Ein Interview: Azzoncao: Hallo Paul. Wie sich herausgestellt hat bist Du ja ein ganz nützlicher Interviewpartner, wenn es sich um die lokale Geschichte der autonomen Bewegung in Bochum handelt.
Paul: Mmmmh, naja. Da mach mal Abstriche. Zunächst ist das was ich erzähle subjektiv. Also eine Bewertung fließt da immer ein. Auch wenn ich versuche, die Erlebnisse sachlich darzustellen, sie durchlaufen den Filter meiner Empfindungen und Gedanken. Dann habe ich ja auch nur einen Ausschnitt der Geschichte zu erzählen. Ich denke, dass ich vieles auch nicht weiß. Und schließlich ist alles schon lange her und ich habe nicht Buch geführt. Das wäre ja auch schön bescheuert gewesen, von wegen „Protokollführen für die Repression“. Wenn Ihr mich jetzt befragt, erzähle ich auch einige Sachen nicht. Das ist ganz klar die Geschichte anderer Leute, die von denen erzählt werden sollte. Es ist ihre Geschichte, nicht meine. Und ich verschweige so gut es geht Namen und Sachen, die man in der Öffentlichkeit nicht erzählt. Also als Zeitzeuge vieler Ereignisse tauge ich. Aber was ich sage ist nicht allgemeingültig.
Azzoncao: Naja. Aber von der Antifa-Szene hast Du doch reichlich mitbekommen.
Paul: Ok, da habe ich einen recht guten Überblick. Aber allen Ernstes, auch das sind nur die Erfahrungen eines Autonomen. Nur ein Ausschnitt von einem, der in verschiedenen Gruppen mitgewirkt hat.
Azzoncao: Wir denken, das reicht um einen Einblick in die lokale Geschichte der Bochumer AntifaschistInnen zu bekommen. Was hältst Du davon Mitte 80er bis zur Wiedervereinigung 89/90?
Paul: Ok. Dann macht mal los mit dem Frage-Antwort-Spiel.
Azzoncao: In dem Interview über die Blockade des NPD Parteitags und der Demo in Krefeld 1983 hast Du ja schon Einiges über die 80er Jahre in Bochum erzählt. Was die Besetzer-Szene und deren Antifa Engagement anging. Hast die Friedensbewegung, die Grünen und die Autonomen kommentiert.
(https://linksunten.indymedia.org/de/node/86051),
(https://linksunten.indymedia.org/de/node/89904)
Paul: Ja, das waren die Szenen in denen ich aktiv war. Da gab es aber noch andere Szenen in Bochum. Also die eher klassischen Autonomen, die sich nach der Autonomia Operaia, den italienischen Autonomen orientierten. Auch Leute, die bei Opel arbeiteten, um die ArbeiterInnen zu agitieren. Aber die waren so Ausläufer der Spät 70er Jahre. Die internationalistische Szene. Also Nicaragua-, El Salvador-. Chile-, Argentinien-, Nord Irland- und Südafrika- Gruppen, die viel mit den Flüchtlingen und Immigranten aus diesen Ländern zusammen machten. Anti-AKW Gruppen, Frauen-Gruppen, die Gefangenen Initiative in der Düppelstraße, die verschiedenen Uni-Gruppen, Anarcho-Grüppchen. So z.B. eine kleine Anarcho-Theologen Combo.
Azzoncao: Anarcho-Christen?
Paul: Na logo. Noch nichts von der Theologie der Befreiung gehört? Na, heute kann man sich das ja schlecht vorstellen. Aber damals gab es schon einen kleinen linken Haufen unter den TheologInnen. Die organisierten z.B. an der RUB zum 50ten Jahrestag der spanischen Revolution 1986 ein Konzert und ein Symposium. So was halt.
Ok, und da gab es Anfang, Mitte der 80er, natürlich noch all die Freaks, Punks, Waver, Bandprojekte, LebenskünstlerInnen, Kulturschaffende, Kiffer und frei schwebenden Clichen und Einzelpersonen, Wohngemeinschaften und Hausprojekte. Ich habe mit Sicherheit noch so Einiges vergessen in dieser Aufzählung.
Die radikale Linken und Subkulturen waren in den 80er Jahre anders als heute. Ich denke, dass sage ich nicht allein aus dem Umstand heraus wie es immer alle älteren Menschen sagen „Früher war Alles besser, früher wurde Brot noch mit Ö geschrieben.“ Das Lebensgefühl Mitte/Ende der 80er Jahre war aufmüpfiger, rebellischer. Das Agieren radikaler und konfrontativer. Selbstbewusster und von konkreteren Zielen geprägt. Mal so ein Beispiel aus dem Alltag. Es gab hier in Bochum eine Szene-Band die hieß „Geier Sturzflug“. Die hatten ein Verarschungs-Lied auf die eingeläutete Kohl Ära ab dem konstruktiven Misstrauenvotum im Oktober 1982, bzw. der Wahl im Frühjahr 1983 gemacht. Das hieß „Bruttosozialprodukt“. Wie einige andere Bands kamen die auch als Vertreter der Neuen Deutschen Welle in die konservative Hitparade von Dieter Thomas Heck. Das war eine Schlager-Revue am Samstagabend in einem der drei existierenden Fernsehsender. Die nahmen ein paar Bands der Neuen Deutsche Welle auf, weil sie merkten, dass ihnen die ganzen Jugendlichen über diese angesagte Musik abhanden kamen. Und weil da in der Neuen Deutschen Welle oft in deutscher Sprache gesungen wurde, präsentierte man die in der Hitparade. Das lief dort in der Sendung alles Playback ab. Die Bands sangen zur Musik vom Tonband. Und während „Geier Sturzflug“ zur Konserve auf der Bühne abzappelte, hörten die plötzlich auf, kratzten sich am Arsch, popelten in der Nase und benahmen sich sonst wie daneben. Währenddessen lief das Band weiter. Die Studiogäste waren total verblüfft, klatschten zum Ende aber brav und Dieter Thomas Heck überspielte alles. Wir saßen vor dem Fernseher, brüllten natürlich vor Lachen und fanden diese Vorführungen der starren Spießerwelt und leblosen Konsumkultur gelungen.
So war die Stimmung damals. Man kam mehr nach vorne, nahm sich mehr vom Leben zurück. In der Schule, der Uni, auf den Straßen und Plätzen. Und wir waren mehr, viel mehr Leute. Für mich als Teenager war es natürlich super über all die besetzten Objekte und Häuser, die Kneipe „Rotthaus“, die Konzerte, die Parties und die vielen Gruppen an viele verschiedene Menschen und Meinungen zu kommen. Und auch von den vielen Erfahrungen, Praktiken und Diskussionen der 70er Jahre partizipieren zu können, die immer noch die Szene stark beeinflussten. Allein was Anti-Repressions-Verhalten anging. Das hat es in den letzten 30 Jahren einen wahren Absturz gegeben. Einige Antifas, die heute in Bochum Jugendantifa rumspringen wären sofort aus der Szene raus geflogen. Und Andere wären für ihre frauenverachtenden Sprüche noch dazu verprügelt worden. Gerade Antirepression und anti-patriachaler Diskurs und Verhalten ist zur reinen Pooser-Nummer geworden. Aber wem erzähle ich das? Dies sind ja einige der Gründe, warum wir als Combo mit ganz gewissen Antifastrukturen in Bochum Nichts zu tun haben wollen und diese von Anderen ebenfalls gemieden werden.
Anti-patriarchaler Diskurs trifft es nicht richtig. Es gab damals eine größere und sehr bunt gemischte soziale, kulturelle und politische Szene, wo sich alle möglichen Überschneidungen ergaben. Meine erste Freundin war z. B. im Frauen- und Lesbenreferat an der Uni aktiv. Auch meine weiteren Beziehungen und FreundInnen kamen aus der radikalen Frauenszene. Da wurde ein ganz anderes Verhalten der Männer eingefordert. Da habe ich eine Menge gelernt. Ich habe darüber angefangen mich mehr mit Feminismus auseinanderzusetzen, habe entsprechende Bücher gelesen. Später, ich glaube 1987, war ich in einer dieser ersten autonomen Männergruppen, die sich mit Sexismus auseinandersetzten. Die scheiterte an dem klassischen Konflikt, als einige Männer auch ihr eigenes Leben und Verhalten zur Diskussion stellen wollten und andere das eigene Verhalten ausklammern wollten. Denen kam das zu nahe, die hatten zu wenig Vertrauen und zu viel Angst. Ich habe zur damaligen Zeit und auch später die Frage des Sexismus und des Patriarchats nie als eine mir aufgedrängte Frage begriffen, eine nach der ich mich richten musste, um in der von mir ausgesuchten Szene einen gewissen Status zu erhalten. Oder um diese anti-patriarchalen Positionen funktionell in Debatten einzusetzen oder auch um dies als Habitus zu verwenden, um mit Szene-Frauen in Kontakt zu kommen. Für mich war das integraler Bestandteil der eigenen Befreiung. Dazu kann man noch `ne Menge sagen. Aber ich denke, dass das genau die Position und Haltung ist, die einen Mann positiv verändert.
Nun ich denke der große Unterschied zu heute ist, das die Autonomen von damals den Anspruch an sich hatten ihre politischen Vorstellungen auch zu leben und das ihren Alltag, ihre Lebensführung, ihre Beziehungen zu Menschen, ihre Sexualität, ihre Berufswahl, ihr Engagement, einfach Alles einbezog. Natürlich galt das nicht für Alle und natürlich war dabei auch vieles schräg, kompliziert und man hat sich und andere gewiss überfordert. Aber der Anspruch bestand und trieb uns voran. Heute, sorry, ich sehe kaum noch Menschen in der bundesdeutschen Linken die ich als kohärente Personen wahrnehme. Da geht es mir zu sehr um Habitus und Prestige, Ansehen, Karriere und Geld. Menschen die ich als real, glaubhaft, inspirierend und verändernd sehe, finde ich außerhalb der erklärt politischen Szene und diese Menschen sind mir lieb und teuer.
Azzoncao: Also doch Brot mit „ö“? Früher war alles besser?
Paul: Nein, die Zeiten waren anders und einige Menschen auch. Ich möchte heute nicht mehr jung sein. Wo kannst Du denn in Bochum hingehen und etwas lernen? Was und vor allem von wem bitte? „Staub und Spinnweb“, „Schnarch“ ist das Motto!
Wer arbeitet denn hier in Bochum an aktuellen Themen, hat davon Ahnung, hat Biss und intellektuelle Schärfe, dabei eine gute Praxis, neue Ideen und entwickelt Initiativen, ist verlässlich und versucht kollektive Strukturen zu entwickeln?
Dazu dieser ganze anonyme Internet Dreck. Den gab es damals nicht. Du warst auf eine direkte Kommunikation angewiesen und damit war Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit angesagt. Heute habe ich das Gefühl vielen narzistisch gestörten Teens und Twens zu begegnen. Psychologischen Freilandversuchen, die von Mutti zur Demo und von Papi zum Antifa-Camp chauffiert werden.
Der Wunsch jemand zu sein, der verändert, der sich verändert, der selber macht, kreiert, selber was sein will. „Don`t dream it, be it!“. Dieser Wunsch war damals stärker. Heute kann man Konsum, Oberflächlichkeit und Poosen als gängig bezeichnen. Schein, statt Sein. Habitus statt Integrität und Kohärenz.
Ich bin froh, dass meine Jugendzeit und politische Sozialisation die 80er Jahre waren.
Azzonacao: Da stellt sich aber die Frage warum das alles heute anders ist? Wo sind die linken Menschen und ihre Erfahrungen von damals hin?
Paul: Da hast Du mehr als Recht. Naja, einer sitzt gerade vor Dir.
Aber warum so viele Andere nicht mehr dabei sind, das musst Du sie schon fragen.
Ein Grund denke ich ist, das sich die Autonomen als eine ewige Jugendbewegung denken, deren Mitglieder nie alt werden. So als eine Peter Pan – Wertegemeinschaft. Kommst Du über 30 Jahre bist Du schon ein Exot, der merkt das in dieser Art der Kultur kein Platz für mehr für ihn ist.
Mal etwas überlegter, ruhiger, auf Langzeitwirkung, Nachhaltigkeit und Perspektive hin arbeiten? No way. Verantwortung für die eigenen Aktionen auf Demos, etc. übernehmen. Wie spießig. Integrativ für andere Altersspektren, Leute ohne Subkultur-Habitus – Igitt, igitt. Man könnte sich ja Toleranz wie einen Bazillus einfangen. Und solche Haltungen werden explizit gelebt.
Eine Bewegung, die materiell und substanziell auf lange Zeit arbeitet, die Strukturen auch für Eltern mit Kindern, arbeitenden Familienvätern, alleinerziehenden Müttern schaffte, um diesen ein Verbleib in der Szene gewähren, waren die Autonomen nicht. Und auch heute sind diese Form der Linksradikalen nicht die, die Diskurse, Leitgedanken und Medien, Immobilien und Freiräume,soziale und witschaftliche Projekte sowie integrative soziale Strukturen schafft, wo jedes Alter und verschiedene Lebensformen Platz finden. Ab 30 wird Dir das bewusst. Denn dann bröckelt es massiv in deiner Altersstufe. Du wirst Dir bewusst, dass Du zu den Oldies zählst. Dir darüber keine Gedanken gemacht hast, wie die komplette Szene sich über das Älterwerden und sich ändernde Lebensbedingungen keine Gedanken macht Du stehst plötzlich einer arroganten, bornierten Szene gegenüber, die Du selbst bis zu diesem Moment gebildet hast und darstellst.
Ab den Moment steigen dann um so mehr und schneller Leute aus. Erfahrungen und theoretisches Wissen, praktische Fähigkeiten und diverse Ressourcen verschwinden. Und lassen eine Szene zurück, in der auf immer und ewig der Jugendkult regiert. Eine politische Strömung, in der auf immer die Mitte-Zwanzig-Jährigen wissen, wie alles läuft und wo es lang geht.
Azzoncao: Das klingt ja stark nach struktureller Kritik. Lass uns aber mal einen Blick auf die Antifa-Arbeit von damals werfen.
Paul: Also ich weiß nur, dass es bis ca. 1986/87 keine explizite Antifa-Gruppe in Bochum gab. Also eine die offen mit einem solchen Namen auftrat. Es gab immer Leute, die als Freundeskreis so etwas machten. Also ich war in einem solchen. Der bestand aus einigen Leuten des Heusnerviertels und ein paar anderen Bochumer Autonomen. Wir gingen damals auf Antifatreffen im Ruhrgebiet nach Dortmund, Witten und Duisburg und beteiligten uns an Demonstrationen vor allem gegen die NPD und die FAP. Aber eine kontinuierlich arbeitende Gruppe hatten wir nicht.
Es gab damals andere Strukturen als heute. In fast jeder Partei, Kirche, Gewerkschafts- und Jugendorganisation gab es Leute, die etwas gegen Nazis machten. Die sich gegen Faschismus aussprachen. Das lag mit Sicherheit noch an den 70er Jahren, wo man sich gegen die Diktatur in Chile und Argentinien engagierte. Wo das Franco-Regime in Spanien und die Obristendiktatur in Griechenland vor der Haustür lagen und alle gesellschaftlichen Bereiche in der Bundesrepublik politischer waren.
Also das war anders als heute, wo es kaum noch Basisarbeiten in diesen Organisationen gibt. Heute haben diese Organisationen auch kein Interesse an interner Demokratie und Basisarbeit mehr. Geschweige denn an Antifa-Arbeit. Heute bestellen sich die Organisationen Berichte von irgendwelchen Journalisten und so genannten Experten zum Bereich Antifaschismus. Die Organisation selbst entwickeln aus sich heraus keine Positionen mehr und stehen auf völlig tönernen Füßen. Pappkameraden könnte man sie nennen. Das gilt natürlich nicht nur für den Bereich des Antifaschismus. Parteien, Kirchen, Gewerkschaften verwalten und delegieren nur noch. Pure Machtopportunität beherrscht das Denken. Zumeist können die Funktionäre dieser Organisationen auch gar nichts Anderes mehr.
Besonders übel ist immer zu sehen wie diese Organisationskader über das Thema Antifa ihre Karriere in ihren Organisationen machen. Bei Gewerkschaften, den Grünen, der Linken, usw.. Da tauchen dann alle paar Jahre Leute auf, die sich öffentlichkeitswirksam unheimlich ins Zeug legen, auf allen Treffen auflaufen und mit den Namen ihrer Partei oder Gewerkschaft hausieren gehen, sich unerfahrene Leute heranziehen, diesen Leuten Zugang zu Geld und Einfluss versprechen und sich so kleine Peergroups und Minilobbys aufbauen. Dann geben die im Namen ihrer Organisation ein paar Presseerklärungen bei irgendwelchen Bagatellaktionen ab, halten ihr Gesicht vor irgendeine Journalisten-Kamera und machen für ihre Partei etc. Werbung. Darüber machen sie in ihrem Apparat Karriere. Nicht über die Ochsentour des normalen Mitgliederwegs, sondern über den Bypass Antifa. In Bochum haben wir das immer wieder. Nach spätestens zwei Jahren siehst du diese Menschen nicht mehr, bzw. auf gut dotierten Funktionärsposten triffst du sie an.
Mal ein älteres Beispiel. Das gab es z.B. 2007 hier zum Thor Steinar Laden. Da baute sich auf einem öffentlichen Treffen eine Gewerkschaftlerin vor einem Genossen auf, der zu dem Laden sehr viel gemacht hatte und kanzelte den von oben ab, was und wie er zu tun hätte. Sie selbst hatte aber noch niemand im Antifabereich gesehen. Sie war noch nie in Erscheinung getreten. Allein das „Ich stehe hier für die Gewerkschaft soundso“ sollte ausreichen, das alle auf Habachtstellung gingen. Der Genosse, der selbst schon 15 Jahre Gewerkschaftsmitglied war, verwies nur auf ihren Infotisch der Gewerkschaft. Alle ausliegenden Broschüren, inklusive der Gewerkschaftsbroschüren, waren von autonomen Antifas geschrieben worden. Er hat sie gefragt, was sie eigentlich wolle, wenn sie mit solch einem Material im Kreuz hier große Töne spucken würde. Die arrogante Göre war tierisch beleidigt. Jetzt hat sie einen guten Posten in der gewerkschaftlichen Jugendarbeit. So geht das. Antifaschismus als Karrieretrampolin.
