Am 30. März 2010 fand vor dem Amtsgericht Ulm der Prozess gegen einen Studenten aus Freiburg statt. Er war am 1. Mai 2009 während der Teilnahme an einer angemeldeten Demonstration gegen den NPD-Aufmarsch zusammen mit mehreren Dutzend MitdemonstrantInnen in einem skandalösen Polizeieinsatz festgenommen worden.
Die Polizei hatte damals versucht, den so genannten Schwarzen Block vom Rest der Demonstration abzutrennen und dazu mehrere hundert Personen stundenlang eingekesselt, merhfach mit Pfefferspray eingesprüht und schließlich erkennungsdienstlich behandelt. In der Folge wurden Strafbefehle verschickt, in denen den Beschuldigten meist Landesfriedensbruch vorgeworfen wurde. Als Beweismaterial dienten hauptsächlich die von der Polizei an diesem Tag aufgenommenen Videos.
In einem früheren Verfahren gegen einen weiteren Beschuldigten bestätigte die Richterin bereits, dass die Polizei ihre Videoaufnahmen für den Prozess willkürlich zusammengschnitten habe, um den Eindruck einer extrem gewalttätigen Demonstration zu vermitteln, und sprach den Angeklagten frei. Nicht allerdings Richterin Katja Meyer, die den nun vor Gericht stehenden Freiburger zu einer Geldstrafe von 400 Euro verurteilte. Grundlage des absurden Urteils ist erneut ein Polizeivideo, auf dem allerdings nicht einmal mit viel Phantasie die angeblichen Straftaten des Angeklagten zu sehen sind. Der Verurteilte wird gegen das skandalöse Urteil in Berufung gehen.
Bericht in der Südwestpresse vom 31.03.2010
Geldstrafe für Demonstranten
Ulm. 400 Euro Geldstrafe soll ein 32-Jähriger zahlen. Die Richterin ist überzeugt, dass er bei der Anti-Nazi-Demo am 1. Mai 2009 in Ulm gewaltsam gegen Polizisten vorgegangen ist. Der Freiburger geht in Berufung.
Fast ein Jahr nach der 1. Mai-Demonstration gegen den Nazi-Aufmarsch ist die juristische Aufarbeitung immer noch nicht abgeschlossen. Gestern stand ein 32-jähriger Freiburger vor dem Ulmer Amtsgericht; Matthias H. (Name von der Redaktion geändert) hatte sich geweigert, den Strafbefehl in Höhe von 600 Euro zu zahlen. Den Vorwurf, Gewalttätigkeiten gegen Menschen - das legt ihm die Staatsanwaltschaft zu Last - begangen zu haben, wollte er so nicht stehen lassen. Auch nicht in der Verhandlung. "Ich habe keinem Polizisten auch nur ein Haar gekrümmt", sagte der Student in seinem Schlusswort.
Doch der Reihe nach. Die Staatsanwaltschaft Ulm sah es laut Anklageschrift als erwiesen an, dass Matthias H. am 1. Mai 2009 um 10.27 Uhr "aktiv gegen Polizeiketten" gerannt sei und gedrückt habe. "Dabei befanden Sie sich unmittelbar vor den eingesetzten Polizeibeamten in vorderster Reihe." Dies sei strafbar als Landfriedensbruch gemäß § 125 Absatz 1, Strafgesetzbuch. Das Beweismittel: ein Video, auf dem der Angeklagte eindeutig zu identifizieren sei.
In der Tat, der Geografie- und Soziologiestudent wollte denn auch gar nicht abstreiten, dass er sich in der Sattlergasse aufgehalten hatte. Der 32-Jährige war, wie viele andere auch, von Polizeiketten eingekesselt, über fünf Stunden festgehalten und schließlich um 16 Uhr erkennungsdienstlich behandelt worden. "Wir hatten nichts zu trinken,
wir konnten nicht auf die Toilette. Es war ein, mit Verlaub, richtiger Sch . . . tag. Demos gegen Nazis halte ich dennoch für wichtig." Und zum Tatvorwurf? Er sei nicht auf Polizisten losgerannt, er habe nicht gegen Beamte gedrückt, "ich habe zu keiner Zeit Gewalt ausgeübt". Sein Eindruck: Die Polizisten haben geschubst, gedrängt und Reizgas gegen die Demonstranten eingesetzt, "mit ihren Helmen und Knüppeln sahen die Polizisten alles andere als friedlich aus. Sie versuchten, uns wie Tiere zusammenzupferchen."
Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft sah indes im Video, das dieBeamten der Ermittlungsgruppe 1. Mai zusammengestellt hatten, den Sachverhalt der Anklageschrift bestätigt. "Der Angeklagte hat sich zunächst weggedreht, dann zum Polizisten hingedreht, um gegen ihn zu springen." Was auch Richterin Katja Meyer so sah; sie kam nach kurzem Videostudium zum Ergebnis, dass der Angeklagte mit der Schulter gegen die Polizisten vorgegangen sei. "Eine erhebliche Gewalttätigkeit, der sich der Polizist ausgesetzt sah", sagte die Richterin später in der Urteilsbegründung. Die Aktenlage und das Video deckten sich, der Angeklagte sei deshalb zu verurteilen: zu einer Geldstrafe in Höhe von 20 Tagessätzen à 20 Euro. Insgesamt also 400 Euro und damit 100 Euroniedriger, als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte.
Verteidiger Thomas Oberhäuser hatte zuvor in seinem Plädoyer betont, dass in der kurzen, seinen Mandanten betreffenden Videosequenz "kein aggressives Tun" zu beobachten gewesen sei. "Keinerlei Handbewegungen, kein Kopfstoß, nichts dergleichen." Aus dem Video ergebe sich höchstens, dass die Polizei gedrückt und gedrängt habe, "die Aggression ist durch die Polizeiaktion entstanden". Aus dem Verhalten seines Mandanten eine Straftat zu zimmern, sei ein Unding, sagte Oberhäuser und plädierte auf Freispruch.
Und Matthias H.? "Ich weiß nicht, was ich getan haben soll. Wäre ich zehn Meter weiter rechts gestanden, wäre ich nicht kriminalisiert worden. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort." Der Student kündigte an, in Berufung zu gehen.
Kommentar von Rudi Kübler in der Südwestpresse vom 31.03.2010
1. Mai-Demo: Knick in der Optik
Bösartige Menschen könnten einen Knick in der Optik vermuten. Weniger bösartige Menschen würden das netter formulieren - und die Kritik am gestrigen Urteil des Ulmer Amtsgerichts in eine Bitte packen. Nämlich in die Bitte an einen namhaften Brillenhersteller, Verhandlungen dieser Art künftig als Sponsor zu unterstützen.
Aber: Was hilft die beste Brille, wenn auf der DVD, auf die sich die Anklage stützt, lediglich zu erkennen ist, dass nichts zu erkennen ist. So geschehen im Prozess gegen einen 32-jährigen Studenten, der am 1. Mai 2009 gegen den Nazi-Aufmarsch in Ulm demonstriert hatte - und von den Kameraleuten der Polizei ins Visier genommen worden war. Der junge Mann ist in zwei Szenen zu sehen - insgesamt geschätzte fünf Sekunden lang. Wobei nicht die Dauer entscheidend ist, sondern die Handlung. Und die ist äußerst dürftig zu nennen, schwenkt die Kamera doch im
entscheidenden Moment weg. Das, was die Vertreterin der Staatsanwaltschaft und die Richterin in besagter Sequenz zu sehen glauben, spricht lediglich für ihre Phantasiebegabtheit - nicht aber für den juristischen Grundsatz, den beide zu beherzigen hätten: in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten.
Wäre auf der DVD eine "erhebliche Gewalttätigkeit" zu sehen, der junge Mann müsste zu Recht bestraft werden. So aber drängt sich der Eindruck auf, dass Straftaten "gezimmert" und Fehlurteile im Namen des Volkes verkündet werden.
Solidariät heißt Widerstand
Bin selbst "Sattlergasseninsassin" gewesen und kann das provokative Verhalten der Polizei nur bestätigen
Zudem möchte ich anmerken das ich nach der verspäteten 1. Mai Demo am 2. Mai in Stuttgart einen Strafbefehl wegen Beleidigung bekommen habe. Nachdem ich mich auf der Arbeitsstelle wo ich meine 40 Sozialstunden ableisten sollte wie ein Mensch 2. Klasse behandelt wurde nach 26 Stunden rausgeschmissen wurde ( weil ich mich verbal zur Wehr gesetzt habe ) durfte ich noch 70 Euro an die Staatskasse zahlen. Ich bin jetzt so gut wie pleite nur aufgrund der Tatsache das sich son Staatsdiener beleidigt gefühlt hat. Das is mehr als lachhaft. Für die stundenlange Freiheitsberaubung auf der Demo bekommen die schließlich auch nix !
