Richtung einer Legalisierung von "Selbstverteidungs-Einheiten"
unternommen - loyale Schlägertrupps, die als Hilfskräfte für die Polizei
operieren. Wenn es also zu einem offenen gewaltsamen Konflikt kommt,
können solche Kräfte - 30-40tausend von Anti-Regierungskämpfern -
realistisch nicht übersehen werden und wahrscheinlich einen effektiven
Widerstand organisieren. Aber wie es im Moment aussieht, ist die die Regierung aus zahlreichen Gründen nicht bereit, in die direkte physische Auseinandersetzung zu gehen. Deshalb denke ich, dass diese Kalkulationen auf einem rein theoretischen Level bleiben werden.
Vratislav: Gibt es noch etwas, was Du über die Maidan-Bewegung
sagen möchtest oder über die aktuelle Situation; oder eventuell über
mögliche Chancen für eine Bewegung im ganzen Land? Gibt es etwas, was
Anarchist*innen oder Kommunist*innen aus dem Ausland tun können, um Euch
zu unterstützen?
Denis: Ich denke, am besten unterstützt man uns von außen
durch Kampagnen gegen den "linken" Arm der Ukrainischen
Regierungskoalition - die so genannte Kommunistische Partei Ukraine
(KPU) - und Insititionen, die mit ihr verbunden sind. Hier (http://avtonomia.net/2014/01/18/open-letter-european-left) habt Ihr einen kurzen Text, warum das getan werden sollte. Auf diese Weise zeigen Kommunist*innen und Anarchist*innen, welche mit unterdrückten Arbeiter*innen symphatisieren, keine Unterstützung für die radikal rechten, liberalen und patriotischen Teile, welche in dem Protest dominieren; eine Form der radikal linken Solidarität wird klar umrissen werden.
Vratislav: Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg für euren Kampf!
Denis: Danke, dass ihr uns interviewt habt, und lasst uns in Kontakt bleiben!
Vratislav: Auf jeden Fall, werden wir!