Oder das ältere Funktionäre ihre Kinder über Anti-Rechts - Arbeit im DGB unterbringen. Da soll sich mal jeder selbst eine Meinung zu bilden.
Und was die eigene Basis angeht. Die benötigen die Verbände und Parteien nur dann, wenn sie Masse für eine ihrer seltenen Demobeteiligungen brauchen.
Naja, wie gesagt, das Engagement, auch das von Teilen bürgerlicher Organisationen, war anders. Du bekamst von den Falken, den Jusos, der SDAJ, der kirchlichen oder gewerkschaftlichen Jugend oder sonst wem ein Flugblatt zu den Faschos in die Hand gedrückt.
Auch waren in allen Bürgerinitiativen, Stadtteil- und Ökogruppen Leute die eine antifaschistische Haltung vertraten und nicht nur auf ihr Thema fokusiert waren. Damit reagierten die Leute aus den bürgerlichen Spektren, alternativen Szenen und verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auf die ansteigende rechtsradikale Szene, die Schmierereien, die Pöbeleien, Überfälle und auch Morde.
Und Morde gab es schon vor 1990. Das Oktoberfestattentat von 1980 mit 13 Toten. Im gleichen Jahr die zwei Morde an den Vietnamesen durch die „Deutschen Aktionsgruppen“, der Mord an den jüdischen Verleger Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Elfriede Poeschke und die Morde an den beiden Schweizer Grenzern durch den Nazi Frank Schubert. 1982 ermordete der Nazi Helmut Oxner drei Menschen in Nürnberg. Dann die Sprengstoffanschläge von der Hepp/Kexel-Gruppe 1982. 1984 flog die „Gruppe Ludwig“ auf. Brandanschläge und Morde in Deutschland und Italien hatten ca. 16 Menschen das Leben gekostet.
Am Heiligenabend 1985 ermordeten rechte Skinheads in Hamburg Ramazan Avci. Im Juli des gleichen Jahres hatten ebenfalls Nazi-Skins Mehmet Kaymakcı in Hamburg mit einer Gehwegplatte erschlagen...
...Mit Sicherheit habe ich Einiges vergessen....
Für viele gibt es ja eine Art Stunde Null in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung. Also die Wiedervereinigung. So erscheint es mir auf jeden Fall. Es ist, als ob es die Zeit davor nicht gäbe. Passt auch irgendwie, wenn man dann als Gründungsmythos die böse DDR, den sogenannten Freiheitskampf der dortigen Bevölkerung nimmt und sich eine friedliche deutsche Revolution in den Jetzt-Staat herbei phantasiert und fabuliert. NS-Staat und deren BRD-Kontinuitäten verschwinden dabei in graue Urzeiten, die ehedem keinen mehr zu interessieren haben.
Antifa war ein integraler Bestandteil der radikalen und autonomen Linken. Das heißt es wurde nicht nur von den gerade entstehenden Antifa-Combos thematisiert, sondern war in allen autonomen Bereichen, Kämpfen und den Gazetten Thema. Die autonomen Antifa-Combos nahmen sich nur Antifaschismus als Schwerpunkt.
Ihre Mitglieder kamen aber aus allen möglichen anderen Bereichen und waren darin auch weiter aktiv. Somit war nicht nur eine Verzahnung in alle anderen autonomen Kampfbereiche gewährleistet. Es flossen auch aus allen anderen Bereichen Erfahrungen, Wissensbestände und Ressourcen ein. Die antikapitalistischen und internationalistischen Debatten, die Organisationsansätze, klandestinen Vorgehensweisen, militanten Straßenkampferfahrungen mit der Polizei, Umgang mit Repression und so weiter. Dazu natürlich die immens wichtigen Sozialisierungen in einer, zumindest verbal, auf Kollektivität ausgerichteten Szene. Heute hast du ja Teenager, die ohne jede politische und gemeinschaftliche Sozialisation in der Antifa aufschlagen. Die neoliberale Persönlichkeitsstrukturen und pupertierendes Peergroup Verhalten mitbringen und damit die Organisierungsansätze, Perspektivdiskurse und Strategiedebatten, und vor allem Sozialstrukturen, komplett gegen die Wand fahren. Hatten wir die letzten vier Jahre hier in Bochum ja zu genüge. Das Ruhrgebiet hat zur Zeit ja diese Form von Antifas. Dortmund voran. Die haben ein Sozialverhalten, so eine Mischung aus hormongesteuerten, pupertierenden Peergroups, gemischt mit Nachwuchs-Hooliganism und gymnasial-bürgerlicher Karriereorientierung.
Dann gib diesen Grüppchen eine Halbwertzeit von maximal zwei Jahren bis diese Mitglieder wieder aus der Antifabewegung raus gehen. Und das vor allem, weil sie sich selbst zerlegt haben. Meist verschwinden sie dann im bürgerlichen Nirgendwo oder dümpeln als „Ach ich bin ja so links“ - Pooserhaufen an den Tresen von Bars daher. Mal ehrlich, gäbe es diese radikale Linke wie in den 80er Jahren, diese heutigen Antifa-Pooser würde keiner mit der Kneifzange anfassen wollen. Die widersprechen in fast jeder Hinsicht dem Selbstverständnis damaliger Autonomer und Antifas.
...Ojeh,...
... obendrein kann man sich bei deren Praxis doch gleich den Bullen stellen....
Azzoncao: Yes, children of time, Kinder ihrer Zeit. Aber lass mal diese Andeutungen, die LeserInnen wissen ja gar nicht was hier mit dem Nachwuchs gegangen ist.
Paul: Stimmt, muss ja nicht überall das Gleiche sein. Mit Sicherheit gibt es auch andere Städte und Szenen, wo es anders läuft. Laufen muss. Aber es nervt schon, wenn man für den Pott angefragt wird, was hier eigentlich geht.
Azzoncao: Du sprachst einmal davon, dass sich Antifastrukturen in der autonomen Bewegung herausbildeten. Ein anderes Mal sagtest Du, Ihr hättet keine festen Strukturen gehabt.
Paul: Ich meinte für Bochum. Wie ich mich erinnern kann gab es hier bis 1986/87 keine sich selbst ernannte Antifa-Combo. Da waren es Freundeskreises, politische Grüppchen, die auch alles mögliche Andere machten. Also Leute aus den besetzten Fabriken Anfang der 80er, Mitte der 80er Leute aus dem Heusnerviertel und Umfeld und zum Ende der 80er die Leute aus dem Infoladen in der Kohlenstraße. Erst 1987 gab es meiner Meinung eine Gruppe die sich Antifa nannte und nach außen trat. Das war die „Antifa-Langendreer“.
Azzoncao: Aber es gab doch immer die VVN. Was war mit der?
Paul: Na, in Bochum und Wattenscheid war und ist das eine klare DKP-Nummer. Die erzählten einem immer was davon was 1933 bis 1945 war.
Aktueller Faschismus bedienten die faktisch nicht. Ausnahmen bestimmten die Regel, da mischten sie in Wattenscheid mal bei der Blockade der NPD-Zentrale mit. Aber ansonsten? Recherche? Öffentlichkeitsarbeit? Fehlanzeige. Fahnenschwenker auf Demos und Vielredner auf Versammlungen! Und die waren meist nur eine Plattform für Selbstdarstellungen und -bewerbung. Was ich am Blödesten fand, war die Selbstinszenierung als Opfer des NS. Wenn Leute, die nach dem Krieg geboren waren, sich als Verfolgte ausgaben. Da habe ich richtig Fremdschämgefühle entwickelt und wurde stinkensauer, weil das eine wahre Zumutung für wirklich Verfolgte ist. Dazu gab es für sie fast nur Kommunisten die Widerstand geleistet hatten. Alle andere Menschen interessierten sie nicht. Und das große Credo aus der Geschichte war, dass man mit der SPD heute eine Einheitsfront machen müsse. Das war so egozentrisch, retrotechnisch in einer KP-Politik der 50er, 60er Jahren verankert, dass man die nicht ernst nehmen konnte. Aber ich habe gehört, dass der Bochumer Verband zu den Schlimmsten in NRW gehören sollte. Ich hoffe, dass das stimmt. Wäre schade um den Rest der VVN.
Ende der 80er Jahre leisteten die sich auf einer Antifademo in Wattenscheid noch ein Megading, dass es den Nazis erlaubte ca. 100 AntifaschistInnen organisiert anzugreifen, dass die VVN, SDAJ und Falken in fast jeden der Kreise deren Mitglieder zusammengeschlagen wurden an Kredit verloren.
Azzoncao: Was war das?
Paul: Komm ich nachher zu.
Azzoncao: Ok, was habt Ihr denn in Eurer unorganisierten Zeit gemacht?
Paul: Also das ist jetzt echt lange her. Fast 30 Jahre. Ich kann mich nur noch an so bruchstückhafte Highlights erinnern, Anekdoten. Wollt Ihr so etwas hören?
Azzoncao: Ja, erzähl.
Paul: Am 28. April 1984 bin ich zum NPD Parteitag nach Wiehl-Drabenderhöhe gefahren. Das ist ein Dorf mit etwas mehr als 3000 EinwohnerInnen. Als wir dort ankamen standen am Dorfeingang schon eine Handvoll Leute, die meinten wir sollten nicht runter ins Dorf fahren. Dort liefen ca. 100 Nazis und Skins rum, die schon Leute verprügelt hätten. Die Polizei ließe sie gewähren und schaue weg. Wir parkten das Auto auf einem nahen Feldweg und gesellten uns zu den anderen Antifas. Eine gemischte Gruppe von jungen und älteren Leuten. Schließlich waren wir ca. 30 Personen und diskutierten, ob wir ins Dorf runter sollten. Erst wollten wir aber mal die Dorfstraße runterschauen. Dazu mussten wir zur Straßenecke an der Kirche vorbei vor der wir die ganze Zeit standen. Wir gingen zu dritt los, als plötzlich 8 Nazis um die Ecke bogen. Wir stoppten, die auch. Dann verschwanden die. Wir trauten uns nicht um die Ecke, gingen zurück um mit den Anderen zu beraten, was wir machen sollten. Die Fahrer der Autos holten schon mal die Autos auf den kleinen Platz. Zu unserem Glück. Wir standen also so ca. drei Minuten auf dem Kirchplatz und debattierten, als die sechs Mannschaftswagen, die an der Kreuzung mit Sicht ins Dorf standen weg fuhren. Das kam uns komisch vor. Bevor wir das aber richtig gecheckt hatten kamen ungefähr 80 Nazis um die Kirche herum gerannt. Um die Ecke, wo die Polizei die Einsicht gehabt hatte, und aus einer Gasse auf der anderen Seite der Kirche. Wir wurden mit Flaschen, Steinen und allen Möglichen eingedeckt. Wir sprangen in die Autos, einige rannten die Straße aus dem Dorf raus. Die Nazis prügelten und traten auf die Autos ein. Versuchten die Türen aufzureißen und die Leute aus den Wagen zu zerren. Ein Typ hatte ein altes Auto und sich für seinen Türgriff eine Drahtschlinge zum Zuziehen der Tür gebaut. Während er mit einer Hand startete, hielt er mit der anderen Hand die Tür zu. Er zeigte uns später seine linke Hand. Sie war tief eingeschnitten von dem Draht. Ich war in ein Auto gesprungen und hatte echt Panik. Die Nazis umringten das Fahrzeug, traten und schlugen auf das Auto ein, zu beiden Seiten versuchten die Nazis unsere Türen aufzureißen. Ich schrie panisch „Fahr sie platt“. Der Fahrer startete und gab Vollgas. Einer der Nazis flog über die Kühlerhaube. Wir kamen weg und zischten aus dem Dorf. Ungefähr 500 Meter weiter sammelten sich alle am Straßenrand. Einige hatten nicht in die Autos springen können und waren gerannt. Sie waren außer Atem und hatten was abbekommen. Die Autos hatten einige Beulen. Einerseits waren wir alle erschrocken und andererseits stinken sauer auf die Nazis und die Polizei.
Azzoncao: Die hatte Euch zum Abschuss freigegeben?
Paul: Ja. So offensichtlich habe ich es selten erlebt. Die haben gesehen, dass ca. 80 Nazis die Straße hoch kamen und sind mit sechs Wannen weg, um den Nazis zu signalisieren „Ihr dürft“. Wir sind später zur Demo nach Wiehl rein. Da hat die Polizei super rabiat die Antifas angegangen. Das mit der Rosa Eck, der alten Widerstandskämpferin, haben wir erst aus der Presse erfahren. Das war noch vor dem Überfall auf uns gewesen. Da hatte der Dortmunder Nazi Siegfried Borchardt mit Naziskins eine Gruppe von SeniorInnen angegriffen. Es gibt noch ein Foto von Siegfried Borchardt, wo er neben der fast 70 jährigen Seniorin Rosa Eck steht, die am Boden liegt. (www.gelsenzentrum.de/rosa_eck.htm)
Wiehl war schon krass. Da hatte ich es das erste Mal mit einem Nazimob zu tun. Das musste ich erst einmal verdauen. Auch mir Gedanke über meine eigene Reaktion, meiner Panik angesichts solch einer Art gewalttätiger Konfrontation, machen. So was war völlig neu für mich.
Azzoncao: Du hattest doch in dem Interview zu Krefeld und dem NPD-Parteitag erzählt, dass Du Dich von einem Pazifisten zu einem gewandelt hattest, der sich militant wehren wollte.
Paul: Ja, aber was heißt das?
Und was heißt Militant? Besser finde ich es die ganze leidige Gewaltfrage ganz simpel aufzurollen. Wenn man als Ziel ein Zusammenleben ohne Ausbeutung, Ungleichheit und Gewalt hat. Wenn man in diesen Bemühungen argumentativ und gewaltfrei vorgeht und dann Gewalt ausgesetzt wird. Verbaler und körperlicher Gewalt. Diese Gewalt strukturell in der Gesellschaft verankert vorfindet und sie von den Meisten praktiziert und gutgeheißen wird. Wenn Dir Deine Selbsterhaltung, Würde, körperliche und mentale Unversehrtheit wichtig ist und die Option offen steht Dich anders als gewaltfrei zu wehren. Also gezielte Überlegungen anzustellen, wie Du im Falle einer Gewaltanwendung gegen Dich reagierst, dass Du Gewalt anwendest, auch mit dem Einsatz von Mitteln, die den Angreifer verletzen. Und das als Humanist? Das ist nicht einfach. Weil Du ja lieber diskutierst und den anderen davon überzeugen würdest. Weil Du Menschen nicht als Menschen verachtest, hasst oder sonst wie minderwertig ansiehst. Ganz im Gegenteil. Du bist gegen ihre Taten, aber nicht gegen sie. Und jetzt wie vorgehen, ohne das bittersüße Gift der Gewalt- und Machtausübung über Andere zu genießen, dem zu verfallen und selbst wie die Gegenseite zu werden? Menschenhasser und Menschen, die die Macht lieben, haben da wenig Probleme. Wir schon. Also ich meine die Humanisten, Egalitären, Freiheitlichen unter uns. Die die Macht haben wollen, autoritäre Kommunisten, linke Demokraten, etc. weniger. Die lieben ja auch die Macht.
Azzoncao: Halt mal. Also Erstens machst Du die Trennungslinie zwischen autoritären und egalitären Menschen auf. Zweitens sprichst Du von bittersüßer Macht- und Gewaltausübung. Das erste musst Du mal erklären. Und das Zweite klingt echt schräg aus Deinem Mund.
Paul: Also ich finde das Erste liegt auf der Hand. Will ich bestimmen, wo es lang geht; will ich das es darin vor allem nach meinen Bedürfnissen abgeht, dann sehe ich in den Anderen keine gleichberechtigten Personen, mit denen ich eine Vereinbarung aushandele. Dann werde ich versuchen sie dazu zu veranlassen, gegeben Falls dazu zwingen, meinen Vorstellungen zu folgen. Auf der Gegenseite den Reaktionären, Faschisten, Kapitalisten gehört diese Einstellung und Vorgehen zu deren Welt- und Wertvorstellungen. Auf der Seite auf der ich stehe ist das anders. Hier lasse ich mich aber nicht unter den Dachverband aller selbsternannter Linker stellen. Mit Stalinisten, Maoisten, diesem ganzen autoritären Pack will ich Nichts zu tun haben. Und Ihr kennt sie ja auch. Ihre Machtphantasien, ihren Hang zur Gewalt, oft mehr getragen von egoistischer Selbstliebe und Verachtung Anderer als sonst was. Und das alles in rote Grütze und Rhetorik gegossen... ...Igitt...
Hier wirst Du schnell die Debatte über Gewalt als unehrlich und versehen mit einer Doppelmoral erleben. Widersprüche zwischen der angeblichen Utopie und der gelebten Praxis werden schnell weggedrückt und nicht mehr diskutiert.
Ich sehe da einen deutlichen Widerspruch zwischen autoritär und egalitär denkenden Linken.
Azzoncao: Na, da gibt es aber auch ganz andere Egalitäre.
Paul: Du meinst unsere auf superhart machenden, Macho-Vollpfosten-Anarchos? Ja, das ist ein hausgemachtes Problem der Anarchisten-Szenen. Einige anarchistischen Szenen betreiben einen Kult der Rebellion, eine Ästhetik der Gewalt, arbeiten mit dem Image des Straßenkämpfers. Das lockt immer wieder solche Individuen ohne revolutionäre Moral und Bewusstsein an. Die leben sich unter dem Label des Anarchismus ein paar Jahre aus. Legitimieren ihre über die Grenzen gehenden Aktionen und auch Gewalttätigkeiten als linksradikal und anarchistisch. Die toben sich aus, bevor sie in einer anderen Exzesse versprechenden Szene verschwinden. Das Problem vieler AnarchistInnen ist, dass sie keine eigenen klaren Vorstellungen von Gewalt versus Militanz haben und nicht wissen, was sie selbst wollen. Sie lassen deswegen immer wieder solche Leute in die Szene von denen sie sich einen Aktionsgewinn versprechen, über die sie sich aber später beschweren. Solche Szenestrukturen wollen nicht die Verantwortung übernehmen und klar sagen: Wir wollen deine verkleidete pseudo-revolutionäre Gewaltrhetorik und selbst- und fremdgefährdenden Aktionismus hier nicht.
Azzoncao: Mmmmh, das klingt aber nach Regulierung und Kontrolle.
Paul: Man trägt Verantwortung für die Entwicklungen der eigenen Szenen. Mit seinen Handlungen aber auch mit seinem Wegsehen und Nichtverhalten. Wenn ich die Anwesenheit solcher Typen zulasse, deren Gewaltrhetorik, deren aggressiven Habitus und Stil, dann importiere ich den Machismo, die Gewalt- und Machtverliebtheit in die Szene. Ich behindere oder verdränge dadurch emanzipatorischen Diskurse und libertäre Prozesse. Der Freiheit gilt eine Gasse, das heißt nicht der Gewalt. Und auf die Gesellschaft heißt das, dass diese Gasse auch nicht mit Gewalt, sondern Militanz erreicht wird. Das die anarchistischen Szenen und Grüppchen immer wieder diese Form des Imports kapitalistischer Denk- und Handlungsmuster vollziehen, zeigt mir wie unreif diese Strukturen sind. Und ich betone dabei Szenen, denn es gibt hier nicht „eine“ Szene...
...Und die bittersüße Macht- und Gewaltausübung? Euch stört das „bittersüß“?...
Azzoncao: Ja, das hat den Geschmack das Gewalt was Tolles, Geiles, Schönes ist, was man leben will. Das die dadurch gewonnene Macht erstrebenswert ist.
Paul: Was Dich lockt, verführt, was du haben willst, besitzen willst?
Azzoncao: Mmmmh ja.
Paul: Aber ist es denn nicht so? Es ist doch toll gesehen zu werden, anerkannt zu werden, Wert geschätzt zu werden, Respekt zu bekommen, sich mit seiner Meinung durchzusetzen. Das ist ein tolles Gefühl. Es verschafft das Gefühl von Kraft, Sicherheit, wichtig zu sein, geliebt und geachtet zu werden. Danach sehnt sich doch jede und jeder. Und das bekommt man doch mit Macht. Oder?
Und das Gegenteil. Wer will verspottet, verächtlich behandelt, gedemütigt werden. Fühlt sich das gut an? Man bekommt gesagt, man würde Nichts können, Nichts wissen, Nichts wert sein. Wie geht es einem damit? Fühlt sich das kraftvoll an. Baut das einen auf? Hat man das Gefühl von Würde und aufrechten Gang? Fühlt man sich heil und gesund, attraktiv und geliebt? Eher nicht. Und womit wird das verbunden? Mit Ohnmacht, ohne Macht!
Also Macht ist geil, Macht macht sexy. Ja, in einer Gesellschaft die so strukturiert ist wie unsere ist das so. Menschen, die so erzogen werden, funktionieren so. Du kannst von einer inneren Schönheit, Reife und einfach ein toller Mensch sein. Super Sachen machen. Es interessiert niemanden. Was in dieser Gesellschaft interessiert, ist dein Markt- und Gebrauchswert auf dem ökonomischen Arbeits-markt, Beziehungs-markt, Sex-markt.
Macht zu haben ist vielversprechend. Und die Macht mit diversen Formen der Gewalt, also körperlich, psychologisch und/oder strukturell, aufzubauen und zu sichern ist die Voraussetzung. Gewalt und deren Ausübung verschafft Befriedigung, ein gutes Gefühl auf der richtigen Seite des Lebens zu stehen. Das der andere Mensch nicht zu interessieren hat, dass hast du ja in dieser Ellenbogengesellschaft gelernt. So funktioniert der Kapitalismus.
Kapitalismus ist permanente Ausgrenzung, Exklusion. Und die, die besonders an diesen Ausgrenzungssystemen interessiert sind, werden zu Faschisten. Faschismus als eine Ideologie, die auch für die Verlierer dieser Exklusionsprozesse einen Anteil an der Macht und die Legitimität der Gewalt verspricht. Höherwertigkeit per Geburt, per Geschlecht, per Hautfarbe und Nationalitätszugehörigkeit. Dazu das Angebot einer angeblich exquisiten ethischen Gemeinschaft per Gencodes anzugehören.
Kapitalismus produziert Faschismus. Der Schoß wird immer fruchtbar sein, so lange der Kapitalismus existiert.
Eine andere, bessere Gesellschaft, ein gutes Leben für Alle zu kreieren, das ist super schwer. Wir sind geprägt vom Kapitalismus und müssen uns gemeinsam davon entfernen. Uns selbst dabei ändern. Aber wie und wohin? Und so fallen wir immer wieder auf alte Versprechen herein. Auf alte Mythen in Tüten. Und dabei ist der Griff zur Macht und Gewalt der Einfachste in unserer Verunsicherung und Angst.
Also süß und verlockend erscheint die Macht, bitter ist es was sie mit Dir und Anderen anrichtet.
Ich finde man sollte ehrlich sein und Macht so beschreiben.
Azzoncao: Und was ist jetzt Militanz?
Paul: Da mache ich es mir mal einfach. Anfang der 90er Jahre habe ich ein Flugblatt „Antifaschismus und Militanz“ verfasst. (https://nadir.org/nadir/initiativ/azzoncao/bambulemil.html) Angesichts der Pogrome in Hoyerswerda und Rostock, den Brandanschlägen in Mölln und Solingen tauchte die Frage der militanten Gegenwehr verstärkt auf. Hier kam es zu einigen ziemlich schrägen Aktionen gegen Nazis, wo junge, unerfahrene Leute Sachen gegen Nazis machten, die nicht zu vertreten waren.
Azzoncao: Was zum Beispiel?
Paul: Konkret kann ich mich an eine Situation nach einer Schülerdemo erinnern. Von der hatten wir gehört und die stieß uns richtig übel auf. Die war aber schon Ende der 80er. Ich weiß nicht mehr genau wann. Nazis hatten antifaschistische Schüler nach einer Demo an mehreren Stellen am Hauptbahnhof angegriffen, wurden an einer Stelle aber plötzlich von einer Überzahl SchülerInnen umringt. Die Teenager zwangen die etwa gleichaltrigen Nazis ihre Waffen, Messer und dergleichen, abzugeben. Anstatt aber den Arschlöchern ein paar Backpfeifen und Arschtritte zu geben, bekam einer der Nazis aus kürzester Distanz einen Backstein vor den Kopf geknallt und brach zusammen. Das ging gar nicht. Wir sind keine Nazis. Leute die sich ergeben kriegen ihrer Tat nach noch eine Abreibung. Aber diese noch gravierend zu schädigen, das geht nicht. Wir sind nicht wie sie. So etwas darf nicht passieren. Linke sind Strukturfeinde, Rechte sind Menschenfeinde.
Azzoncao: Klingt wie Ehrenkodex?
Paul: Klingt mir nach politischem Bewusstsein! Wer es genauer wissen will, kann sich ja das Flugblatt am Ende des Interviews durchlesen.
Azzoncao: In welchem Zusammenhang hast Du Dich denn Mitte der 80er Jahre bewegt?
Paul: 1983 habe ich in dem besetzten „Haus Berlin“ in Bochum-Werne gewohnt. Spätsommer 1984 bin ich dann in das Heusnerviertel gezogen. Das war ein Stadtteil in Goldhamme, der einer Umgehungsstraße, einem Teilabschnitt der DüBoDo, weichen sollte. Zunächst waren ab 1982 Wohnungen in den zum Abriss stehenden Häusern billig an StudentInnen vermietet worden. Von denen zogen aber nach der Kündigung nicht alle aus. Und so wurden sie BesetzerInnen. Mit dem drohenden Abriss der Häuser zogen dann auch immer mehr normale MieterInnen aus dem Stadtteil aus. Szeneleute zogen ein und besetzten nach und nach die leerstehenden Wohnungen und Häuser. Zur Hochzeit von 1984 bis 1986 gab es mehr als sechzehn besetzte Häuser mit ca. 130 BesetzerInnen im Heusnerviertel. Die Abrisse und Polizeiangriffe wurden immer massiver und alles eskalierte. Schließlich konnte man mit dem Auto nur über Umwege ins Viertel. Alles andere war mit Barrikaden abgesperrt. Hier lebten StudentInnen, KünstlerInnen, Puppenspieler, Arbeiter, Arbeitslose, Leute die aus Jugendheimen ausgebüxt waren, Punks, Hippies, MigrantInnen, politische Flüchtlinge. Fast alle aus der Alternativ-Szene. Gut die Hälfte mehr oder weniger bewusste Linksradikale. Hier sammelte sich viel der Autonomen Szene. Viele waren in irgendwelchen Gruppen in der Stadt aktiv. Mittelamerika, Südafrika, Atomkraft, Umweltschutz, Startbahn West, etc.p.p.. Das waren angesagte Themen. Und natürlich Häuserkampf. Viele waren oft in der Hamburger Hafenstraße. Wir waren aber auch oft in Düsseldorf. In den besetzten Häusern der Kiefernstraße. Man kann uns als echtes autonomes Biotop bezeichnen. Hier wurde über Sex, Beziehung, Geld, Privateigentum, Politik, Arbeit, Gott und die Welt gelacht und gestritten. Das Wenige was man besaß wurde geteilt. Man half und unterstützte sich gegenseitig. Lieh sich was aus, teilte Waschmaschinen, Duschen, Kohlen, Essen und manch einmal das Bett. Man lebte mit vielen Menschen in den Straßen zusammen, fast jede und jeder kannte die andere Person. Heute kenne ich 8 Leute aus meinem Häuserblock. Damals kannte ich mehr oder weniger Jede und Jeden. Gemeinsames Essen, Feste, Konzerte, gemeinsame Fahrten zum See, in die Disco, etc., Frühstücke, Fernsehenabende, Straßenkino, Plenas und natürlich der gemeinsame Widerstand.
Eine einprägende Zeit.
Auf Youtupe gibt es einen Film aus der Zeit über das Heusnerviertel: http://www.youtube.com/watch?v=SkHh-ow0N0s und natürlich auch die Hafenstraße: http://www.youtube.com/watch?v=eBD1eBEKcmc
http://cinemaanarchia.blogsport.de
Die Stadt hetzte via der WAZ gegen uns. Wir galten dem ordentlichen Bochum als Dorn im Auge. Für alle Kritischen, Widerständigen, Punks, Subkulturen, etc. waren wir aber Zuflucht- und Rückzugort. Ein Freiraum und auch Aushängeschild, dass es etwas Anderes gab, als die Spießergesellschaft. Bzw. das es den Versuch dazu gab. Wir waren auch ein Magnet für alle Jugendlichen die aus der Gesellschaft raus vielen. Kids die von zu Hause abhauten. Leuten die aus Jugendheimen stiften gingen oder sonst wie unter Druck gerieten. Die schlugen bei uns auf. Fanden ein offenes Ohr, ein Essen, ein Bett und manchmal auch eine dauerhafte Bleibe. Das brachte natürlich viele Probleme mit sich. Politisch korrekt war niemand von denen. Klar war die Stimmung bei denen aufmüpfig und anti-bürgerlich.
Aber da geschah es auch, dass sich Mädels mit Naziskins einließen. Irgendwann stand mir im Treppenhaus einer Glatze gegenüber. Eine kleine Ausreißerin, die bei meinem Nachbarn für ein halbes Jahr untergekommen war, hatte die Glatze als ihren neuen Freund angeschleppt. Einen richtigen kleinen Naziskin mit allem drum und dran. Batches und Sprüche inklusive. Das war 1985. Damals gab es die erste oder zweite Welle der Rechtsentwicklung in der deutschen Skinszene. Die „Bösen Onkelz“ waren die Band, die sie hörten. Und das rheinisch „Rock o Rama“ Label brachte den ganzen braunen Dreck auf den Markt. Ich war mit dem 16 jährigen Mädchen gut befreundet. Aber ab da gab es immer wieder Auseinandersetzungen wegen ihres Freundes. Nicht nur, dass es nicht anging, dass ein Nazi in unserem Haus, unserem Viertel, ein und aus ging. Sondern das sie die Sprüche von dem Typ schluckte und mit ihm zusammen war. Das ging mir quer. Das jemand den ich lieb habe richtig Scheiße macht kann ich nicht gut vertragen. In unserem Viertel-Cafe „K 14“ endete eine Debatte mit ihr damit, dass sie auf mich losging und mich verprügeln wollte. Ich hatte ihren Typen vor mehreren Leuten zum Thema gemacht.
Da gab es aber noch andere Fälle. Einen solchen spießbürgerlichen Sozialrassismus gegen ausgegrenzte, marginalisierte Jugendliche wie wir ihn heute in Bochums Alternativ-Szene haben, gab es aber damals nicht. Bei den wenigsten Linken der damaligen Zeit. Und bei uns erst Recht nicht. Naja, zugegeben es gab da ein, zwei Ausnahmen von echt bürgerlichen Affen bei uns. Aber dazu ein anderes Mal. Schaut man sich die Linke Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre an, waren die Positionen zum Proletariat und Subproletariat anders. Diese Mittelschichts- und Spießerseelen die heute die Linke umtreiben hätten damals wenig Chancen gehabt. Oberpeinlich, wenn dann noch im Namen des Antifaschismus verbal auf Straßenkids eingeprügelt wird, wie vor zwei Jahren. (Wozu strickt sich Bochums Alternativ-Szene einen Nazi-Aufmarsch? - https://linksunten.indymedia.org/de/node/46036) Nachdem man auf die kids eingedroschen hatte, war das Thema abgegessen. Wie es den Kids um den Hauptbahnhof herum geht, das kümmert doch niemand. Die hatten zum dumpfen, flächendeckenden Dissen hergehalten. Und dafür reicht die Unterschicht doch alle male. Man kann sich nur schämen für diese Bochumer Alternativ-Szene.
Azzoncao: Ist das nicht was anderes?
Paul: Nein, damals wären viele dieser Bahnhof-kids früher oder später im Viertel gelandet. Irgendjemand hätte sie am Bahnhof angesprochen und angeschleppt. Oder sie hätten von uns gehört und wären gekommen. Sie hätten dort für kürzer oder länger einen Ort für sich und ihre Bedürfnisse gefunden. Die paar Nazis, die jetzt dort unter ihnen fischen, hätten keine Chance gehabt. Heute dienen die rumziehenden und abhängenden Proll-kids der bürgerlichen Linken und ihrer gymnasialen Nachwuchs-Antifa zum Bashen und als Projektionsoberfläche.
Azzoncao: Ok, lassen wir das mal so als deine Meinung stehen. Erzähl weiter.
Paul: Also im Heusnerviertel wohnte ich zwei Jahre. Von Mitte 1984 bis 1986. Klar waren wir später immer mehr mit der Viertelsituation und uns selber beschäftigt. Aber wir beteiligten uns bei vielen Antifaaktionen im Ruhrgebiet. Mit zwei Freunden war ich im sauerländischen Langenberg auf einer Demo gegen einen NPD-Parteitag im Januar 1985. Wir waren dort die Einzigen mit Helmen. Die waren kurze Zeit vorher als „Passivwaffen“, was für ein Wort, verboten worden. Wir wurden von der Polizei deswegen gejagt wie Karnickel. Im Juni 1985 fuhr ich mit den gleichen Kumpels zur Demo gegen das „Deutschlandtreffen“ der NPD nach Stadthagen. Wir waren oft zusammen unterwegs. Wobei ich glaube, dass ich öfters die Treffen in anderen Städten besuchte als sie.
Azzoncao: Sorry, die Zwischenfrage. Noch mal zum Viertel. Also von was habt Ihr gelebt? Und wie wart ihr in der Stadt verankert?
Paul: Also die polizeiliche Repression, die Hetze der WAZ und die relative Abgeschiedenheit am Stadtrand brachte es mit sich, dass wir ein isoliertes Dasein führten. Wir versuchten immer wieder mit Flugblättern, Konzerten, Straßenkino und Straßenfeste Leute zu uns einzuladen, die Isolation aufzubrechen. Aber das war sehr schwer. Und diese aufgezwungene Konfrontationsstellung brachte es mit sich, dass es fast nur ein Für oder Gegen das Viertel gab.
Zu dem Lebensgefühl kann ich Dir die Geschichte nach dem Räumungstango 1985, oder besser gesagt unsere Belfast-days, was sagen. Die Polizei war drei Tag in dem Viertel stationiert, hatte ein Zeltlager mit Feldküche auf dem Sportplatz daneben aufgestellt, nachts leuchteten extra installierte Flutscheinwerfer die Straßen aus, damit alles unter Kontrolle war und die Abrisse der Häuser bis tief in die Nacht erfolgen konnten. Überall nur Bullen. In der zweiten Nacht, zum Morgen hin kamen ca. 50 Leute aus der Hafenstraße zur Unterstützung zu uns. Ich hatte Nachtwache, stand da ganz allein rum, also wir hatten trotz allem noch Wachen mit Gasfanfaren, die zur Not noch mal Nachts die Anderen in ihren Häusern wecken sollten wenn was „Besonderes“ passierte. Ich stand da wie ein Schluck Wasser in der Kurve und konnte denen nur die Trümmer von 6 Häusern und der Schule zeigen, sie ins Cafè einladen und sagen, dass hier alle total fertig und durch seien, eine sehr bedrückende Stimmung, traurig und mit Umarmungen sind sie nach ein paar Stunden wieder abgerückt. Dann kam der dritte Tag und die Bullenschweine sind mit Raupen und Baggern absichtlich durch die Obstgärten und Hinterhöfe gefahren, haben alles dem Erdboden gleichgemacht, nur um zu zerstören, noch mehr kaputt zu machen, die Wiesen, die Obstbäume, die Garagen, die Mauern, einfach Alles, nur um eine Trümmerwüste zu hinterlassen. Da rasteten wir aus, die Leute schmissen Sachen aus dem Fenster, kamen aus den Häusern, unvermummt und griffen die Schweine an. Es half Nichts, sie zogen sich zurück, aber um die Häuser herum war Nichts weiter als ein Wüste von zermalmten Backsteinen, Holzsplittern, etc. So schön wie dieser alte Stadtteil vorher war, Gärten, Höfe, Garagen, etc. wurde er nie wieder, er sah aus wie nach einem Bombenangriff, und das war so gewollt. Scheiß Sozialdemokraten!
In der folgenden Nacht gab es eine irre Szene. Immer mehr Leute kamen aus ihren Häusern, keine Bullen, keine Wannen, keine Bagger mehr. Wir nahmen unseren Stadtteil wieder in Beschlag. Ihr müsst Euch so zwei angrenzende Straßen vorstellen, an dessen Ecken viele Häuser fehlen und nur Schutt, Steine und Holzsplitter die Grundstücke und Rasenflächen bedecken, dann zwei große Berge von Balken und Abrissholz, je 50 Meter von einander entfernt, beide Holzberge brennen wie Osterfeier und dutzende Leute stehen darum, von dem Dach des ersten und kleinsten Haus in der einen Straße klingt Musik, eine Mischung aus Punkmusik mit Indianergesängen gesampelt, Joachim hatte eine große Box auf das Dach gestellt und spielte das ab. Ich habe nie wieder so eine Musik gehört, harte urbane Klänge und mit Gesängen, die an Stammesrituale erinnerten, und wir stolperten über den Schutt und die Steine zu den wärmenden Feuern, um die Anderen zu treffen, sie zu sehen, mit ihnen zu sprechen, jetzt nach dem Krieg, jetzt wo so vieles kaputt war. Die Letzten Überlebenden. Was für eine Nacht. So war unser, oder sagen wir mal, mein Lebensgefühl.
Das Heusnerviertel war `ne richtige In-Szene, zu der... naja, irgendwie die kamen, die ähnlich tickten wir wir ...
Gelebt wovon? Nun ja. Telefon, Kohlen und Strom bezahlte ich. Miete nicht. Die hatte ich nun schon mal durch die Besetzung gespart. Das bischen Geld zum Leben kam damals von meinen Eltern, Zuschuss für`s Studium der Geschichte. Das war nicht viel, aber es reichte. Die Ansprüche waren auch nicht hoch. Wir teilten viel. Beim Karl ging ich Wäsche waschen, beim Bernard nutzte ich die Badewanne und wenn ich nach Hause kam saßen in meiner Küche die Anderen aus meinem Haus, weil meine Küche groß und sehr gemütlich war. Sie saßen da, die Tür zu meiner Wohnung war ja seltenst abgeschlossen, tranken meinen Kaffee und ließen es sich gut gehen. Wenn ich dann Brot oder Milch brauchte ging ich zu ihnen. Ich habe heute das Gefühl, dass ich mir viele Bedürfnisse nach Nähe, Akzeptanz, Freundschaft, Zärtlichkeit, aber auch Sexualität über Medienkonsum und Besitz an Dingen befriedige, besser gesagt kompensiere. Also früher reichte mir das Bier auf einer Mauerecke und das Quatschen und Lachen mit ein paar Punks, Prolls, Autonomen. Oder ich hörte Bob Marley, saß kiffend in dem offenen Fenster meines besetzten Hauses und unten gingen die Anderen her, winkten, grinsten. Das hat gereicht, ich war zufrieden. Heute sitze ich oft allein mit einem teuren Wein vor der scheiß Glotze oder dem PC, sitze in einem teuren Cafè bei Cappuchino und höre die Leute um mich herum belanglosen Scheiß reden. Da waren mir die Herzlichkeit in zerrissenen Klamotten lieber. Für`s Herz braucht es halt kein Besitz. Und für den Verstand auch nicht.
Also ich bin damals mit dem Wenigen gut klar gekommen. Und hatte und habe auch keine Ambitionen auf Reichtum. „Haben oder Sein“ würde Erich Fromm sagen.
Ich denke so haben damals viele von uns gelebt. Nach dem Abbruch des Studiums habe ich Zivildienst gemacht und von den paar Penunsen, dem Billiglohn des Staats gelebt.
Es gab damals nicht so`n großen Druck wie heute, mehr Nischen um zu überleben und auch nicht so eine Konsumhaltung.
Azzoncao: Ok, wollte ich nur noch mal wissen. Also zurück zu den Nazis.
Paul: Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Die NPD und die FAP. Vor allem mit der FAP beschäftigten wir uns in der Zeit. Ab Anfang der 80er Jahre baute sich im Ruhrgebiet die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei, kurz FAP, auf. Eine Nachfolgeorganisation der verbotenen ANS/NA. Das waren die Nazis, denen die NPD zu lasch war und die auf Straßenterror setzte. Die FAP rekrutierte bei den Skinheads und bei den Hooligans in den Stadien. Zur Rekrutierung dienten oft gemeinsam organisierte Schlägereien gegen angebliche oder wahre Gegner. Die FAP betrieb Wehrsportübungen, z.B. hier in Bochum-Weitmar, in Bochum-Dahlhausen, an der Ruhr in Hattingen und Essen, usw.. Ende 1984 wurde bei den Hattinger Nazis von der Wiking-Jugend und der FAP professioneller Sprengstoff gefunden. Später vermittelte die FAP aus Witten auch Söldner nach Kroatien und Südafrika.
Hochburgen waren vor allem Duisburg, Oberhausen, Witten, Dortmund, Essen, Hattingen, usw. In Bochum haben sie Ende der 80er in den Stadtteilen Langendreer und Werne versucht eine Kameradschaft aufzubauen.
(Nazis in Werne und Langendreer - https://linksunten.indymedia.org/de/node/22293)
Und natürlich Wattenscheid. Das war in den 80er und 90er eine Hochburg der Rechten in Bochum. Friedhelm Busse war ja auch in den 60er Jahren dort NPD-Vorsitzender, dann „Partei der Arbeit/Deutsche Sozialisten“ und „Aktion Widerstand“ bis er 1972 nach Bayern zog und seine terroristische Laufbahn weiter führte. (http://de.wikipedia.org/wiki/Friedhelm_Busse)
In Wattenscheid hatten die Nazis mehr Möglichkeiten. Die Polizei ließ sie gewähren und sie machten mehr. Bis hin zum Rechtsterrorismus. Da hatten wir in Bochum später auch richtige Terrorprominenz wohnen. Z.B. Ekkehard Weil, den das österreichische Innenministerium verdächtigte die Briefbombenkampagne Mitte der 90er Jahre zu verantworten. Der saß in den 80er Jahren noch in einem österreichischen Knast. Er hatte unter anderem auf das Haus des bekannten jüdischen Kriegsverbrecher- und Nazijägers Simon Wiesenthal einen Sprengstoffanschlag gemacht.
In vielen der Ruhrgebiets-Städten gab es damals Angriffe auf linke Buchläden, Parteibüros, besetzte Häuser, Kneipen, Szenetreffs. Auf MigrantInnen und Jugendliche, die den Nazis nicht in den Kram passten. Auch das Heusnerviertel wurde zweimal überfallen.
Azzoncao: In der Mitte der 80er Jahre?
Paul: Ja. Am Eingang zum Heusnerviertel, zur großen Ausfallstraße der Kohlenstraße hin, gab es die Bahnstraße. Da standen die ersten besetzten Häuser. Oft waren es Wohngemeinschaften von StudentInnen und Leuten, die am Deutschen Institut für Puppenspiele lernten, die dort wohnten. Ihre Mietverträge waren ausgelaufen und sie zogen einfach nicht aus. Waren so zu HausbesetzerInnen geworden. In der Parterre der Bahnstraße 4 gab es, glaube ich, zwei Wohnungen. An einem Abend hat es an der Wohnungstür der einen WG geklopft. Zwei Studenten des Instituts für Puppenstiele waren in der Wohnung. Michael, ein Freund von mir, mit dem ich schon im besetzten „Haus Berlin“ in Bochum-Werne gewohnt hatte, ein zierlicher und ziemlich sensitiver Mann, öffnete die Tür. In dem Moment schlug ihm ein Naziskin die stumpfe Seite eines Beils vor den Kopf. Micha brach zusammen und vier, fünf Naziskins drangen mit Schlagwerkzeugen in die Wohnung ein. Der andere Student war völlig fertig und konnte Nichts machen. Die Nazis verwüsteten was sie konnten und verschwanden wieder. Keine Woche, ich glaube sogar schon zwei Tage später, gab es den nächsten Angriff. Ich hatte die ganze Geschichte noch gar nicht verdaut und eingeordnet. Wieder das gleiche Haus. Aber eine andere WG. Da saßen vier Leute zusammen beim Schach, Wein und einem Joint. Wie gesagt dort wohnten viele Studis und Künstler. Also eher die intellektuelle Fraktion. Wie die Nazis reinkamen kann ich jetzt nach fast dreizig Jahren nicht mehr sagen. Die stürmten in die Wohnung, bedrohten die Leute mit Baseballschlägern und verwüsteten die Wohnung. Die vier saßen völlig eingeschüchtert und geschockt da.
Das machte Welle im Viertel. Es gab ein Plena, die Leute bewaffneten sich und es wurden Nachtwachen gehalten.
Azzonacao: Bewaffneten sich?
Paul: Ja. Baseballschläger, Knüppel, Hämmer, Äxte, Leuchtspur, Gasknarren, Nunchackus, Messer. Das Übliche halt. Und das wäre nicht feierlich geworden. Die Leute waren stinkensauer und wir hatten bei uns Leute aus dem subproletarischen Milieu, Kleinkriminelle und aus dem Rockermilieu wohnen. Und das war ihr Viertel, ihre Hood. Auch wenn die jetzt nicht direkt was mit den Hippies, Studis und Künstlern zu tun hatten oder haben wollten. Die gehörten zum Viertel. Die gehörten zu uns. Und die packt keiner an. Erst Recht kein Nazi. So war mir manchmal echt ungemütlich zumute, wenn ich mit bestimmten Leuten Nachtwache machte. Die hättest Du noch von den Nazis runterziehen müssen, damit die die Nazis nicht in Scheiben schneiden.
Azzoncao: Und die Polizei?
Paul: Hä? Hast Du ne Macke? Die hat nie jemand gerufen. Die Polizei fing an ganz normalen Tagen an der Kohlenstraße Leute ab und schikanierte sie nach Strich und Faden. Punks, die auf einer Demo von uns verhaftet wurden, schlug man in der Wanne zusammen und ließ die in Herne bis ins Viertel ohne Schuhe laufen. Polizisten schlugen bei einem Einsatz an der Bahnstraße einen Skin zusammen. Als Punks ihm helfen wollten und herbei rannten zielte ein Polizist mit seiner Knarre auf die Punks. SEKler kamen als Bauarbeiter verkleidet ins Viertel, zettelten eine Schlägerei an und haben einem Punk-Freund von mir fast ermordet. Ein SEKler stand über ihm, schrie „Ich bring dich um“ und versuchte ihm eine Messstange mit Stahlspitze in die Brust zu stechen. Mein Freund hatte aber eine großes Holzstück als Art Brustpanzer mit den üblichen Punk-Nietenzeug unter seinem Sweatshirt. Deswegen blieb der am leben.
Hallo? Die Polizisten erschlugen aus Spaß unsere zahmen Ratten bei den Räumungen. Hölle, fast jede Woche ein Übergriff und Gewalt gegen uns. Die sind am Tag der Räumung mit Panzerwagen, mit 1000 Bullen im Einsatz, allein 600 für`s Viertel, SEK-Kommandos, Sturmleitern, etc. gekommen. Strom und Telefon wurden für den Stadtteil einige Stunden gekappt. Die haben das Viertel fast drei Tage besetzt. Nachts Flutscheinwerfer aufgebaut, sich mit einer Feldküche auf dem Sportplatz eingerichtet. Das waren unsere „Belfast days“.
Also Du fragst echt nach der Polizei?
Azzoncao: Sorry. Aber so etwas zur Anzeige zu bringen ist doch nicht dumm.
Paul: Nein, ist es nicht unbedingt. Aber das ist immer von Fall zu Fall abhängig. Man merkt nur, dass Ihr so etwas nicht mitgemacht habt und solch eine Konfrontationsstellung nicht kennt.
Azzoncao: Und die Nazis. Kamen die?
Paul: Als wir Nachtwache schoben und auf sie warteten? Nein. In einer ihren Zeitungen der „Neuen Front“ gaben sie mit dem Überfall an. Sie hätten es der „Kommune“ gezeigt, bla,bla. Natürlich haben sie nicht erzählt, was und wie sie es gemacht haben, diese Feiglinge.
Dann liefen mal fünf Nazis an der Kohlenstraße vorbei, zeigten den Hitlergruß und riefen Parolen. Zufällig bin ich gerade mit dem Fahrrad vorbei und bekam das mit. Ich schmiss mein Rad in den Bordstein und ging auf die los. Brüllte die an und drei wollten schon Kniegas geben. Zwei kamen mir entgegen, boten mir Schläge an. Ich wich zurück. Vor der Bahnstraße 4 lungerten mehrere Punks rum. Die hatten Nichts mitbekommen hatten. Ich rief denen zu, dass hier Nazis sein, die eine Abreibung bräuchten. Die Punks schnallten Nicht so schnell und die Nazis konnten abhauen.
Azzoncao: War aber schon ein bischen riskant einer gegen fünf?
Paul: Ja. Es war mehr Wut, statt Mut. Am Wochenende zuvor waren wir vom Viertel mit ca. 30 Leuten in Dortmund gewesen. Bei einer Demo gegen die FAP. Ich weiß nur, dass wir nicht zu einem gewissen Punkt durchkamen und sich alle Hausbesetzer und Autonomen auf einer Wiese versammelten, um sich dort zu beratschlagen, wie es weiter gehen sollte. Alle in ihren Gruppen. Das war so `ne Art Mulde. Also die Wiese wirkte etwas wie ein Tal. Überall saßen Grüppchen und debattierten. Dann sollten Delegierte ein kurzes Plenum machen und eine Entscheidung fallen. Oben an der Straße kam ein Mercedes Benz an. Ein paar Dortmunder erkannten zwei Nazis der Borussenfront darin. Die Nazis stiegen aus, grinsten höhnisch. Ein paar Punks nahmen sich darauf hin den Benz vor, traten dagegen, knickten den Mercedes Stern ab, etc. Die Typen Nichts wie weg. Aber nur um fünf Minuten mit einem SEK-Kommando wieder zu erscheinen, auf die Wiese zu zeigen und abzuhauen. Das war eine Finte gewesen. Ein Provo, damit das SEK agieren konnte. Die pickten sich auch umgehend ein paar Leute heraus, die sie verhafteten und vor aller Augen misshandelten. Alle waren aufgesprungen und wollten hin. Aber das SEK-Kommando bildete knüppelnd einen Halbkreis, der auf die Wiese vorrückte und bei dem es kein Durchkommen zu geben schien. Man hatte aber oben an der Straße Chris in der Mangel. Das war ein junger Punk, der aus einem Jugendheim ausgebüxt war und bei uns im Viertel lebte. Ein total flippiger Typ, immer Müll im Kopf und Quatsch machend. Aber eine Seele von Mensch. Zwei SEK-Beamte schlugen auf den ein, warfen den zu Boden. Da bin ich frontal auf die SEK-Typen zu und im Zick-Zack durch die durch. Die waren total verblüfft. Jedes mal bog ich ab, um den Einen rum, dann um den Anderen, denn es gab in ihrer Aufstellung immer wieder Lücken von ca. vier Metern. Die mussten ihre antrainierten Stellungen aber halten, sonst wäre ihre Art der eingeübten Mauer zusammen gebrochen und es hätte einen größeren Kampf mit anderen DemonstrantInnen gegeben. Ich war allein und jedes mal bog ich kurz vor einem Schläger wieder ab. Das irritierte die komplett, dass ein Einzelner das machte. Ich dachte auch gar nicht nach. Ich sah nur Chris, wie er vor Schmerzen schrie und rannte los. Die SEKler machten für mich eher den Eindruck wie ein Hindernisparquer. Mehr nicht. Mir kam auch sicherlich zugute, das ich nicht in autonomen Trachtenschwarz rumlief, so wie wir es damals Tag und Nacht, eigentlich immer, machten. Jeans, grüne Jacke, Schieberkäppi, so sah ich an dem Tag aus. Und so, oder ähnlich unauffällig sehe ich seitdem meistens auf Demos aus. Hat einfach Vorteile. Ich kam oben an der Straße an. Ein SEKler drückte Chris gerade das Knie in den Rücken, riss seine Arme nach hinten und schnürte den zusammen. Chris jammerte vor Schmerzen. Ich schrie den Polizisten an aufzuhören. Der aber reagierte nicht. Ich stand da allein. Und es waren noch andere SEKler in der Nähe. Ein Anwalt wollte den Namen von Chris wissen. Ich schrie den Polizisten weiter an. Der wider rum schrie mich und den Anwalt an. In demselben Moment kam ein SEKler auf mich zu und briet mir einfach Eine über. Ich konnte gerade noch meinen Arm hoch reißen und meinen Kopf schützen. Ich wich zurück, sah eine Bierflasche am Boden, hob die auf, schmiss die dem SEKler vor den Helm und haute ab.
Die Verhaftung lief dann routinemäßg weiter. Ich sah Chris am nächsten oder übernächsten Tag wieder. Er hatte viele blaue Flecken. Aber er war wohlauf, bester Laune und fluchte auf die Polizei. Er kannte Gewalt, und hatte als Kind und Jugendlicher schon viel unter Heimleitung, Behörden und Polizei gelitten. Es schien als ob das nur eine Erfahrung von vielen für ihn gewesen war.
Wir aus dem Viertel waren stinken sauer und auf der anschließenden Demo die Wütendsten und Lautesten.
Naja, und genau nach dem Wochenende war die Sache mit diesen fünf Nazis vor dem Viertel.
Azzoncao: Na, das klingt nicht mehr nach Panikreaktion wie ein Jahr vorher.
Paul: Nein, die Zeit und deine Erfahrungen ändern dich. Aber so etwas hält nicht an.
Azzoncao: Verstehe ich nicht.
Paul: Na, also bei mir. Also ich kann nur von mir erzählen. In dieser Zeit der permanenten Konfrontation war ich sehr schnell in einem Fight-Modus, wenn ich mal so platt sagen soll. Also Adrenalin sofort oben, Checken was geht, Abwehr und Angriffs – Haltung.
Meist ist es bei mir so. Erst werde ich etwas zittrig, fühle mich schwach, unwohl, dann gewöhne ich mich an die Situation und werde langsam fähig adäquat zu reagieren. So war es z.B. später bei einer Hausbesetzung 1990 im nahen Herne. Wir wollten die Kumpels besuchen, die die Besetzung gemacht hatten. Die waren aber schon geräumt worden. Mit gezogener Knarre waren die Bullen rein gestürmt und hatten die den Leuten an den Kopf gehalten. Als wir ankamen, saßen die Kumpels schon verschnürt im Hof. Die Bullen gingen mich und meinen Freund, der eine Flasche Sekt zum Anstoßen dabei hatte, total heftig an. Ich fühlte mich schwach und wehrlos. Die Einschüchterung wirkte. Zur Zeit des Heusnerviertels, vier Jahre vorher, hätte ich keine 5 Sekunden gebraucht, um in diesen Fight Modus zu kommen, hit and run. Daran habe ich gemerkt, dass man etwas kann, dass es aber immer auch eine psychische Disposition ist, die man gerade mitbringt, ob man das Abrufen kann oder nicht. An der sollte man arbeiten, bevor man sich in eine solche Stress-Situation begibt.
Azzoncao: In Herne? Mit `ner gezogenen Knarre? Waren die Bullen irre?
Paul: Was meine Kumpels nicht gewusst hatten war, das in der alten leerstehende Villa ein Aktenschrank mit sämtlichen Zivilschutzakten der Stadt Herne stand. Also was machen Stadt, Polizei, Militär, etc. im Falle einer Überschwemmung, eines Erdbebens, eines AKW-Unfalls, eines militärischen Angriffs. Also eigentlich top secret. Alles war in einem verschlossenen Metallschrank. Der Schrank hat meine Kollegen gar nicht interessiert. Den haben die einfach nur zur Seite geschoben. Na, und wenn die Bullen eine Anweisung kriegen, dann marschieren die auch sofort mit `ner tödlichen Knarre in Anschlag auf ein paar Hausbesetzer los. So sind die halt.
Azzoncao: Und hattet Ihr am, bzw. im Heusnerviertel noch mal Probleme mit Nazis?
Paul: Nicht das ich mich erinnern könnte.
Azzoncao: Und ihr seid öfters in Dortmund gewesen?
Paul: Ja, logo. Wir fuhren oft nach Dortmund, um die Autonomen gegen die Nazis zu unterstützen. Wir waren auf einigen Demos in der Nordstadt, vor allem zu der Zeit als die FAP dort ihr Bundesbüro eröffnet hat. Ich kann mich noch gut an eine Sache mit dem FAP-Büro in der Schlosserstraße erinnern. Da habe ich auch Lehrgeld gezahlt.
Azzonaco: Lehrgeld?
Paul: Ja, das man nicht allem glauben schenken soll, was man so erzählt bekommt. Besonders nicht von unseren Großmäulern und Pantoffelhelden, die auf Plenas und in Kneipen die Helden mimen, aber dann doch nur in der 10ten Reihe zu finden sind, um der ersten Reihe die Steine in den Nacken zu schmeißen.
Azzoncao: Drück Dich mal deutlicher aus.
Paul: Also in der Schlosserstraße, in der Dortmunder Nordstadt, wollte 1985 die FAP ein Büro eröffnen. Es gab da einige Demos, Kundgebungen, usw. So genau weiss ich aber nicht mehr den zeitlichen Ablauf.
Haha, ...(lacht)... Was ich aber noch weiss. Ich fuhr damals auf ein Plenum nach Dortmund und saß da mit meiner neuen Lederjacke in einer Fensternische und hörte mir alles an. Immer wenn ich mich bewegte, quietschte das olle Ding. Ich hatte das auf dem Flohmarkt für 150,- DM erstanden. Heute ungefähr 75 Euro. Damals total viel Geld für mich. Aber irgendwie gehörte das zu dem damaligen Muss.
Also es gab einen anderen Dresscode bei uns. Der war eher freakig, wild phantasievoll, selbermachen war angesagt. Kaputte Klamotten waren „in“, um der Gesellschaft unsere Verachtung für ihre bürgerlichen Werte, ihre inhaltslose Äußerlichkeit vorzuwerfen. „Schick und elegant will ich nicht sein, ...“ Das war so ein Song von damals. Teure Trendmarken trugen nur die Angepassten und die uns verhassten Popper. Gewisse Sachen waren dennoch bei uns ein Muss. Also schwarze Klamotten zeigten deine Bereitschaft zur Militanz und deine Zugehörigkeit zu einer eher der düsteren, skeptischen bis distopischen Subkultur. Buttons deine jeweilige politische Überzeugung. Das Palituch, noch aus den Siebzigern, deine antiimperialistische Grundhaltung. Eine irgendwie geartete Lederjacke machte aus dem Typ einem harten Kerl. Marke Rocker oder Straßenkämpfer. Und die Frauen zu coolen Ladys, Marke Gefühl und Härte. Das waren so unsere Codes. Naja, und weil ich dazugehören wollte, habe ich mir dann auch so ein Ding gekauft.
Damit saß ich dann in Dortmund und nervte die Leute um mich rum mit dem Geknarre der alten Jacke. Ich traute mich kaum zu bewegen. Irgendwann drehte sich vor mir eine Frau um und fragte mitleidig „Neu?“. „Ja“ meinte ich. „Na dann fette die mal ein, dann knarrt die auch nicht mehr so“. „Wie denn?“ Ja, Probleme hatte man damals... ... haha…(lacht)...
Na, auf jeden Fall ging es da hin und her. Wie und Was die Polizei machen würde. Wie man Helme und Knüppel hin bekommen könnte, etc. Es war eher langweilig, weil keine zündende Idee da war und alles auf der Stelle trat. Da stand ein Typ so um die 55 Jahre auf und meinte, was das hier denn solle? Sie hätten das früher mit einem Taschenmesser gemacht. Das Taschenmesser als Schlagring genommen, den Dorn für den Dosenöffner dabei raus und immer den Nazis voll in die Fresse. Was denn diese Debatte um Helme und Knüppel solle? Alle waren still. Ich fragte die nette Frau vor mir, wer denn das sei, der sei ja krass drauf. Die drehte sich wieder um und meinte, dass sei Kurt Piehl von den Edelweisspiraten. Ich hatte null Ahnung. Piehl? Edelweisspiraten? Was seien denn das für welche? Na Widerstandskämpfer, die damals gegen das Dritte Reich gekämpft hätten. Hammer, dachte ich. `Nen echter Widerstandskämpfer. Cool und der ist hier bei uns. Und der macht heute noch was. Whow. Ich war sofort Feuer und Flamme. Ich habe mich für das Thema brennend interessiert, viel gelesen. Ein paar Jahre später habe ich dann Kurt Piehl persönlich kennengelernt und er hat unser Antifa-Cafe 1992 eingeweiht. Der hat zur Eröffnung einen Vortrag über seine Zeit als Edelweisspirat gehalten. Ca. 50 Antifas und Punks waren da. Du hättest einen Stecknadel fallen hören können, so still war es. Alle Augen und Ohren hingen an seinen Lippen. Total cooler Typ, Bauarbeiter, der genau so redete wie hier im Pott den Leuten der Schnabel gewachsen ist. War eine super Eröffnung.
In den letzten Jahren habe ich dann noch Veranstaltungen und Interviews mit den Edelweisspiraten Jean Jülich und Mucki Koch aus Köln gemacht. Das ist aber eine andere Geschichte.
Azzoncao: Du springst ziemlich.
Paul: Sorry. Also ich bin also zu dieser Demo hin. Dabei hatte ich keinen Knüppel oder sonst was. Nur so einen Stift für Leuchtspur, wie er gerade bei den Hooligans in Mode gekommen war. Den hatte ich mir kurz vorher gekauft. Auch noch nie benutzt, wusste gar nicht was so ein Ding kann. Na, und da hieß es „Wir gehen jetzt zur Schlosser Straße“ und ich bin mit allen Leuten hin. Irgendwann war ich ganz vorne und ging im völlig normalen Tempo mit ein paar anderen Jungs in meinem Alter, die ich nicht kannte, auf diese Hofeinfahrt mit dem Tor zu. Vor dem Tor stand ein Bus und plötzlich kamen lauter Skinheads und Neonazis aus dem Tor. Es wurden immer mehr und sie begannen Steine und Flaschen auf uns zu werfen. Wie später raus kam, hatte die Stadt den Bus besorgt und der sollte die Nazis aus der Nordstadt fahren. Die aber wollten auf die Antifas los gehen und kamen auf uns zu. Ich wollte mich rückversichern, wer alles um mich herum stand, sah zu meiner rechten Seite fünf, sechs Typen. Drehte mich um. Und knapp 20 Meter hinter mir stand der große Pulk, alle die älteren Typen mit den Lederjacken und Helmen von dem DKP-Motorradclub „Kuhle Wampe“ und so weiter. Zwischen denen und uns sechs jungen Typen war sonst niemand. Und es kamen immer mehr Nazis aus dem Laden, so 20 Meter vor mir. Und die Ersten kamen auch schon direkt auf uns als „Prima Linea“ zu. So hatte ich mir das mit den Typen aus der Versammlung nicht gedacht. Solche Labertaschen und Maulhelden. Ich zog den Leuchtkugelstift und schoss auf einen Naziskin mit so einer Terminatorfresse, der sich direkt auf mich zu bewegte. Auf sieben, acht Meter war der schon an mir dran. Die Phosphorkugel jagte knapp über seinen Kopf hinweg. Er wich zurück und war nicht mehr so erpicht mir was auf`s Maul zu hauen... ...Ich bin froh, dass ich ihn nicht getroffen habe. Das hätte üble Verbrennungen gegeben. Nazi hin, Nazi her, das geht nicht... … Und dann ging der Tanz hinten los. Eine Gruppe SEK-Beamter griff die Antifas an. Wir Jungs machten, dass wir Land gewannen. Mittlerweile waren 40 - 50 Nazis vor uns und zig SEKler hinter uns. Als ich mich durch die abgestellten Autos zwängte drückte ich einem Ziviauto noch den abgebrochenen Flaschenhals einer Bierflasche unter den Reifen. Wenigstens das gelang mir.
Azzoncao: Du warst ziemlich sauer auf die Anderen?
Paul: Das kannst Du laut sagen. Wir hatten was verabredet und außer einer Handvoll hat sich niemand dran gehalten. Für mich hieß und heißt das, dass ich denen mit der größten Klappe am wenigsten vertraue. „Don`t judge the book from the cover“ und das hat sich seit dem immer bewahrheitet. Mir sind die Stillen und Ruhigen, die Besonnenen und Reflektierten lieber. Auf die ist im Endeffekt Verlass. Diese Macho-Proll Nummer, das sind meist nur Angstbeißer. Wenn es darauf ankommt, gefährden sie oft mehr alle Anderen, als das sie sich nützlich machen.
Azzoncao: Die FAP war also damals das Problem?
Paul: Na, es gab da ja noch die NPD und die DVU. Und natürlich Ende der 80er die REPS, die ihren Rassismus bürgerlicher und erfolgreicher betrieben.
Mit der DVU gab es mal `ne lustige Situation in Bochum. Später so Ende der 80er, ich glaube 1989. Da machten die eine Kundgebung auf der Viktoriastraße, kurz vor dem Amtsgericht. So 20 Nazis. Auf der anderen Seite waren so 150 Antifas. Die holten sich aus dem nahen Supermarkt Eier und bewarfen die Nazis.
Die eingesetzte Hundertschaft war zum ersten Mal im Einsatz. Ganz junge PolizistInnen, die sich eher einen Spaß daraus machten den Eiern auszuweichen, als einzugreifen. Nur die älteren Bullen drehten wieder völlig am Rad und wollten die Nazis schützen. Ich stand die ganze Zeit vorne am Wagen der Nazis. Schick und elegant, mit meiner neuen Angebeteten. Ich machte Nichts, bis sie das Rednerpult aufbauten. Da schnappte ich mir das Mikrokabel und rannte damit los. Ich kam aber nur ein paar Meter weit, dann stoppte mich das Kabel. Im entstehenden Tumult von Antifas, Bullen und Nazis gelang es mir, mich abzusetzen. Die DVUler versuchten dann den Ton wieder hin zu bekommen. Erst 20 Minuten später wollten die wieder loslegen. Da lief noch mal ein anderer Kumpel von mir durch das Kabel. Die Bullen hatten irgendwann genug von dem ganzen Tralafitti und schickten die DVUler nach Gelsenkirchen weiter. Alle hatten ihren Spaß und ich glaube das war der einzige Auftritt den die DVU je in Bochum hingelegt hat.
Zwanzig Jahre später erzählte mir mein Onkel noch eine Geschichte dazu. Er kam zu der Kundgebung und sah wie sich ein Typ in einer schwarzen Lederjacke über einen Gegendemonstranten beugte. Er dachte ein Nazi wolle einen Linken verprügeln und trat dem voll in den Arsch. Als der Typ hin flog, stellte sich heraus, dass es ein Polizist war. Mein Onkel nahm Reissaus. Schon toll, wenn man so einen Onkel hat.
Ok, die die richtig Probleme machte und durch ihre Gewalt auffiel war die FAP. Die baute sich seit Anfang/Mitte der 80er vorwiegend dadurch auf, dass sie rechten Skins, Fußballfans und Schlägern Anlass und Gelegenheit zur Gewalt gab und das Ganze ideologisch aufheizte. Im Ruhrgebiet war das vor allem in Hattingen, Witten, Dortmund, Wattenscheid, Essen und Duisburg. Dort kam es immer wieder zu Überfällen auf Linke und Ausländer, Läden und Parteibüros wurden angegriffen. Wehrsportübungen wurden bekannt, die Polizei hob Waffenlager der FAP aus, usw. usf .
Wir gingen also oft auf Antifa-Demos in andere Städte. Oder wie in Witten beteiligten wir uns an den Schutz von Antifaveranstaltungen und Konzerten. An Wittener, Bochumer und Dortmunder Gerichten gab es öfters Prozesse, wo wir bedrohten Leuten zur Seite standen. In Bochum kam es zu Massenschlägereien auf dem Gerichtsflur zwischen der FAP und uns. Also Siegfried Borchardt, Christian Sennlaub, Gisbert Reichelt, Frank Arens, Ferdi Kopperschläger und wie sie auch immer hießen. Solange bis die Gerichtsbeamten uns trennten. Dazu, also zu den Brandanschlägen auf linke Läden, Flüchtlingswohnheime, nächtliche Überfälle und und und kann man eine Unmenge Geschichten erzählen. Aber ich denke, das reicht jetzt mit den Erzählungen.
Azzoncao: Für einen groben Einblick alle mal. Hast Du denn noch schriftliches Material dazu?
Paul: Ja, etwas. Meist Sammlungen von Zeitungsausschnitten und Flugblättern, autonome Stadtzeitungen, den Rest als private Aufzeichnungen, Fotos und natürlich als Geschichten im Kopf. …
… Aber eins wollte ich noch kurz aus der Zeit des Heusnerviertels erzählen. Und zwar zur Ermordung von Günter Sare am Samstag den 28. September 1985 durch die Frankfurter Polizei. Die NPD konnte an diesem Wochenende im „Haus Gallus“ wo Anfang der 60er Jahre der Ausschwitzprozess in Frankfurt geführt wurde eine Versammlung abhalten. Eine unerhörte Provokation. Natürlich wurde dagegen protestiert. Am Samstagabend wurde ein Gruppe von Demonstranten von der Polizei gejagt, der 36 jährige Antifaschist Günther Sare von einem Wasserwerferstrahl umgeworfen und anschließend von dem 27 Tonner überfahren. Günther arbeitete in einem Jugendheim und gehörte zur Autonomen Szene in Frankfurt.
Von all dem wussten meine Freundin und ich Nichts, als wir damals aus unserem Spanienurlaub zurück und am Sonntag ins Heusnerviertel kamen. Dort war niemand anzutreffen. Keine Menschenseele war im Viertel, das war total gespenstisch. Wir sind dann zu meinen Eltern gefahren und mein Vater erzählte mir die Geschichte vom Vorabend. Ich weiss nur noch wie ich gedacht habe „Jetzt bringen sie uns um, jetzt bringen sie uns um.“ Tief in der Nacht trafen dann die Ersten aus Frankfurt ein. Sie berichteten von den Verwüstungen an Banken, Konsumtempeln und Pornoläden, die vorgenommen worden waren. Wie die Leute voller Wut und Zorn auf die Bullen losgegangen waren. Fast alle aus dem Heusnerviertel waren verhaftet worden. Den Knast hätten sie auseinandergenommen. Alle Sanitäranlagen, alles was nicht niet- und nagelfest gewesen sei wäre zertrümmert worden. Man sei auf einer Pritsche so lange herum gesprungen, bis der verankerte Stahlträger aus der Wand gebrochen sei, mit dem sie einen Durchbruch in die Nachbarzelle gestemmt hätten. Im zweiten Stock hätten sie von drei Ziegelreihen der Außenwand schon zwei Reihen heraus gebrochen, sonst hätten sie die Knastmauer aufgehebelt. Die entnervten und überforderten Bullen hätten schließlich Unmengen Leute entlassen, weil sie der ganzen Sache im Knast nicht mehr Herr wurden.
Wir fuhren umgehend auch nach Frankfurt. Aber da ging Nichts mehr. BGS, SEK, Hundertschaften von Polizisten belagerten die Stadt und die Demos wurden zu Gefangenentransporten. Überall in Deutschland knallte es. In Bochum gab es auch `ne Demo, die heftig von den Bullen angegangen wurde. Das war verdammt anders als heute. Naja, das wollte ich nur noch kurz erwähnen. Und natürlich, dass sich der Todestag von Günter Sare das nächste Jahr im September 2015 zum 30mal jährt.
http://wolfwetzel.wordpress.com/2010/05/10/der-tod-von-gunther-sare-am-28-9-1985
http://www.antifa-frankfurt.org/Sare/sare-aktionsbuendnis.html
Azzoncao: Ok, das war die Zeit, wo mehr oder weniger viele Autonome Antifa-Arbeit machten, aber es keine Antifa-Combo gab?
Paul: Für Bochum. In anderen Städten gab es schon Gruppen, die sich bewusst Antifa nannten. Also ich will sagen, dort entstanden explizite Antifagruppen früher als in Bochum. Vielleicht, weil dort die politische Lage anders war. Vielleicht, weil bei uns die ganze Häuserkampfzeit drei-vier Jahre länger anhielt als im Rest des Ruhrpotts. Was eine andere Szenestruktur hervorbrachte.
Zunächst aber war es mal dieses Logo der Antifaschistischen Aktion aus den Anfang der 30er Jahre das bei uns auftauchte. Man fand das immer öfters auf Flugblättern wieder. Meist als Bestandteil des Layout, später erst als Gruppenlogo. Ich glaube aus Witten oder Wuppertal stammt das Logo mit dem Schwarzen Stern und dem Anarcho-A im Kreis als Anfangsbuchstaben für Antifa. Das wurde zu unserem Lieblingslogo, weil da einfach sofort klar wurde, dass sind Autonome und Anarchos, kein Schnick-Schnack Verein, Pseudos oder K-Grüppler. Da weiss man, was Sache ist. Und das haben wir in den verschiedensten Konstellationen die letzten 28 Jahre immer wieder genutzt. Das Antifaschistische Aktion Zeichen wurde in Bochum meist von den jüngeren Antifas genutzt. Als es Mode wurde unter diesem Label zu laufen und sie dachten mit dem Logo würden sie was her machen. Das hat uns nie interessiert. Uns war wichtig, dass sofort klar war, hier sind die Egalitären, die sozialrevolutionäre Fraktion. Allein deswegen haben wir überhaupt ein Logo verwandt. Es geht um Inhalte, Ziele und soziale Strukturen, that`s it!
Generell war Mitte/Ende der 80er Jahre in der radikalen Linken und bei den Autonomen wahrzunehmen, dass sich ein Teil auf Antifapolitik spezialisierte. So wie es auch Fraktionen gab, die sich mehr um den Internationalismus, Militarismus, Stadtteilarbeit, Patriarchat, einzelne Großprojekte, oder andere Themen als Schwerpunkt organisierten. Die ersten regionalen und überregionalen Netzwerke entstanden. Ich denke auch die ersten Medien. Also die Atze in Kiel 1988, die Antifaschistischen Nachrichten, das Wuppertaler Infoblatt und auch in Berlin entstand das AIB. Ich hab noch die ersten vier AIBs, damals auf deutsch und türkisch. Die Zweisprachigkeit gab man ja dann leider auf. Übrigens ging es damals schon in den ersten Ausgaben um die Verschärfung des Asylrechts und Flüchtlingspolitik. Daran sah man die damalige Verzahnung der Antifas zu den sozialen Bewegungen. Broschüren, Dokumentationen wurden erstellt, die ersten Foto-Outings über die größten Schläger und Drahtzieher kursierten in der Szene, einige Bücher zum Thema erschienen, usw.. Vermutlich haben auch die ersten Antifa-Archive in dieser Zeit ihren Anfang genommen. Und es gab die ersten gezielten Anschläge gegen Wehrsportgruppen und Nazitreffs. Aus der Autonomen Bewegung heraus gab es ja Mitte der 80er viele militante Sabotagen und Sachbeschädigungen gegen alle möglichen staatlichen Strukturen. Und jetzt wurde dieses Mittel der direkten Aktion auch gegen rechte Immobilien, Fuhrparks und Infrastrukturen verwandt. Was sich Antifabewegung nannte nahm mittlerweile Gestalt und Form an.
… Also so habe ich das damals mitbekommen. ...
Die Strukturen waren natürlich regional verschieden, auch ob sich die einen mehr kommunistisch, anarchistisch oder autonom definierten, welche Leute mit welchen politischen Background bei der Antifaarbeit mitmischten. Die Qualität der Vernetzung und der Arbeit der Leute die darin mitarbeiteten war sehr unterschiedlich. Damals aber entstand das, worauf sich viele Linke und Subkulturen Anfang der 90er Jahre stützten, als nach der Wiedervereinigung die Naziszene boomte und die große rassistische Hetze der CDU gegen die Flüchtlinge begann und in den Brandanschlägen von Hünxe, Mölln und Solingen und den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock mündete. Also man konnte an die Arbeit der autonomen AntifaschistInnen der 80er, die über Ideen, Praktiken und Erfahrungen mit direkten Aktionen den Faschismus zu bekämpfen verfügten, anknüpfen. Die AntifaschistInnen besaßen, wenn auch kleine und marginale, Netzwerke, Logistik und Informationsstrukturen, die es auch anderen Linken erlaubte zurück zu schlagen. Nicht, dass es dies nicht auch bei anderen linken Gruppen und Strömungen, vielleicht sogar besser, gegeben hätte. Aber die Antifas besaßen dies spezielle Wissen über diesen politischen Sektor. Das hatte seinen Wert, weil das Rad ja nie neu erfunden wird. So wie wir ja auch von den Generationen vor uns gelernt hatten. Oder auch nicht, haha...(lacht)...
Heutzutage erscheint das Image und Auftreten der Antifas ja oft wie ein Retro-Stile auf die Autonomen der 80er Jahre. Was ein fake....haha...(lacht)...
Parallel zum Boom der Antifagruppen Anfang der 90er gab es natürlich die Entwicklung der antirassistischen Initiativen und Gruppen, die einen anderen Schwerpunkt hatten und wo sich autonome, aber auch humanistischen, christliche und demokratische Leute je nach Interessenlage organisierten.
Zwischen den 80er und 90er Jahren gab es große Unterschiede. Die Autonomen der 80er hatten eine andere Lebensphilosophie und Perspektive als die Leute in den 90er. In den 90er Jahren kam es mehr auf Verteidigung der generellen Grundrechte und des Grundgesetzes gegen Nazis und CDU/CSU an. Nicht so sehr wie in den 80er, wo es uns als diesen kleinen linken Rand gab, der einer sozial-revolutionären Utopie anhing. Oder mal so formuliert: Kämpft man als ganze Person mit revolutionärer Perspektive oder befindet man sich in einer Situation eines Abwehrkampfes in dem man den kapitalistischen Status Quo und die wiedervereinigte Republik vor einem Rechtsruck versucht zu bewahren? Das war ein enormer Unterschied. Das hieß eine Menge im Denken, Fühlen und Handeln. Für die, die die Zeit nicht mitgemacht haben, ist dies sicherlich schwer nachzuvollziehen. Zwischen diesen Jahren lag die Zeit der Wiedervereinigung, des nationalen Taumels, der widerwärtigen WM-Szenen auf den deutschen Straßen, der Kollaps der autoritären Linken in West-Deutschland, dem Utopie-Verlust so vieler Linker, etc. p.p..
Aus meiner Sicht hieß es Anfang der 90er auch, dass andere Menschen zur Antifa kamen. Menschen mit anderen Motiven und Beweggründen, auch anderen Sozialverhalten und oft schon reformistischen und kapitalistischen Maasstäben. Die Antifabewegung veränderte sich somit nicht nur in ihrer historischen Rolle und Bedeutung parallel zu den sozialen und politischen Veränderungen der 90er Jahre, sondern auch von innen heraus. Die Veränderungen in der Antifabewegung kannst Du gut über den Niedergang der politischen und sozialen Bezugspunkte, internen sozialen Strukturen und Ausrichtungen in den 90er Jahren erkennen. Und was seit dem Aufstand der Anständigen im Jahr 2000, den Anfüttern gewisser Antifastrukturen über Geld, Habitus und Pöstchen, dem Aufbau staatsloyaler Anti-Rechts-Strukturen wie Mobile Beratung, Opferberatung, etc. und der auf kapitalistische Verwertungsstrukturen ausgerichteten Antifamedienstrukturen stattgefunden hat, prägt das Gesicht der Antifa heute. Auch weil es eine radikale Linke, eine soziale und politische Situation wie in den 80er Jahren nicht mehr gibt. Die antifaschistische Bewegung hat sich seit den letzten 30 Jahren sehr verändert.
In den 80er Jahren war Antifa ein kleiner, dafür sehr gut eingebundener Bestandteil in einer allgemeinen Autonomen Politik. Sieht man sich die Flugblätter und Szene-Zeitungen der damaligen Zeit an, kann man das sehr gut nachvollziehen. Auch das Antifa immer aus einer antikapitalistischen und system-oppositionellen Perspektive betrieben wurde.
Ich hab einen Text von 1985 aus dem „Regenbogen“ Nr. 5, einem autonomen Stadtmagazin aus Dortmund abgetippt, damit man mal nachvollziehen kann, wie damals im Ruhrpott die Autonomen-Szene so diskutierte.
Azzoncao: Gab es neben der VVN und diesen verschiedenen Autonomen Antifagruppen weitere antifaschistischen Strukturen?
Paul: Inwiefern es noch andere Netzwerke jenseits der VVN und der Autonomen gab, kann ich nicht sagen. Ich glaube es gab noch Arbeitsgruppen vom Kommunistischen Bund, aber die waren wohl vor allem Ende der 70er, Anfang der 80er aktiv. Ich hab von denen noch `ne Broschüre gegen die Hartung-Bande aus Münster.
… Also, wie gesagt, ich kann nur das wiedergeben, was ich selbst für Bochum und den Ruhrpott wahrgenommen habe. Bundesweit und im größeren Überblick müsste man wohl noch mal Archive aufsuchen, oder Historiker befragen, die sich mit der Geschichte der Autonomen befassen. ...
Azzoncao: Wie lief das also für Bochum?
Paul: Also das Heusnerviertel erlag der städtischen Bau- und Repressionspolitik und der weitere Verlauf der Geschichte erbrachte unterschiedlichste Lebensbahnen für Leute. Ein Teil der Leute versuchte die Strukturen über Neubesetzungen zu retten. Die wurden aber sofort geräumt. Und so zogen sie in Wohngemeinschaften zusammen. Mich verschlug es in ein besetztes Haus in Bochum-Werne, wo ich noch mal 2 Jahre von 1986 bis 1988 wohnte. Hier begann dann für mich die Geschichte mit den organisierten Gruppen. Also nicht in dem Haus. Das war eher unpolitisch. Sondern in dem Stadtteil Langendreer.
Wie es genau anfing kann ich gar nicht mehr sagen. Ich glaube es war unser türkischer Gemüsehändler, der mir von einem Antifatreffen im Bahnhof Langendreer erzählte. Er und seine Freundin waren da drin. Die Gruppe hatte sich gerade erst gebildet. Und so bin ich einfach mal hin. Jetzt ohne die Strukturen des Heusnerviertels und immer an Antifaarbeit interessiert dachte ich, schau doch mal vorbei. Da waren so ca. 10 bis 12 Leute. Alle Möglichen, Arbeiter, StudentInnen, LehrerInnen, Zivildienstleistende, etc.. Zweidrittel Frauen und fast alle aus Langendreer. Was denen auf den Nägeln brannte war vor allem der Umstand, dass in den Bochumer Stadtteilen Langendreer und Werne immer mehr Naziaufkleber, Sprayereien und am Wochenende irgendwelche Skins und Nazis auftauchten. Das war die Zeit, als die FAP sich von Dortmund und Witten in diese Bochumer Stadtteile ausbreitete. So 1987 und 1988. So wurde erst einmal eine Stadtteilantifa aus dem Ganzen. Da wir aber in unseren fast zwei Jahren Existenz die einzige Gruppe waren, die in Bochum offen als Antifa auftrat und auch die Kontakte in alle anderen Städte suchte, galten wir vielen als die „Autonome Antifa“, obwohl sich die Meisten der Gruppe nicht als Autonome sahen.
Na, und irgendwie waren wir `ne Stadtteilantifa, aber irgendwie auch nicht. Wir mischten uns bei allen Sachen in der City, Wattenscheid, etc. ein. Wir machten nicht nur Stadtteilarbeit.
Azzoncao: Hatte Ihr einen Namen?
Paul: Antifa Langendreer, ganz simpel. Wie gesagt auf solche Attitüden wie autonom, revolutionär und dergleichen hatten die wenigsten Bock.
Azzoncao: Was hieß denn Stadtteilarbeit bei Euch?
Paul: Naja, also so richtig definiert hatten wir das nicht. Wir kamen zusammen, erzählten was, wer mitbekommen hatte, erkundigten uns bei unseren Bekannten, entfernten Naziaufkleber und Sprayereien. Ich begann mit einer gezielten Erfassung von Schmierereien. Also ich lieh mir von meiner Mitbewohnerin Kerstin ihren Hund Picco. Mit dem bin ich jeden Sonntag stundenlang die Straßen abgelaufen auf der Suche nach Nazischmierereien. Die habe ich dann in einen Stadtplan eingetragen und so herausgefunden welche Routen die hatten. Das checkte ich mit Kneipen, Bushaltestellen, etc. gegen. Also reisten die an? Gab es Anzeichen auf einen wöchentlichen Treff in einer Kneipe? Wohnte hier jemand? Etc.
Azzoncao: Und, hast Du so etwa rausgefunden?
Paul: Begrenzt. Wir konnten vor allem deren Agitationsfeld räumlich eingrenzen. Rund um das Flüchtlingswohnheim in der Krachtstraße in Werne, da wo 1987 auch ein Brandanschlag stattfand. … Ich habe das jetzt noch mal nachgesehen, müsste 1987, nicht 1988, gewesen sein. ... Wir nutzten das Wissen wo die Nazis plakatierten und klebten, um dort jede Woche gezielt ihre Sachen weg und unsere hin zu machen. Also um ihre Parolen zu übersprühen und unsere Aufkleber anzubringen. Das ging monatelang hin und her. Aber wir hatten einfach den längeren Atem. Das schien sie schließlich zu entmutigen. Ihre Propaganda wurde immer weniger. Aber es gab einen Brandanschlag, von dem wir stark vermuteten, das er auf das Konto der FAP ging.
Damals habe ich auch angefangen Fotos von Sprayereien und Demos zu machen und Protokoll zu führen. Also Namen, Adressen, Aktivitäten, Ereignisse, Autonummern, etc. zusammen zu tragen. Materialien, also faschistische Zeitungen, Aufkleber, etc. zu sammeln. Etwas was ich seit dieser Zeit mache. Das entstand damals. Ich wurde sozusagen zum Protokollant und Archivar. Als ich jetzt noch mal das Zeug rausgekramt habe, übrigens so kleine Kladden, alles noch handschriftlich, da habe ich entdeckt, dass dort Eintragungen sind über Thorsten Kellerhoff, der sich damals für die FAP in Witten auf einem Schulhof geprügelt hat. Heute ist Kellerhoff bei der rechten Hooligan-Fraktion Northside in der Dortmunder BVB-Kurve und hatte vor 8 Jahren den Thor Steinar Laden hier in Bochum.
Ich habe dann auch ein Diskussionspapier zu der Verbotsdiskussion zur FAP geschrieben. Also warum ein sozialer und politischer Kampf gegen die FAP sinnvoller, effizienter und nachhaltiger ist, als ein Verbot. Das war damals eine echt große Diskussion in der Linken. Es gab Ende der 80er Jahre auch zwei parallel laufende Demonstrationen in, ich glaube es war, Duisburg. Die Eine für ein Verbot, die Andere für die soziale Bekämpfung der FAP. Die eine von den reformistischen, also staatstragenden Flügel der Antifabewegung, also VVN, SPD, DGB und Co, samt DKP. Und auf der anderen Seite alle anderen Linken und Antifagruppen, links von denen. Beide Demos gleich groß.
… In der Gruppe kam das Archivieren und Papiere schreiben aber nicht bei allen gut an. ...
Azzoncao: Warum?
Paul: Einige waren befremdet, dass ich das so genau nahm, so strigent war. Denen reichte das mitmachen, dabei sein. Was nach vorne bringen, anleiern, Ziele setzen, das war denen fremd. Vielleicht war es auch einfach nicht ihre Stärke, die lagen vielleicht wo anders. Vielleicht befürchteten sie irgend etwas. Ich weiß es nicht.
Das habe ich aber immer wieder in allen Arten von Gruppen erlebt. Später habe ich mich nicht mehr von solchen Haltungen bremsen lassen, sondern habe die Sachen mit oder ohne die Leute gemacht. Denn auf die zu warten, die aus irgendwelchen Gründen nicht nach vorne kommen wollen, da kommst du im Leben ja zu gar nichts.
Azzoncao: Also Du bist jetzt bei 1987/88?
Paul: Ja. 1987 ging es ziemlich rund im Ruhrpott. Duisburg, Essen, Dortmund, Witten, Wuppertal und auch Bochum. So verstarb im August 1987 der Hitler Stellvertreter Rudolf Hess in Berlin Spandau. Die Naziszene drehte bundesweit auf. Seit seiner Verurteilung hatten die bundesdeutschen Nazis über Jahrzehnte seine Freilassung gefordert. Die jungen Nazis drehten nicht nur in Berlin vor dem Knast, sondern flächendeckend ab. Hier in Wattenscheid und Bochum sprühten und plakatierten sie wie blöd. Die S-Bahn-Station Wattenscheid-Höntrop war total zugebombt mit NS-Sprüchen. Ebenso die Markstraße in der Nähe der Prager Burschenschaft Arminia. Aber auch in anderen Bochumer Stadtteilen wurde nach dem Tod Rudolf Hess gesprüht und geklebt.
In dem heutigen „Hick Up“, der Kneipe an der Wittenerstraße in Dortmund-Dorstfeld versammelte sich am 22. August 1987 die FAP, zog unter Begleitschutz der Polizei nach Witten und marschierte mit mehr als 100 Mann Parolen gröhlend durch die Stadt. Auf dem Marktplatz bauten sie sich dann mit Hitler- und Kühnengruß auf. Alles unter den fürsorglichen Augen der Polizei. Ab 1988 gab es dann den Rudolf-Hess-Marsch in Wunsiedel, Bayreuth, usw.. Dem jährlichen Aufmarsch wurde erst durch jahrelanges massives Antifaengagement die Luft abgedreht. Einen Marsch mit 100 Nazis, das war für 1987 krass, was ganz Neues. Das hatte es so kaum gegeben. Ich habe die Videoaufzeichnung eines WDR-Beitrags davon auf einem landesweiten Antifatreffen in Bielefeld im Oktober 1987 gezeigt. Die Leute konnten es nicht glauben und viele wollten eine Kopie davon haben. Heute sind 100 Nazis auf einer Nazidemo ja nicht mehr viel. Aber in den 80er Jahren war das ein Hammer.