Daher meine Solidarität an dem Angeklagten
QUELLE: Südwestpresse
QUELLE: Südwestpresse (das datum ist mir leider entfallen. dürfte aber ca 1,5 bis 2 monate alt sein.)
Ulm. Das Amtsgericht Ulm spricht einen 23-Jährigen vom Vorwurf des Landfriedensbruchs frei. Der Mann hielt sich zwar im schwarzen Block bei der Anti-NPD-Demo am 1. Mai auf - gewalttätig war er aber nicht.
Sage nur einer, die Videotruppe der Polizei habe den 1. Mai 2009 verschlafen. Nein, die Kameras surrten an einer Tour: Über 100 DVDs an Filmmaterial haben die Kameramänner gesammelt, Material, das hinterher von der Ermittlungsgruppe 1. Mai gesichtet wurde, um Straftätern auf die Spur zu kommen und sie vor Gericht zu stellen.
Einen dieser gewalttätigen Autonomen glaubten die Beamten in Moritz F. (Name geändert) gefunden zu haben. Der 23-Jährige taucht für etwa 30 Sekunden auf einem Video auf, das in der Sattlergasse gedreht wurde. Hier war gegen 10 Uhr morgens eine Gruppe Autonomer, teilweise vermummt und schwarz gekleidet, eingekesselt worden. Moritz F. stand in dieser Menge, einmal sogar in der ersten Reihe, bei den Nebenmännern rechts und links untergehakt. Für ein paar Sekunden und immer im Abstand von einem Meter zur Polizeikette, die das Vordringen des schwarzen Blocks auf den Weinhof verhindern wollte.
Dieses Video war die Grundlage für den Strafbefehl über 800 Euro, den Moritz F. im vergangenen November vom Amtsgericht Ulm erhalten hatte. Der Tatbestand: Landfriedensbruch. Für Verteidiger Thomas Oberhäuser eine "Unsäglichkeit sondergleichen", wie er gestern in der Verhandlung vor dem Ulmer Amtsgericht sagte. Aus seiner Sicht hatten die ermittelnden Beamten einen "Popanz" aufgebaut und Bruchstücke zusammengeschnitten, die überhaupt nichts mit seinem Mandanten zu tun hatten. So heißt es im Strafbefehl: "Gegen 10.12 Uhr . . . bildeten 40 bis 50 Personen durch Unterhaken mehrere Ketten. Die Personen begannen von 10 rückwärts zu zählen, ab 3 begann die Menge sich zu bewegen und rannte bei 0 auf die Polizeibeamten zu. Dabei wurde auf Polizeibeamte eingeschlagen, ein am Boden liegender Polizist wurde mit dem Schuh am Helm getroffen."
Das Video zeigte zwar diese Szene, sie hat sich aber nicht dort abgespielt, wo sich Moritz F. aufgehalten hat. Was einer der zwei ermittelnden Beamten, die übrigens beide am 1. Mai nicht in der Sattlergasse waren ("Ich weiß nicht, wie die Situation war"), auf Nachfrage von Amtsrichterin Birgit Hölzel einräumen musste. Diese Szene erscheine nur auf der DVD, um einen "Eindruck" von den Gewalttätigkeiten zu geben, sagte der Polizeikommissar. Rechtsanwalt Oberhäuser machte keinen Hehl daraus, dass er eine solche Vorgehensweise für "tendenziös" hält. "Das hat rein gar nichts mit dem Vorwurf gegenüber meinem Mandanten zu tun. Das ist eine Kriminalisierung von jungen Leuten, die ihre Grundrechte wahrnehmen." Abgesehen davon, falle ein bloßes Unterhaken noch nicht in den Tatbestand des Landfriedensbruchs, machte der Verteidiger in seinem Plädoyer deutlich; selbst ein Wegdrängen von Personen sei noch keine Gewalttätigkeit, bezog sich Oberhäuser auf ein entsprechendes Urteil des Bundesgerichtshofs.
Eine Einstellung des Verfahrens, wie von Richterin Hölzel nach der Beweisaufnahme angeregt ("das ist nicht der typische Fall"), war von der Staatsanwaltschaft abgelehnt worden. Deren Vertreter plädierte auf 20 Tagessätze à 15 Euro, der Verteidiger auf Freispruch. Richterin Hölzel schließlich sprach den jungen Mann frei, der Vorwurf des Landfriedensbruchs ließe sich nicht aufrechterhalten. "Das, was wir auf dem Video gesehen haben, reicht nicht aus, den jungen Mann zu verurteilen."
Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse."