Einige Anmerkungen zum Bedarf nach Offenen Versammlungen in Berlin

Symbolbild Diskussionen

Einführung: Am 9. Dezember 2013 folgten Menschen, ob als Individuen oder Delegierte von Bezugsgruppen, dem Aufruf der „Einladung zum offenen Treffen für Selbstorganisierung“ [1] und kamen im Mehringhof (Berlin-Kreuzberg) zu einer offenen Versammlung zusammen. Wir hoffen, dass die Gefährt_innen, welche zu diesem Treffen aufriefen, das dabei entstandene Protokoll in den kommenden Tagen veröffentlichen, welches wohl einen besseren Eindruck dieses ersten Treffens bieten würde, als wir dies hier könnten.

 

Angetrieben von diesem ersten Treffen, wollen wir als Gruppe die Gelegenheit ergreifen, einige Aspekte des autonomen/anarchistischen Organisierens in Berlin und speziell der Form der Versammlung, zu reflektieren. Wir wollen eine mögliche Rolle vorschlagen, welche solche Versammlungen in unseren Kämpfen spielen könnten. Wir sind uns einig, dass wir eine Ebene der Organisation benötigen, welche größer ist als Bezugsgruppen und dennoch loser und weniger definiert als Kampagnen zu Teilbereichskämpfen oder formelle Organisationen. Es bedarf eines Mittelweges zwischen diesen beiden und daran mangelt es im Moment.

 

Wir wissen, dass derzeit viele Diskussionen innerhalb kleinerer Gruppen oder sozialer Kreise feststecken. Wir müssen einen Weg finden, die unterschiedlichen Fragen und Themen, über die sich all diese Gruppen den Kopf zerbrechen, kollektiv zu diskutieren. Wir wollen wissen, mit welchen Problemen und Fragestellungen andere kämpfen und wir wollen wissen, was ihr zu unseren denkt.

Doch gleichzeitig ist es uns wichtig, den Aufbau einer weiteren monatlichen Routine, welche einfach nur ein weiteres Plenum wird, zu vermeiden. Ein weiteres Ritual, welches sich schnell bürokratisch und leblos anfühlt und von den gleichen Stimmen dominiert wird, welche ohnehin bereits die Konversation innerhalb der „linken Szene“ in Berlin dominieren.
Wir denken, dass der ursprüngliche Aufruf für eine Versammlung und die Versammlung selbst, gute Schritte in diese Richtung waren, doch wir wollen einige der dort adressierten Ideen weiter ausführen und einige der Probleme, die wir selbst in Berlin sehen, diskutieren. In der letzten Versammlung schien es vielen der Anwesenden unklar, über was genau wir als Versammelte reden sollten: Wäre es die Basis von welcher aus wir kämpfen und unsere größten Bestrebungen und Sehnsüchte, oder wären es die Details bestimmter Kämpfe in Berlin und wie wir uns selbst darin beteiligt sehen? In mancher Hinsicht sehen wir darin einen falschen Widerspruch: Offensichtlich bedarf es Raum für beides. Hinzu kommt, dass oftmals am Besten über das große Gesamte entlang der kleinen Details gesprochen wird und dass diese Details innerhalb unserer weitergehenden Analyse und Orientierung eingebettet werden müssen, wenn wir nicht „aktivistisch“, leblos und fade werden wollen. Es scheint, als seien diese Verwirrung und Debatte einem Instinkt entsprungen, eine offene Versammlung in eine Art informelle Organisation zu wandeln, etwas entlang der Linie der vorhergehenden Autonomen Vollversammlung (AVV). Für uns ist es exakt dies, was vermieden werden sollte. Anstelle dessen wollen wir dazu anregen, dass das was benötigt wird, nicht eine „Vollversammlung“ ist, welche mehr und mehr wie eine Dachorganisation aussieht, sondern eine Kultur der Vollversammlungen in Berlin: das offene Treffen nicht als ein einmal im Monat stattfindendes Zusammenkommen, sondern als eines unserer grundlegenden Formen der Selbstorganisierung. Im Gegensatz dazu scheint es, als sei der Instinkt des autonomen/anarchistischen Milieus allzu oft, sich auf relativ geschlossene Prozesse und Treffen zum Planen von Aktionen, Entwickeln von Ideen und Beteiligen an existierenden Kämpfen zu verlassen.
Die jüngste Vergangenheit einschätzend:

In den letzten Jahren gab es viele neue positive Richtungen in anarchistischen/autonomen Kämpfen in Berlin. Wir sehen in den jüngsten Aufrufen für offene Treffen konstruktive Bemühungen, auf die weit verbreitete Unzufriedenheit und Frustration über die Demo- und (anti-)politische Kultur in dieser Stadt einzuwirken.

Wir haben auch mit Freude und Aufregung die Eskalation der Taktiken und einen offensichtlichen Anstieg in der Stärke und dem Reichtum von auf Bezugsgruppen basierender Aktionen in den vergangenen Jahren bemerkt. Wir denken, dass dies vielleicht durch eine Kombination mit einer dichter gewobenen Organisation an der Basis gestärkt werden könnte, sodass diese kleineren Gruppen ermutigt sein mögen von einem realen, statt einem imaginierten Sinn der Zugehörigkeit zu einer größeren Bewegung.


Im Besonderen die Bewegung gegen Gentrifizierung hat in Berlin gezeigt, wie Militante und Nachbarschaftsinitiativen eine Vielseitigkeit an Taktiken der Direkten Aktion nutzen, um  sowohl konsequent Räumungen zu verhindern, als auch eine sich gentrifizierende urbane Landschaft anzugreifen (z. Bsp. die Berliner Liste). 

 

Obwohl wir immer gerne mehr bezüglich der internationalen Solidarität sehen, gab es eine ordentliche Darbietung der internationalen und inter-städtischen Solidarität in Berlin, welche sich bemühte, aktive Verbindungen zwischen den aktuellen Zirkulationen der Kämpfe, welche überall in der Welt stattfinden, zu entwickeln.


Wir waren auch erfreut über die Rückkehr der Praxis der Besetzung in Berlin und den wiederholten Bruch der Berliner Linie. Stillestraße, Ohlauerstraße, Oranienplatz, Cuvrybrache, die Eisfabrik... diese Räume bieten Anderen Inspiration und Ermutigung für die offene Besetzung leerstehender Gebäude, öffentlicher Plätze und leerem Land. Während die neoliberale Stadtentwicklung ihren enträumlichenden Streifzug durch Berlin fortsetzt, steigen Räume der Verweigerung empor und fordern diese todgeweihte Vision der Stadt heraus, andere mögliche Welten zusammenbringend.  

 

Entlang all dieser positiven Entwicklungen, bleiben bestimmte andauernde Kritiken an den anarchistischen Milieus in Berlin bestehen. Wir finden das Vertrauen auf subkulturelle Identitäten bleibt noch immer zu vorherrschend. Damit sagen wir weder, dass wir die Referenzen unserer autonomen und radikalen Kultur aufgeben, noch dass wir die Subkultur verlassen sollten, um „in die Massen einzutreten“. Es kann von Nutzen sein, sich selbst als Teil eines sichtbaren und bemerkbaren Milieus von Dissident_innen und Unruhestifter_innen zu fühlen. Dennoch kann das Vertrauen auf politische Identitäten für eine Anzahl an Gründen problematisch werden. Zum Einen können sie zur Begrenzung werden, welche das Ausbreiten von Kämpfen über eine bestimmte Gruppe hinaus einschränkt, wenn sich Außenstehende auf Grundlage des Alters, Styles etc. ausgeschlossen fühlen. Auch gibt es das Risiko, eine „linken Identität“ in oberflächlicher Art anzunehmen, als eine Clique, einen Lifestyle oder ein Aussehen, Demos und Soliparties zu konsumieren, während diese Identität von jeglichem antagonistischen Inhalt entleert wird. Wo auch immer diese sich erlaubt, von dem Kampf gegen das uns umgebende Gewebe der Großstadt und der Destabilisierung dessen losgelöst zu werden, verfällt autonome Kultur in einen hohlen Alternativismus, welcher das Gleiche mittels einer Fassade ästhetisierter Abweichung maskiert.[2]


Auch wenn die Geschichte der Autonomen-Bewegung der Vergangenheit weiterhin Inspirationen und ein seltenes Gefühl der Kontinuität der Entwicklung autonomer Strukturen in Berlin bietet, denken wir, dass diese Geschichte heute auch eine Last sein kann für dieradikalen Bewegungen in dieser Stadt. Während die glorreichen Tage der Autonomen-Bewegung vorerst verstrichen sind, agieren einige Leute weiterhin mehr oder weniger im kognitiven Raum ihrer Identität, sich auf ihre Symbole, Mythen, Lieder, Slogans und Parolen berufend. Wieder einmal - auch wenn es vielleicht tröstet und ermutigt – kann diese Identität in eine Richtung funktionieren, die mehr heterogene, dynamischere und offenere Formen der sozialen Erkennung blockiert, welche vermutlich besser in der Lage wären,  dem Staat gegenüber unlesbar zu sein und indem sie zu Unterschieden statt Homogenität tendieren, sie für den Staat schwieriger sind zu befehligen, organisieren, erfassen und mit Repression zu belegen. Dinge am Leben zu erhalten, welche einst funktionierten, ist nicht das Schlechteste, doch wir haben das Gefühl, dass es oftmals die oberflächlichen Aspekte dieser Traditionen sind, welche bewahrt werden. Wir denken, dass bspw. die einst besessene  schlagkräftige Kultur der offenen Treffen bedauerlicherweise verloren gegangen ist.

 

Gleichzeitig haben wir die Einschätzung, dass Berlins radikale Szene den einzigartigen Status im nördlichen Europa hat, groß genug zu sein, um bereits allein für sich eine soziale Kraft darzustellen und wir gehen davon aus, dass sich dies noch erweitern wird, da immer noch mehr aktive Anarchist_innen und Autonome von woanders in dieser Stadt ankommen.

 

Innerhalb der letzten Jahre hat sich „die Szene“ geografisch betrachtet weitaus mehr verbreitet, da die involvierten Leute sich über die größeren Gebiete von Neukölln, Treptow, Wedding etc. verbreitet haben. Diese Aufteilung ist an sich kein Problem, da es bedeutet, dass Aktionen an mehreren Orten auftauchen und sich radikale Infrastruktur und Einflussnahme über die Stadt verteilen. Doch es gibt ein Risiko von Isolation und Zersplitterung, wenn Organisation und Kommunikation nicht mehr in regelmäßigen, informellen Treffen eine Basis finden, basierend auf geografischer Nachbarschaft und der Art von Beständigkeit, welche bestimmte Orte, wie bspw. der „Dorfplatz“ der Szene einst boten. Diese Zerstreuung muss mit einer erhöhten Koordination innerhalb und zwischen unterschiedlichen Nachbarschaften begegnet werden und wir sehen offene Treffen als einen Schritt in diese Richtung.


Vielleicht am Wichtigsten ist es, dass wir sehen, wie ein großer Teil der „linken Szene“ in Berlin eine Konsumhaltung bzgl. Demos und anderen Aktionen aufrechterhält: hinkommen und dann erwarten, dass andere die „Dinge ins Rollen bringen“.  Die Grundlage auf welcher diese Attitüde ermöglicht wird, ist die praktische Separation zwischen einem kleinen Kader aktiver Menschen, welche organisieren und planen und der großen Mehrheit, welche passiv dran teilnimmt, ohne diese Ereignisse als ein Resultat der eigenen Selbstorganisierung zu erleben.


Wir haben auch bemerkt, dass die Berliner Polizei zunehmend erfolgreich darin ist uns zu leiten und zu kontrollieren, während gleichzeitig eine Eskalation vermieden wird. Wir benötigen Räume über unsere unmittelbaren Kreise hinaus, um unsere Beobachtungen der sich ändernden Polizeistrategien und wie wir ihren Bann brechen können, zu teilen. Zum Beispiel scheint es, als hätten die größten  Mobilisierungen und militantesten Straßenkämpfe in der letzten Zeit eher als Defensive, denn als Angriff stattgefunden. Ohne Frage zirkuliert ein weitaus entschlossenerer Geist – mensch braucht nur an die Räumung der Liebig 14, die Räumung der Familie Gülbol in Kreuzberg, die Unruhen während des Polizeikongresses, die Menschen auf der Straße rund ums Camp am O-Platz oder die jüngste Explosion der Aktionen in Hamburg zu denken. Doch all diese Ereignisse waren eine Reaktion auf eine Bedrohung oder Attacke und als solche haben sie als Hintergrund eine bereits prekäre und bedrohte Existenz, heißt: der gewohnte und konstante Angriff auf unsere Leben und Freiheit durch Staat, Kapital und institutionalisiertem Rassismus. Die neuesten Veränderungen in den Polizeitaktiken, nach welchen sie anstelle ihrer üblichen fortwährenden Präsenz Demonstrationen in den Seitenstraßen begleiten und nur in ausgewählten Momenten intervenieren, sind nur ein Aspekt davon, wie die Herrschaft ihr Auftreten und ihre Strategie ändert. Wo er erfolgreich ist, hält Widerstand die Möglichkeit aufrecht, das Existierende zu demaskieren, es in all seiner Grausamkeit erkenntlich zu machen. Doch damit dies passiert, ist es nötig es unseren Feinden unmöglich zu machen, uns Zeit und Raum unserer Kämpfe zu diktieren. Obwohl dies weder eine neue noch eine simple Frage ist, bleibt sie heutzutage so wichtig wie bisher. Einige scheinen eine Antwort auf diese Frage in der Eskalation ihrer Taktiken gesucht zu haben. Spektakuläre Sabotageakte und Sachbeschädigungen passierten in den letzten Jahren in Berlin, darunter effektive Unt

erbrechungen wie die Sabotagen an den Zugstrecken, welche mit nur einer Hand voll Freund_innen möglich sind.  Obwohl es mehrere Direkte Aktionen gab, die aufeinander aufgebaut haben, scheinen sie dennoch isoliert geblieben zu sein, sie wurden nicht aufgenommen von einer Masse Subversiver und sogar missverstanden von Menschen, von denen sonst Sympathie erwartet wird. Wir denken dass umfassendere Diskussionen – z. Bsp. bei offenen Versammlungen – die Akzeptanz und Annahme solcher eskalierten Aktionen erhöhen und dabei helfen können, diese weiter zu streuen, indem sie in einem Raum diskutiert werden, welcher über die eigenen Freundeskreise und Bezugsgruppen hinausgeht. Wir haben Sympathie für effektive Sabotage auf großem Level und für mehr kompromisslose Selbstbefriedigung unserer Lüste und Sehnsüchte, doch wir denken dass dies solange keine Gefahr darstellen wird, wie diese Ideen und Praxen darin versagen, zu zirkulieren. Wir glauben nicht, dass es ein Zufall oder ein Anzeichen eines willkürlichen Autoritarismus ist, dass die Repression so hart zuschlug nach den Attacken auf Bullen am Kottbusser Tor, welche in Solidarität mit den Kämpfenden in der Türkei stattfanden oder den koordinierten Angriffen auf Jobcenter und den Hauptsitz der SPD während des verlängerten 1. Mai 2013. Wir denken dies lag daran, dass es die Realisierung dieser Aktionen offensichtlich macht, dass Menschen zusammen gekommen sind, ihre Situationen diskutiert und aufständische und umstürzlerische Beziehungen zwischen sich kreierten, welche über eine Reaktion hinaus und in Richtung eines offensiven Angriffs hinaus gingen. Dies ist die Gefahr, vor der unsere Feinde Angst haben und genau das ist es, was wir nach vorn drängen wollen. Wir denken, offene Versammlungen sind eines der Werkzeuge dazu.

 

Der Bedarf nach offenen Versammlungen als Räume der Selbstorganisierung:

Wir würden den jüngsten Aufruf und das Treffen für Selbstorganisierung gern als erste Schritte in Richtung einer Entwicklung einer generellen Kultur der offenen Versammlungen sehen, anstatt als erste Schritte zur Entwicklung einer weiteren Institution oder schlimmer, Organisation. Unsere Hoffnung für die langfristige Perspektive ist, Versammlungen auf unterschiedlichsten Ebenen Gewohnheit werden zu lassen (z. Bsp. in Nachbarschaften, stadtweit etc.). Es bedarf mehr offener Orte für Diskussionen auf allen Ebenen: vom Teilen unserer theoretischen Ideen und Analysen der aktuellen Situationen in Berlin, zur Koordination konkreter Aktionen wie dem Verbreiten von Gegeninformation, Demonstration usw. Manchmal müssen wir über tiefere und kompliziertere Fragestellungen diskutieren; in anderen Zeiten sind es sehr konkrete Dinge, die von uns diskutiert werden müssen. Die eher theoretischen Diskussionen betreffend denken wir, dass sie am hilfreichsten sind, wenn sie eine bestimmte Form annehmen, in welcher wir unsere theoretischen Überzeugungen anhand der Analyse von spezifischen Kämpfen und Demonstrationen, Kampagnen und ihren Grenzen etc. testen. Beispielsweise denken wir, dass es cool ist, dass du ein insurrektioneller nihilistischer Queer bist, doch inwiefern beeinflusst diese Perspektive deine Analyse zu den Geschehnissen der letzten 6 Monate rund um den O-PLatz? Wie hast du dich beteiligt oder warum hast du eine Beteiligung vermieden? Theorie sollte sich selbst entlang der Strategie prüfen und eine Strategie ist nur so stark wie die Prinzipien, denen sie dient, aktualisiert werden.


Doch die Fähigkeit, für all diese Diskussionen Zeit und Raum zu haben bedeutet, dass diese Versammlung mehr als nur ein monatliches Treffen werden muss. Wir müssen sie eher verallgemeinern, müssen sie als eine Form nutzen, welche bestimmten Umständen angemessen ist. Wir brauchen kein alleinstehendes stadtweites offenes Treffen, welches nach einem regelmäßigen Plan abläuft. Eher benötigen wir als Bezugsgruppen (oder lose Zusammenhänge) eine Gewohnheit, nach welcher wir Initiative ergreifen und zu offenen Treffen aufrufen, wenn wir das Gefühl haben, wir sollten Ideen mit Anderen in einem offenen Raum austauschen, anstatt in den Abgrenzungen unserer herkömmlichen sozialen und politischen Kreise.


Für uns scheint die Entwicklung solch einer Praxis zum jetzigen Zeitpunkt aus unterschiedlichen Gründen wichtig zu sein. Vielleicht der wichtigste ist, dass sich zumindest in unserer Wahrnehmung Kämpfe in Berlin zuspitzen. Die Krisenpolitiken beginnen uns auch hier mehr und mehr zu betreffen. Dies macht es zunehmend wichtig für besonders Jene von uns, welche dem Kapital, dem Staat und der Herrschaft in all ihren Formen entgegenstehen, unsere Fähigkeit zusammen zu handeln zu erhöhen, Räume aufzubauen, in welchen wir untereinander organisieren können und mit Anderen reden können, die nicht zufriedengestellt sind von den reformistischen Lösungen, welche als Antwort auf unsere Probleme präsentiert werden. Das heißt Versammlungen zu bilden, welche sowohl Treffpunkt für diejenigen von uns sein können, welche sich bereits innerhalb des autonomen/anarchistischen Milieus bewegen, als auch Treffpunkt für solche, die kämpfen und nach Wegen außerhalb den von der institutionalisierten Linken präsentierten suchen.


Aus unserer Sicht wird dies zunehmend wichtig wenn wir die bestimmte Dynamik in Berlin beachten, eine Stadt, in der mehr und mehr Radikale von außerhalb Deutschlands jeden Monat ankommen, getrieben von der ökonomischen Krise als auch politischer und sozialer Repression. Diese Menschen bringen unterschiedliche Kampferfahrungen, neue Ideen und organisatorische Formen mit sich und es ist wichtig Strukturen aufzubauen, welche jenen, die noch nicht lange in Berlin sind, einen Startpunkt ermöglicht, ohne vorher das komplizierte Gewirr der autonomen Institutionen und all die sozialen Eigenarten der Szene verstanden haben zu müssen. Offene Treffen können zu einem Teil solch eine Infrastruktur bieten.


Genauso wie die Krisenpolitiken sich in Berlin zunehmend bemerkbar machen, blühen langsam die dazugehörigen Ideen von Revolte und Widerstand nicht nur bei denen auf, die bereits zu anarchistischen Gedanken gewechselt sind, sondern auch bei alteingesessenen Anwohner_innen. Unruhen in sich gentrifizierenden Nachbarschaften, Streiks von Geflüchteten und Gespräche mit Betrunkenen in Bars, welchevon Allem genug haben, all dies zeigt uns, dass es mehr Gefährt_innen außerhalb der anarchistischen/autonomen Milieus gibt. Auch hier können offene Treffen ein Grundstein einer Infrastruktur für diese neuen aktiven Gefährt_innen sein, wo sie schnell Verbindungen mit einer Vielzahl  an Kämpfen knüpfen und die Isolation brechen können, welche oftmals durch die Limitierungen der Kämpfe, die nur in bestimmten Nachbarschaften oder Bereichen der Bevölkerung stattfinden, auferlegt wird. Sie bieten auch einen Raum an dem neuere Stimmen gehört werden können, außerhalb der üblichen Grenzen von Kampagnen zu Teilbereichskämpfen. Wir haben uns oft gefragt, ob sich eine starke Kultur der Versammlungen nur in einem Kontext generalisierter Revolten entwickeln kann, so wie wir es in Griechenland oder Spanien sehen. Wie kann dies außerhalb eines solchen Kontextes gelingen? Wir können diese Frage nicht konkret beantworten und wir können auch nicht den Erfolg vorhersehen, mit welchem sich eine Versammlungskultur in dem relativen „sozialen Frieden“ in Berlin entwickeln könnte. Doch aus unseren Erfahrungen von außerhalb Berlins und aus dem, was wir von Gefährt_innen von anderen Orten gehört haben, können wir feststellen, dass die erfolgreichsten Versammlungen während der gesteigerten Perioden der Revolte diejenigen waren, die bereits einige Zeit vor dem Ausbruch dieser Revolten stattfanden. 