(https://linksunten.indymedia.org/de/node/22295)
Aber mal wieder zu Bochum zurück. Hier wurde 1987 z.B. eine Schülerin der Heinrich Böll Schule bedroht. Sie hatte wegen den Naziaktivitäten an den Schulen zu einer Schülerinnendemo aufgerufen. Naziskins versuchten ihr zweimal hintereinander die Etagentür einzutreten. Wir organisierten Nachtwachen zu ihrem Schutz. Auf der von ihr angemeldeten SchülerInnen-Demo liefen dann ca. 20 Nazis der Oi-Bois, teilweise mit Baseballschlägern auf. Es war unglaublich, die SchülerInnen hatten Angst, die Bullen machten Nichts, und ich stand da wie paralysiert.
Azzoncao: Warum?
Paul: Warum wohl. Ich wollte die wegklatschen. Nach all den Ereignissen der letzten Jahre stand das endlich an. Die Wuppertaler Antifas scharrten auch schon mit den Hufen und wollten endlich loslegen. Aber da kamen unsere Ex-Heusnerviertler und sagten Nö, sie hätten eine Vereinbarung mit den Schülerinnen, dass sie nur was machen würden, wenn es einen Angriff gebe. Vorher Nichts. So wollten ich und die Wuppis, aber dann hätten wir uns gegen die Entscheidung der Anderen gestellt.
Azzoncao: Und dann?
Paul: Die Nazis dackelten hinterher und griffen nach der Demo Schülerinnen auf dem Verteilerdeck des Hauptbahnhofs, bzw. der U-Bahn, an. Ganz große klasse. Mal wieder eine Lehreinheit, das man flexibel sein muss und die Gelegenheit beim Schopfe packen muss, solchen Leuten früh genug die Grenzen aufzuzeigen.
Zwei andere problematische Strukturen, die sich in den nächsten Jahren entwickelten und bis heute Gültigkeit haben, deuteten sich in dieser Situation an. Das der Szenehäuptlinge und des Antifaschismus als Randerscheinung/Nebenwiderspruch. Also, obwohl es Leute gab, die in dem Bereich Antifa schon lange aktiv waren, waren es andere, die Kraft Ansehen und Habitus in der allgemeinen Szene bestimmen wollten, was im Bereich Antifaschismus richtig und falsch war. Ohne von der Materie Antifa und ihren alltäglichen Zwangsläufigkeiten Ahnung zu haben.
Und Antifa als Randerscheinung, als Nebenwiderspruch. Dies in der Hinsicht, dass für viele Linke Antifa immer weniger wichtig ist und die darin Aktiven eine Funktion für die Szene zu erfüllen haben, meist weniger politisch im Kopf hätten oder auch nur Schläger sein.
Azzoncao: Versteh ich nicht?
Paul: Also nach dem Motto, Antifa ist ein Nebenschauplatz und deswegen erfüllen die dort Aktiven einen Service für die Szene. So `ne Art Feuerwehr. Ausschau halten, dann Alarm schlagen, hin, löschen und dann wieder Ausschau halten. So in etwa. Das wirklich Wichtige denken und machen Andere. Antifas sollten ihren Job machen und sich den großen Welterklärern anschließen. Egal ob theoretische Erkenntnisse aus den diskutierten Faschismustheorien oder Analysen der derzeitigen Rechtsentwicklung der Gesellschaft diesen Welterklärungen widersprachen und vielleicht auch eine Neuorientierung einläuten müssten. Egal ob alltägliche Notwendigkeiten und Erfahrungen eine Praxis und Praktiken hervorbrachten, die wesentlich näher an der Problemlösung lagen als die Kneipenstrategien und WG-Heereshügel irgendwelcher Szenehäuptlinge und deren Gefolge. Antifas haben aus dieser Sicht nur begrenzte Bedeutung und keine richtige Gesellschaftsanalyse. Du findest diese Sicht bei vielen Linken, sei es Szene, Parteien, Gewerkschaften und so weiter. Es ist ein Abklatsch diese hierarchischen und autoritären Denkens von wegen Haupt- und Nebenwiderspruchs.
In dem Zusammenhang will ich nur mal an das L.U.P.U.S. - Gruppen Papier zu den Libertären Tagen in Frankfurt 1986 erinnern. Und an das Papier von Klaus Viehmann und Co. „Drei zu Eins“ aus dem Jahr 1993 (http://www.idverlag.com/BuchTexte/DreiZuEins/DreiZuEinsViehmann.html). Sollte man sich zu Gemüte führen. Also in der Hinsicht Dinge mal zusammen zu denken und nicht hierarchisch.
Daraus erfolgt, dass Antifa auch nicht ernst genommen wird. Weder die Erkenntnisse und Erfahrungen, noch die Notwendigkeiten und Praktiken aus diesen Bereich. Und die Notwendigkeit sich mit diversen Tendenzen, Schüben, Entwicklungen zu reaktionären Gesellschaftsveränderungen auseinanderzusetzen wird als solche in eine Sparte und Nischenexistenz gedrückt. Dann wird alle paar Jahre wieder einmal über ansteigende Zahlen von rechter Gewalt und die steigenden Wahlergebnisse für Rechte gejammert. Aber ernst nimmt das doch so wirklich niemand. Durch dieses Sparten und Labeldenken, kann man eine gesamtgesellschaftliche Sicht schön aufteilen und sich immer in angenehme und bequeme Positionen und Nischen des Erfolgs, der demokratischen Stabilität oder der kleinen Szenerealitäten begeben. Auf der Titanic hat halt jeder seine Kajüte.
Für die ProtagonistInnen aus der Antifa heißt es, je nach Coleur und Fraktion, als Paradepferdchen gehalten und mittels eines Flugblatts, Thesenpapiers oder Presseerklärung durch die Manege traben zu dürfen und am Vorhang noch mal ein Zuckerle vom jeweiligen Häuptling zu bekommen. Wehe die leisten sich eine eigene Meinung, dann ist Schluss mit lustig. Die Parteien und Gewerkschaften halten sich dafür ihre WissenschaftlerInnen und JournalistInnen, die sich hier auf eine ähnliche Weise prostituieren dürfen. In der marginal-älteren Antifaszene gibt es so Manche, die mit diesem Habitus gut klar kommen und sich in dieser Rolle wohl fühlen. In gewissen partei- und staatsnahen Bereichen gibt es auch Geld dafür.
Diese Nummer bringt aber genau das für die Antifaszene mit sich, was man ihr immer vorwirft: Fachidiotie. Die in der Antifa aktiven Leute dürfen nur und machen auch dann aus Antifaschismus eine auf die Naziszene fokusierte Arbeit. Übergänge zur Ökonomie, Ökologie, Patriarchat, Migrationspolitik, Gesellschaftskritik gibt es selten. Mal lässt man hier und da was anklingen, dass Antifaschismus mehr als nur dagegen sei. Aber ich bitte Euch. Fragt man nach, findet man kaum mehr als bürgerliche Wertvorstellungen. In den 80er Jahren war so etwas wegen der Szenezugehörigkeit sehr, sehr selten. Seit den 90er wurde es mehr und heute ist das massiv. Je weniger linkes Selbstverständnis, emanzipatorische Kohärenz und Integrität, um so mehr Fachidiotie. Man kann sagen, dass in dem Wandel der Zeit, dies Hand in Hand ging.
Die Folgen können sich sehen lassen. Nach der NSU-Selbstaufdeckung jammerten die Antifa-Blätter von mangelnden Kontakt zur Migrationsgesellschaft. Dabei waren es vor allem die AutorInnen der antifaschistischen Medien, die diese Spaltung über 20 Jahre betrieben haben. Für die MigrantInnen oft nur den Status von Naziopfern hatten, die Zahlen für Statistiken darstellten, die die Wichtigkeit des eigenen Politikfeldes belegen sollten. Migrationspolitik, Abschiebungen, Bevölkerungspolitik, Homophobie, etc. das war für viele nicht das Thema und ist, wenn es überhaupt hochkommt, eine Kampagnen-Zeitspanne aktuell. Man sollte sich mal die Antifa-Gazetten nach dem NSU ansehen, ob sich daran ein Hauch geändert hat. Ich befürchte nein.
Anfang der 90er Jahre habe ich die Antifa-NRW-Zeitung mit gegründet und saß bis zum Ende in der Redaktion. Ca. 25 Prozent aller Artikel stammen von mir. Hab` ich mal nachgezählt. Darunter 1995 einer der ersten Artikel zum Antiislamismus. (https://linksunten.indymedia.org/node/17370) Artikel zu Abschiebeknästen, Anti-Ziganismus, etc.p.p., dieser Art Exoten in der Zeitung, habe ich eingebracht. Die Zeitung gab es vier mal im Jahr und erschien von 1993 bis 1998. Ich war damals das einzige Redaktionsmitglied, das die Zeitung 1998 weiter führen wollte. Alle Anderen sprachen von zu wenig Akzeptanz der Zeitung. Ich wollte erreichen, das sich die Themenschwerpunkte um genau die Themen Migration, Flüchtlingspolitik und Kultur erweiterten. Kein Interesse. Man sprach von der mangelnden Professionalität und meinte vor allem die eigene persönliche Perspektive, sprich die Anschlussfähigkeit und Verwertbarkeit der Antifaarbeit in der Gestaltung der eigenen wissenschaftlichen, journalistischen und politischen Laufbahn und Karriere. Die Zeitung wurde eingestellt. Im Jahr 2000 ging die Gründung der LOTTA auf meine Kappe. Ich suchte Leute zusammen, nahm meine Arbeitslosenkohle in die Hand, wir hielten die Redaktionstreffen an dem Küchentisch meiner WG ab, wir fotografierten, recherchierten und schrieben, ich organisierte eine Druckerei, trug mit den Anderen die Zeitungen zusammen, bewarb sie, etc.p.p. Was man so macht, wenn man ein „Baby“ zur Welt bringt. Die Geburtswehen sind schmerzhaft, der Kreissaal teuer. Genau zwei Ausgaben machte ich als Layouter, bevor ich ausstieg. Die Art der Fachidiotie, dieser Art der Professionalisierung, die Art Antifa-Arbeit zu betreiben, wie ich es kritisiere, schlug voll zu. Wen es interessiert, der kann sich ja mal die ersten Ausgaben besorgen.
Azzoncao: Das klingt ziemlich interessant, aber Du entfernst Dich immer mehr von den 80er Jahren. Hast Du nicht Lust das ein anderes Mal zu erzählen?
Paul: Warum nicht.
Azzoncao: Lass uns mal zu der Zeit von 1987 zurückkehren. Also zu den Nazigruppen, - clichen, etc.. Wer waren die Oi-Bois?
Paul: Eine Nazi-Cliche von Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren, die sich auf einem Spielplatz in der Diekampstraße, in der Bochumer City, traf. Es gab aber auch Ältere unter ihnen. In der Schmidtstraße schmissen sie Mitte 1987 zweimal die Fensterscheiben des Frauenbuchladens Amazonas ein, bzw. schossen sie ein. Sie trugen einerseits Bomberjacken und Docs wie Skins, aber auch Basecaps und Collagejacken. Eher eine Streetgang. Sie waren eng verbunden mit der FAP. Der Spielplatz strotzte nur so von NS-Symbolen und ihren Schriftzügen. In Langendreer/Werne sah man auch Schmierereien einer Gruppe, die sich Black Bois nannte. In der Zeit gab es einige Aktivitäten von Nazis an Schulen. Eine meiner MitbewohnerInnen war eine junge Punk-Lady. Sie und ihr Freund waren 1987 bei uns im Haus untergekommen, da sie aus Wattenscheid vertrieben wurden. Die Nazis jagten sie auf offener Straße, beschossen sie mit Leuchtspurmunition, usw. So waren die Beiden, auch Ex-Heusnerviertler, bei uns eingezogen. Sie war Schülerin und bekam dann an dem Altenbochumer Schulkomplex an der Querenburger Straße Druck von Nazischülern. Ca. 15 bis 20 Teenager, die begonnen hatten ihre Mitschülerinnen, die links oder punkig waren zu terrorisieren. Ich bin damals mit vier Leuten aus unserer Stockkampfgruppe auf das Schulgelände gegangen. Allein unser Erscheinen reichte aus, um die Cliche, die sich komplett auf dem Schulhof aufbaute einzuschüchtern und wie die letzten Bubis aussehen zu lassen. Dabei standen wir nur lässig rum. Aber vermutlich war es gerade das, was sie so verunsicherte. Das wir keine Angst hatten. Das lief in der großen Pause und alle anderen SchülerInnen bekamen das mit. Ihr Ruf war dahin. Zusätzlich machte ich über die Vermittlung meiner Mitbewohnerin eine Veranstaltung in der Aula der Schule. Die Lehrer hatten das Problem an der Schule erkannt und brauchten einen Referenten der Ahnung von der Situation in Bochum hatte. Also kamen sie auf mich. Vor ca. 400 Schülerinnen sprach ich über Neofaschismus. Als Bonus war noch ein baumlanger Red-Skin mitgekommen. Mit allen Drum und Dran, Bomberjacke, Docs, Glatze, aber mit Antifa-Buttons. Der war natürlich beeindruckender als ich. Nun ja, aus welchen Grund auch immer, die Mitbewohnerin und die anderen SchülerInnen wurden in der Zukunft in Ruhe gelassen. Das Naziproblem legte sich langsam an der Schule. Das war, glaube ich, 1988.
Azzoncao: Stockkampfgruppe?
Paul: Ach ja, irgendwann 1987 oder 1988 machte die Autonome Szene einen Infoladen an der Kohlenstraße auf. Dort konnte man philippinischen Stockkampf trainieren. Ich ging oft hin und war auch ganz gut darin. Dann begann ich auch mit Kung Fu. Zu der Zeit begannen viele irgendwelche Kampfsportarten zu machen. Karate, Kung Fu, und wie gesagt Stockkampf waren angesagt.
Azzoncao: Hast Du das jemals anwenden müssen?
Paul: Selten, es dauert etwas bis ich auf 180 bin. Aber dann mit durchschlagenden Erfolg, haha...(lacht)... Ich habe in Folge fast 20 Jahre Kampfsport gemacht. Am Anfang habe ich aus Angst das Kämpfen gelernt, später, als ich mir Selbst und meiner Fähigkeiten bewusst war, habe ich das Kämpfen aus Spaß an der Bewegung und Sportlichkeit betrieben.
Azzoncao: Noch mal zu der Schülerdemo im Jahr 1987 zurück. Das waren diese Oi-Bois von den die Bedrohung und Gewalt ausging. Es muss dich doch ziemlich angesickt haben, dass die Bochumer die Nazis nicht vertreiben wollten.
Paul: Aber hallo. Für mich war klar, dass ich mich unter einer solchen Ägide nicht begeben wollte, also unter der von Leuten die im Bereich Antifa wenig machen, aber die Spielregeln bestimmen wollen. Für mich wurde klar, dass man flexibel reagieren und auch eigene Bezugsgruppen für die Sicherheit aufbauen musste. Dann kam die Demo in Bochum Wattenscheid wo die Gewalt richtig eskalierte.
Aber vorher, Anfang September machten wir in der Halle des Bahnhof Langendreers noch eine Veranstaltung zu all den Vorfällen in Bochum. Es waren eine Menge Leute erschienen. Ich hielt den Vortrag, war aber derart erkältet, dass ich sofort danach nach Hause fuhr und mich ins Bett legte. Die Diskussion soll gräulich gewesen sein. Die Einen sollen den Anderen mangelnde Radikalität vorgeworfen haben, nach dem Motto ich bin toller als du. Der übliche Pissrinnenvergleich „Mein Schwanz ist länger als Deiner“, ich bin potenter, etc. Raus kam bei den Bemühungen zu der Veranstaltung nur, dass das Thema publiker und die gesammelten Erkenntnisse mehr Leuten transparenter wurde. Naja, wenigstens etwas.
Ein paar Wochen fragte mich einer der älteren Autonomen, ob ich mir vorstellen könne, dass die Nazis zu einem Brandanschlag fähig wären. Ich sagte nein, das würde ich ihnen nicht zutrauen. Er meinte, dass es einen Anschlag in dem nahen Flüchtlingsheim in der Krachtstraße gegeben hätte. Ich fuhr sofort hin, sah mir die Schäden an, sprach mit der betroffenen libanesischen Familie. Auch checkte ich die umgebenden Straßen und Plätze. Die war wieder voller FAP-Aufkleber. Ich sah den Verdacht bekräftigt, dass es ein Nazi-Anschlag war. Vor allem deswegen, weil die FAP in der damaligen Zeit damit begonnen hatte Brandanschläge auf Häuser zu machen, die von MigrantInnen bewohnt waren. Im Juni des gleichen Jahres verübten Mitglieder der Wittener FAP-Kameradschaft einen Brandanschlag auf ein türkisches Geschäft in Witten. 10 Menschen schliefen in dem Haus. Es ist nur einem Nachbarn zu verdanken, dass niemand zu Schaden kam. Er wachte über das Zerbersten der Frontscheibe des Ladens auf und konnte Alarm schlagen. Ansonsten hätte der rassistische Brandanschlag ähnlich tödlich verlaufen können, wie der im Mai 1993 in Solingen, als 5 türkischstämmige Frauen und Mädchen verbrannten.
Mich hat das gelehrt, dass man durchaus fehl liegen kann, wenn man meint, die Dinge im Blick zu haben. Das man das auf den Schirm haben sollte, Unrecht zu haben, und deswegen nicht vorschnell urteilen sollte. Und es war eine gute Erfahrung, zu den Flüchtlingen zu fahren und mit denen zu reden. Nicht nur die Informationen aus der ersten Hand zu haben, sondern auch den Flüchtlingen den support zu geben. Seitdem versuche ich immer mit den Leuten direkt zu sprechen. Oft gelingt mir das.
Es kam zu noch mehr Bedrohungen und Überfällen. So riefen wir am 30. Januar 1988 anlässlich des 55. Jahrestages der Machtübergabe an die Nazis zu einer Demo auf. Am Nachmittag organisierten wir noch Diskussionsrunden zu diversen Themen, auch zur Flüchtlings- und Asylpolitik. Weil zur der Zeit iranische Flüchtlinge eine Kirche in der Stadt besetzt hielten und einige von uns die unterstützten. Das Thema Flucht und Asyl wurde mittlerweile immer wichtiger. Am Abend gab es ein Konzert im Bahnhof Langendreer. Ich schrieb damals die Flugblätter, die ihr im Anhang sehen könnt. An denen könnt ihr so sehen, wie wir damals drauf waren.