Solche Treffen können uns auch dabei helfen, andere Perspektiven auf die aktuelle Demokultur zu erhalten. Welche Erwartungen oder Gefühle hatten wir, als wir an Demonstrationen teilnahmen? Welche Art von Dingen hätten wir gern währenddessen getan oder gesehen, doch fühlten uns nicht dazu in der Lage? Wenn wir herausfinden, dass es Anderen ähnlich ergeht oder die Dinge gern in eine ähnliche Richtung sich entwickeln sehen würden, dann fühlen wir uns vielleicht selbst sicherer darin, auszubrechen, neue Formen der Praxis zu finden, wissend, dass Andere es nicht ablehnen werden und sich vielleicht sogar zu uns gesellen würden.


Letztendlich konstituieren solche Versammlungen eine wichtige strategische Komponente, welche uns bisher in unserer Praxis fehlt. Wenn bspw. die Reaktion auf die Durchsuchung der Rigaer94 am  14. August 2013 der Aufruf zu einer Versammlung in der selben Nacht gewesen wäre, anstelle der unangemeldeten Demo, hätte dies Leuten womöglich Zeit gegeben, etwas weitaus Interessanteres als das Geschehene zu organisieren. Gefährt_innen der Rigaer kamen bereits zu einem ähnlichen Punkt, als sie schrieben:



Wir, als R94, unterstützen die Initiative und Anregung, in den Fällen von Razzien und Repressionsschlägen, am selben Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine Vollversammlung zum Informationsaustausch und zur Besprechung der weiteren Vorgehensweisen abzuhalten. Nach unseren Einschätzungen und Erfahrungen aus der Razzia ist es wichtig, schnellstmöglich einen Informationspool zu schaffen, in welchem, soweit möglich, sachlich die Fakten solcher Ereignisse zusammengetragen werden können. Wir halten die Idee eines gemeinsamen Treffens für sinnvoll, damit ein Informationsfluss gewährleistet werden kann, der unabhängig von digitalen Medien, einzelne Personen und Gruppenzusammenhänge erreichen kann. […] Es ist halt nervig gerazzt zu werden und anschließend noch eine Sponti vorzubereiten. Mit Hilfe solch eines Treffens können wir Aufgaben besser verteilen und insgesamt vorausschauender planen.“ [3]


Wir müssen eine Situation schaffen, in welcher die Planung ein aktiver Prozess wird, an dem sich Andere und mehr Gruppen beteiligen. Allein dies wäre bereits ein riesiger Schritt dabei, die konsumistische Dynamik zu brechen. Kleinere Gruppen, welchen momentan nicht danach ist, die Last auf ihre Schultern zu nehmen und ganz auf sich gestellt zu Aktionen aufzurufen, würden sich vielleicht wohler fühlen, wenn es ihnen möglich wäre, schon im Vorhinein zu sehen, dass andere Gruppen interessiert sind. Als Resultat dessen könnten solche Treffen dazu führen, dass potenziell mehr Leute Sachen organisieren, als dies momentan der Fall ist. Dieser praktische Prozess würde auch einen Nutzen aus der weiter gefassten Zirkulation von theoretischem und analytischem Material von woanders her ziehen. Viele aufschlussreiche und herausfordernde Schriften aus Griechenland, Spanien, den U.K., Frankreich, Italien und anderen Orten bzgl. der aktuellen globalen Revolten sind in der letzten Zeit zirkuliert. Dieser Aufschwung an radikalen Gedanken kann uns helfen, unsere Interventionen zu verschärfen und eine selbstkritischere Praxis zu entwickeln. Damit dieses Material den gewünschten Effekt erzielt, darf es nicht länger innerhalb der Hände einiger Weniger begrenzt bleiben. Während Distros und Infoshops unentbehrliche Ressourcen sind, gibt es keinen Ersatz für Diskussionen und kritische Auseinandersetzungen von Angesicht zu Angesicht, welche das einzig wahre Maß der Tragfähigkeit solcher Analysen bieten. Eine verstärkt einbeziehende organisatorische Praxis sollte von daher gleichzeitig als Experimentierfeld für theoretischen Austausch funktionieren.

Einige Ideen zum Voranschreiten:

Anstatt sich dafür zu entscheiden, eine monatliche Versammlung zu haben, welche die gleiche Form annimmt, egal welcher Inhalt diskutiert wird, würden wir gerne sehen, wie Bezugsgruppen und andere Zusammenhänge die Initiative ergreifen und zu Treffen aufrufen, wenn sie dies für nötig erachten und eine dem Kontext angemessene Form wählen. Einige der vielen Momente, in denen solche Versammlungen angebracht wären, sind für uns: nach einem Angriff/einer Durchsuchung eines  Hauses, um zu diskutieren, wie wir darauf reagieren wollen, vor einer anstehenden Demonstration, Räumung oder Aktion; um eine generellere Diskussion zu einem spezifischen Thema zu haben und um gemeinsam Kritiken zu entwickeln; um voranschreitende Strategien zu diskutieren und unsere aktuelle Situation in einem größeren Sinn zu analysieren; um Solidarität mit Kämpfen außerhalb von Berlin zu planen; um die Erfolge und Fehler jüngster Großereignisse auszuwerten und durch solche eine kollektive Auswertung auch unsere Prinzipien und Visionen der Kämpfe zu prüfen. All dies wäre zuviel für eine einzige Versammlung, oder eine einzige Art der Versammlung, doch wir sehen den Bedarf danach, all diese Gespräche innerhalb eines offenen statt geschlossenen Raumes zu führen. Allgemein würden wir gern vorschlagen, dass offene Versammlungen die eher müde Routine der linken Infoveranstaltungen in Berlin ablösen könnten und sollten. Anstatt passiv herum zu sitzen  und sich eine Präsentation anzuhören, gefolgt von einerlangweiligen „Frage und Antwort-Runde“, würden wir gern mehr offene Gespräche erleben, welche 

von Anbeginn entlang der Beteiligung und des gegenseitigen Austauschs und der Entwicklung von Ideen organisiert sind. Aufrufe zur Beteiligung an den Versammlungen sollten konsequenterweise so weit verbreitet werden wie möglich.


Wir denken, diese Treffen könnten dabei helfen, der Zersplitterung in der Szene entgegenzuwirken, indem tiefere Beziehungen zwischen Gruppen geknüpft werden, welche nahe beieinander wohnen. Zum Beispiel halten wir es für eine interessante Idee, während (oder ansonsten nach) der Versammlung eine Pause zu haben, in denen sich Gruppen und Individuen von den jeweiligen Nachbarschaften zusammenfinden können. Dies scheint besonders wichtig für Gruppen, die aus Gebieten kommen, welche fernab der traditionellen Dreh- und Angelpunkte wie Kreuzberg oder Friedrichshain liegen. Sicher, wir rechnen bei diesem Vorschlag mit Bedenken bzgl. der Sicherheitskultur. Wir verstehen warum, doch wir sehen keinen triftigen Grund, diese Idee fallen zu lassen (wir könnten uns auch Versammlungen vorstellen, bei denen die Teilnehmenden ihre Identitäten verbergen). [4] Auch wenn es bedeutet, dass wir uns vielleicht anfangs etwas aus dem Fenster lehnen müssen, bleibt die Etablierung von mehr Kommunikation zwischen den informellen lokalen Gruppen essenziell.


Wir wissen auch, dass es ein Risiko gibt, dass Lefties und Reformisten aus solch einer „offenen“ Form Vorteile ziehen wollen und die Konversationen übernehmen, sie umleiten in die neutralisierende Eile ihres fieberhaften „Aktivismus“ und uns davon abhalten, die Verbindungen zu formen, welche wir mit solch einem Aufwand entwickeln wollen. Unsere Erfahrung ist, dass solche Übernahmen und die dazugehörigen ziellosen, sich im Kreis drehenden Diskussionen verhindert werden können, indem sich im Kopf behalten wird, welche Ziele die Diskussion verfolgt und auf welcher Grundlage wir zusammengekommen sind. Allzu generelle und offene Versammlungen  treiben häufig an der Oberfläche, sind selten zufrieden stellend und tendieren dazu, lediglich planlos, wenn nicht gar zufällig über interessante Fragen zu stolpern. Vielleicht könnte es besser funktionieren, wenn Gruppen Einladungen zu einem bestimmten Thema oder Inhalt herausgeben, welche dann als Grundlage für die Diskussion dienen könnten. Hier wird es einen Verzicht auf irgendein exzessives Vertrauen auf identitätsbasierten, vorgekauten Ideologien benötigen, wenn wir es mit solch offenen Treffen ernst meinen und in ihnen eine Hilfe finden wollen, aus den selbst-konstruierten Käfigen der linken Szene auszubrechen und sie als eine Quelle der Inspiration zur Verbreitung der Revolte nutzen wollen. Einige Leitfragen zum Verfassen solch eines Aufrufes könnten sein: „Warum sehen wir es als nötig an, zusammenzukommen? Woher kommen wir mit diesem Bedürfnis? Was wollen wir mit solch einem Treffen erreichen?“.



ANMERKUNGEN

[1] Aufruf nachzulesen unter: https://linksunten.indymedia.org/en/node/99846

[2] Siehe Tiqqun's „This is Not a Programme“ (2001) für eine Diskussion über die Bedeutung eines Zusammentreffens zwischen Leben und Kämpfen : „"Worauf wir hier stoßen sind die Schaffungen von „Kriegsmaschinen“. Unter Kriegsmaschinen verstehen wir ein bestimmtes Zusammentreffen zwischen Leben und Kämpfen, eine Zufälligkeit welche niemals zustande kommt, ohne gleichzeitig die eigene Konstruktion zu erfordern. Denn jedes Mal, wenn einer dieser Begriffe wie auch immer vom anderen losgelöst wird, zerfällt – entgleist - die Kriegsmaschine. Wenn der Moment des Lebens einseitig wird, wird er ein „Ghetto“. Beweise dafür sind die düsteren Sümpfe der „Alternativen“, deren besondere Aufgabe es ist, das Gleiche in Gestalt des Verschiedenen zu vermarkten. Die meisten besetzten sozialen Zentren in Deutschland, Italien oder Spanien zeigen eindeutig, wie das simulierte Außenseiterdasein vom Empire der kapitalistischen Erschließung ein wertvolles Werkzeug bietet." (freie Übersetzung des Zitates, Original in engl. Fassung oder in Semiotexte S. 69-70). Lesbar unter http://zinelibrary.info/files/Tiqqun%20-%20This%20Is%20Not%20a%20Program.pdf

[3] R94 – Chronologie der Repression, nachzulesen unter https://linksunten.indymedia.org/en/node/99387

[4] Bzgl. der Frage, inwiefern offene Treffen die Möglichkeit überwacht und kontrolliert zu werden erhöhen oder verringern, wissen wir, dass es ein kompliziertes und wichtiges Thema ist, welchem wir hier jedoch nicht versuchen wollen, größeren Raum zu geben. Für eine detailliertere Diskussion kann bspw. die PRISMA gelesen werden ( https://linksunten.indymedia.org/de/node/23028 ), mit Hinblick auf die Methoden und technischen Fähigkeiten der Bullen der Polizeibericht 2010 ( https://linksunten.indymedia.org/en/node/30859 ). Sich in größeren Gruppen zu versammeln, könnte wie ein Gewinn für die Polizei wirken, macht es uns doch sichtbarer und eine Identifikation einfacher. Doch manchmal kann das Versammeln in größeren Gruppen es den Bullen auch schwerer machen, z. Bsp. kann es erschweren, einzelne Organisator_innen ausfindig zu machen. Hinzufügend bleibt gesagt, dass die üblichen Vorsichtsmaßnahmen berücksichtigt werden sollten: Es macht Sinn, Handys zuhause zu lassen oder noch bevor der Weg zur Versammlung angetreten wird, SIM-Karte und Akku herauszunehmen, nicht nur, weil die Polizei sich in das Telefon hacken und somit das Mikrofon zum Abhören benutzen kann, auch weil sie die Nummern und Namen erfassen und somit eine Einsicht in unsere sozialen Netzwerke erhalten können. Es ist klar, dass darüber hinaus noch sehr viel mehr gesagt werden könnte und sollte.

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hier das noch in der einleitung vermisste protokoll des letzten treffens und die einladung für das nächste:

 

https://linksunten.indymedia.org/de/node/103306

 

macht euch gedanken, wir sehen uns am 22. januar

wurde dieses wichtige projekt auf eis gelegt?

Der Vorschlag anlassbezogener offener Versammlungen ist unterstützenswert.

 

Hier ein Text, der sich mit in weiterem Sinne ähnlichen Fragen beschäftigt:

 

magazinredaktion.tk/Scherbentheorie.php

zu dem problem [4] gab es auch einen vortrag beim 30C3: http://media.ccc.de/browse/congress/2013/30C3_-_5500_-_en_-_saal_g_-_201...