...Wenn ich daran denke, dass ich über 25 Jahre am Bahnhof Langendreer Antifaarbeit gemacht habe, seit seiner Existenz, und uns dann von diesem Vorberg untersagt wurde zu der 25. Jahr-Feier des Bahnhofs einen Antifa-Stand zu machen, geht mir jetzt noch die Hutschnur hoch. Da hat sich der Bahnhof mit diesem Parteifuzzi von der „Die Linke“ echt was eingefangen. ...
Aber kurz vor unserer Demo gab es die Demo in Wattenscheid, organisiert von der VVN, DKP, Falken, etc. Noch auf dem Auftaktplatz der Demo gab es den ersten Stress mit Nazis. Ich geriet mit Tom Leese, den Skinhead-Anführer von Wattenscheid aneinander und die ersten Höflichkeiten wurden ausgetauscht. Falken und SDAJ machten auf dicke Ordnerdienst, hatten es aber nicht hin bekommen, den Naziskin von der Kundgebung fern zu halten. Als die Demo dann los ging, kamen wir an der Kneipe „Alt Berlin“ vorbei. Kaum waren wir auf der Höhe der Kneipe, als ca. 10 ausgewachsene Testosteron-Glatzen aus der Kneipe kamen, uns provozierten und mit ihren Biergläsern bewarfen. Wir waren ca. 400 DemonstrantInnen und einige gingen sofort zum Gegenangriff über. Da hinderten uns die Falken und SDAJ-ler an der Gegenwehr. Motto; „Nur nicht provozieren lassen, nur nicht provozieren lassen.“ Wir fügten uns knurrend drein. Die Demo ging von der City zur NPD-Landeszentrale in Wattenscheid-Günnigfeld und endete auch da. Ein schwerer Fehler, denn jetzt hatte unser toller Ordnerdienst ja Schicht und konnte nach Hause. Die waren so dämlich, dass sie nicht mal den Rückweg der DemonstrantInnen absicherten. Alle die, die sich nicht in Wattenscheid auskannten, nahmen nämlich den gleichen Weg zurück wie hin. Ich war in einer größeren Gruppe von ca. 80 Leuten, als aus dem „Alt Berlin“ ungefähr 20 Naziglatzen sich mit Gebrüll auf die Leute schmissen. Von den Angegriffenen gaben sofort 60 Kniegas und liefen dabei teilweise in eine Richtung, wo angeblich andere Nazis mit Baseballschlägern auf sie gewartet haben sollen. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich eine der übelsten Straßenschlägereien bei denen ich je anwesend war. Von allen unseren Fraktionen blieben immer nur ein paar stehen. Ob K-Grüppler, Autonomer, Kurde, Türke, wer auch immer. Immer nur ein kleiner Teil war stehen geblieben. Null problemo damit, wenn Leute sich 20 halbnackten, angesoffenen Naziglatzen nicht entgegenstellen wollen. Aber die Hasenfusstaktik, statt eines geordneten Rückzugs. Nee. Und dann unsere Folkloregruppe in schwarz, also unsere Autonömchen. Die waren die Ersten, die sich in Luft auflösten. Unglaublich. Aber zunächst musste ich den Anblick dieser Primaten verarbeiten. Mit freien Oberkörper im Winter, mit den Armen rudernd und Bierseidel schwenkend, Urwaldtöne ausstoßend, kamen sie auf uns zu. Einer davon mit Wikingerhelm. Ich kam mir wie in einer Tierdokumentation über Orang-Utans vor und stand staunend auf der Straße. Da fing der Spaß mit Tom Leese an. Der stand plötzlich vor mir und schlug mir unentwegt zum Gesicht. Ich wehrte wie im Kung Fu - Training ab, machte automatisch die Blocks. Irgendwann hörte er erstaunt auf, weil er kein mal durchgekommen war. Da zog ich ihm meinen Regenschirm über. Von der Seite sprang ihn ein Kumpel aus dem Heusnerviertel an und die Beiden entschwanden aus meinem Gesichtsfeld. Um mich herum boxten sich Leute allein oder mit mehreren gegen andere, sprühten sich CS-Gas ins Gesicht, traten Leute auf am Boden Liegende ein. Es war in der winterlichen Dunkelheit kaum mit zu bekommen wer wer war. Ich blickte zu der Kneipe und sah Klaus Kunold von der VVN wie er wie eine Eins Mitten in der Gasse stand und mit einer Fahnenstange den weiter anrückenden Nazis eine Sperre bildete. Respekt, der war damals über 50 Jahre und die Naziskins zwischen 20 und 25 Jahre alt. Jetzt ist Klaus schon einige Jahre tot. Schade, er war der Einzige der Bochumer VVN, der was auf dem Kasten hatte. Als endlich die Bullen eintrafen, lagen diverse Antifas und Nazis am Boden und wälzten sich vor Schmerzen. Das war übel. Ein Hoch auf den Ordnerdienst der Falken und SDAJ. Was für Looser. Anstatt die Ortsfremden umzulenken, den Bereich um die Kneipe vorsorglich abzusichern und vor Ort zu sein, waren die nicht zu sehen gewesen. Eine öffentliche Erklärung, eine Entschuldigung, dieser Looser hat es nie gegeben. Die hatten echt ausgeschissen bei den Rest der Belegschaft, vor allem den Antifas.
Azzoncao: Na, aber die waren doch auch gerannt.
Paul: Es ging darum den Job zu machen. Bin ich Ordnerdienst, Ermittlungsausschuss, Rechtshilfe oder dergleichen, dann verlassen sich die Leute auf mich, dann trage ich Verantwortung. Wenn ich den Job nicht mache, dann kann ich meinen Hut nehmen. Was glaubst Du eigentlich was passiert, wenn man diese Standards von Vollpfosten machen lässt? Meinst Du dann kommt noch jemand zur Demo, vertraut auf die Strukturen?
Na, und zu unseren Runaways. Jenen, die immer die große Klappe hatten. In den nächsten Jahren war es so, dass, wenn sie uns sahen, sie immer sehr kleinlaut wurden, weg sahen und ihr Maul hielten. Es ist einfach klar, dass Straßenkampf nicht für jeden ist, es auch nicht sein muss. Sich prügeln können ist manchmal eine zwingende Notwendigkeit, aber keine Qualität an sich. Und zeichnet auch niemanden als was Besonderes aus. Deswegen und überhaupt hält man aber seine Klappe und reißt sie nicht zu solchen Macho-Gelaber auf. Und wenn jemand die Fähigkeiten, die Kraft, den Mut hat sich auf der Straße mit Nazis oder Bullen zu prügeln, dann steht er in der Verpflichtung und Verantwortung dies zum Schutz aller zu machen, nicht um seinen eigenen Macho-Phantasien nachzugehen.
… Gepfiffen habe ich aber bei einer anderen Geschichte in dem Zusammenhang. 1988 gab es eine Reihe Prozesse gegen die FAP am Bochumer Landgericht. Ich staunte nicht schlecht, als ich ein Mädchen bei denen sah, das früher im Heusnerviertel verkehrte. Ich hatte mich mit der immer gut verstanden und setzte mich mit der zusammen, was uns von allen Seiten böse und misstrauische Blicke einbrachte. Beide wurden wir später von über unser Verhältnis und die jeweils andere Person ausgefragt. Ich war ziemlich perplex, was sie bei den Nazis machte und fragte sie danach. Die Banalität, wie und warum sie dort gelandet war, verblüffte mich. Wie dem auch sei, sie beschwerte sich, dass wir bei der Straßenschlacht so viele ihrer Kameraden mit Würfen von schweren Steinen verletzt hätten. Ich verneinte das, das wäre nicht vorgekommen und außerdem hätten sie uns und nicht wir sie angegriffen.
Azzoncao: Eine Frau, die zu den Nazis gewechselt ist?
Paul: Ja, das gab und gibt es in den proletarischen und subkulturellen Milieus. Vor allem dann, wenn Politik mehr eine anti-bürgerliche und anti-intellektuelle Attitüde, denn eine bewusste Haltung ist. Davon habe ich einige Männer und Frauen bei den Skins, Punks und auch sonst kennengelernt. Schmerzlich ist es, wenn du die Leute eigentlich magst.
Die Aussage richtet sich jetzt nicht gegen proletarische Subkulturen. So darf man das nicht verstehen. Denn die Allermeisten aus dem bürgerlichen Lager machen es ähnlich. Die kehren nach ein paar Jahren linker Szene zurück in den Schoß der Gesellschaft und drehen sich oft um 180 Grad. Hier vollzieht sich der Wechsel nur weniger abrupt und nicht so augenfällig. Also, dass Du heute mit Leuten ein Bier trinkst und die morgen auf dich losgehen.
Die Beispiele der letzten Jahre aus Wuppertal, Gütersloh, etc. zeigen auf wie aktuell diese Problematik ist. Nur das heute sogar Leute aus Antifagruppen zu den Nazis wechseln. Was ein sehr schlechtes Bild auf diese Zusammenhänge wirft, wo so etwas möglich ist.
Naja, und hier in Bochum schien es ja vor zwei, drei Jahren auch ähnliche Tendenzen zu Übergangszonen zwischen Jugendantifas und Autonomen Nationalisten zu geben.
Das was aber bei dieser erwähnten Geschichte 1988 so schräg war, war der Umstand, dass ich am selben Abend in unserem besetzten Haus mit ein paar Kollegen eines Mitbewohners zusammen saß. Zwei Sportler, Handballer, hockten da bei einem Bier und quatschten dummes Zeug. Als mein Mitbewohner, auch so eine sportliche Frohnatur, dazu kam, beschwerte er sich bei seinen Kumpels, dass sie ihm keine Steine abgegeben hätten. Ich guckte groß, wusste erst gar nicht worum es ging. Die erwiderten, dass er sich doch selbst Steine hätte besorgen können, ihre Steine hätten sie schließlich gebraucht und gut eingesetzt. Wie sich herausstellte, hatten sich die Jungs aus dem Handballverein an einem Schlagloch des Verbundpflasters bedient und diese zielgenau den anstürmenden Nazi-Skins von Wattenscheid einen Stein nach den anderen in den Brustkorb geschleudert. Deswegen hatte es die Nazis auch so schwer erwischt.
Durch diese Geschichte konnte ich sehen, dass man durchaus zur selben Zeit, an demselben Ort sein kann, aber durch die Perspektive einen ganz anderen Ausschnitt mitbekommt. Also ich denke, wenn man jetzt noch andere Beteiligte der Massenschlägerei auftreiben würde, dann gäbe es wohl noch eine dritte, vierte, fünfte Perspektive. Naja, das hier ist meine.
Und wieder mein altes Credo, die Nazis kriegen eigentlich von den ganz normalen Jungs und Mädels im Pott mehr auf die Schnauze, als von der politischen Szene. Die Drei waren sicherlich politisch irgendwie links, aber aktiv und organisiert in keiner Weise. Eher so die „Das-Leben-soll-Spaß-machen“ - Fraktion, die Kiffen und Häuserbesetzen cool fanden und eben mal mitkamen, weil sie Nazis Scheiße fanden. Als sie von den Nazis angegriffen wurden, haben sie mal ihre sportlichen Talente aus dem Handball raus gekramt. Basta.
Azzoncao: Die Wattenscheider Demo war kurz vor Eurer Demo?
Paul: Ja. Kurz vorher. Wir wollten genau solche Bedrohungen und Angriffe wie auf der Schülerdemo und in Wattenscheid nicht auf unserer Demo erleben. Alle DemonstrantInnen sollten sich sicher fühlen, ohne Angst demonstrieren können. Das hieß wir machten zur Demo eine Sicherheitsgruppe, die auflaufenden Nazis eine Ansage erteilen und wenn nötig vertreiben sollten. Ich war für die Gruppe verantwortlich. Kurz vor der Demo trudelten Typen der Oi-Bois und aus dem Umfeld der FAP ein. Ich war wegen all der letzten Vorfälle auf 180, wartete erst gar nicht ab, bis die Gruppe da war und saugte die an. Dass sie sich lieber vom Acker machen sollten, sie würden heute so was auf die Schnauze kriegen, dass ihre Mutter sie nicht wiedererkennen würde. Sie verzogen sich.
Azzoncao: Das klingt jetzt aber doch nach dicker Hose.
Paul: Ich würde eher sagen, dass klingt nach mir. Lange Zeit ruhig bleiben, schlucken, die Klappe halten und dann Explodieren.
Die Demo verlief mit 800 Leuten ziemlich erfolgreich. Auf der Höhe der Hauptpost an der Wittenerstraße nahm ich aus 100 Meter Entfernung vier Nazis auf dem Bürgersteig war, die den Arm nicht unten lassen konnten, den Hitlergruß zur Demo hin machten. Bevor wir aber noch da waren, hatte sich eine andere Combo aus der Demo gelöst. Das ging ruck zuck, da lagen die schon. Am Eingangbereich, ca. 30 Meter weiter, schien sich das Gleiche, nur viel gröber, abgespielt zu haben. Die Demo war ruhig weiter gegangen. Fast beiläufig wurde die ruppige Antwort auf die Provokation gutiert, Parolen gerufen und weiter gezogen. Im Grunde genommen vorbildlic. Die Polizei hatte Nichts mitbekommen. Da die nächsten Wannen 100 Meter weiter standen und die Straße sich zu ihnen etwas absenkte, konnten sie gar nicht mitbekommen was passiert war und sahen nur eine ruhig dahinziehende Demo. Perfekt.
Ein paar Tage später sah ich einen der Nazis aus dem Eingangsbereich der Post. Er hatte beide Arme eingegipst und lief so durch die Stadt. Nach dieser Demo hat sich in Bochum kein Nazi mehr getraut eine Antifademo anzugreifen. Das eine Bochumer Demo wieder mit Hitlergruß und rechtsradikalen Parolen provoziert wurde, dauerte fast 10 Jahre.
Die Diskussionsrunden am gleichen Nachmittag im Bahnhof Langendreer waren ziemlich gut besucht. Die Party weniger. Was schade war. Das lag aber daran, dass das Programm zuviel für einen Tag gewesen war. Die Bands waren super. Das war unser „Antifaschistischer Aktionstag“ 1988, vor 26 Jahren.
Es ergab sich aber ein Problem aus dem Ganzen. Die Nazis verorteten als einen Schuldigen der Schlägerei einen Schülersprecher der Heinrich Böll Schule und eine Rotte Nazi-Skins versuchte ihn öfters auf dem Schulhof und auf den Weg zur Schule abzupassen. Der Staatsschutz mischte sich ein, ermittelte gegen ihn. Er bekam darüber Ärger mit dem Direktor, der Schule, den Eltern. Alle erwiesen sich als höchst unsolidarisch. Abgesehen davon hatte er mit der Sache auch nicht das Geringste zu schaffen. Wir kümmerten uns so gut es ging um das Ganze. Aber es war echt hart für ihn zu Erleben, das es von den Eltern und der Schule keine Unterstützung bekam.
Innerhalb unserer Gruppe gab es dann Ärger. Er hatte sich an eine Rechtsanwältin um anwaltlichen Beistand gewandt. Sie war Mitglied unserer Gruppe. Sie wollte allen Ernstes von ihm Geld für ein Anschreiben haben. Von dem Teenager, der massiv unter Druck stand und kein Geld hatte. Der belangt wurde, weil er für eine Sache auf unserer Demo Ärger bekam. Er erzählte mir das, wir diskutierten das und zahlten der Anwältin das Geld. Waren aber echt stinkig auf die Frau. Das größte Problem war, dass sie noch nicht einmal den Konflikt sah. Nämlich ein Problem zu individualisieren, jemand damit allein stehen zu lassen. Und das, obwohl es einen kollektiven Beschluss von uns gegeben hatte die Demo zu verteidigen. Ob das jetzt jemand der Schutzgruppe war oder nicht, ob derjenige etwas gemacht hatte oder nicht. Egal, die Gruppe, das Kollektiv fängt die Kosten, die diversen Belastungen, die Bedrohung, etc. gemeinsam auf. United we stand, defeated we fall!
Das Jahr 1988 ging weiter. Die Nazis machten in der Region Wehrsportübungen. In Hattingen, Bochum, etc. Es kam zu Waffenfunden. Die Angriffe und Schlägereien gingen weiter. Ich weiß gar nicht mehr, wann die FAP das Guernica-Gemälde der Fachschaftler an der Ruhruniversität zerstörten. Das muss auch 1987/1988 gewesen sein.
Die FAP lief groß in Lütgendortmund auf. WAZ, RN, TAZ, WDR, etc. berichteten immer wieder von Borchardt und Co wie sie dort Terror machten, sprayten, klebten, Leute überfielen, Schlägereien anzettelten, von Wohnungseinbrüchen, Sachbeschädigungen, Überfällen auf die Bürgerinitiative, etc. Wir fuhren dort hin, um die Leute zu unterstützen. Ebenso nach Witten. Dort machten wir Nachtwachen in Flüchtlingswohnheimen, wo die FAP Molotov-Cocktails rein geschmissen hatte. In Witten gab es viele Angriffe damals. Anfang der 1988 begleiteten wir ZeugInnen und Bekannte auf Prozesse gegen die FAP und sorgten für deren Schutz. Oft kam es zu Schlägereien mit der FAP. Borchardt, Malcoci, Sennlaub und Co. inszenierten sich vor Gericht. Ich kann mich noch an einen Prozess am Dortmunder Landgericht erinnern, wo Borchardt und Co. minutenlang auf der Freitreppe „Schlagt den Linken die Schädeldecke ein“ skandierten.
Ach ja, noch mal kurz einen Blick auf die Bundesrepublik und ihre saubere Justiz. Im Juli 1987 wurde der Bremer FAP-Chef Markus Privenau zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Er war 1985 bei einem Waffenkauf für seine Wehrsportgruppe von einem Jäger überrascht worden und hatte diesen daraufhin erschossen. Das Jugendschöffengericht befand auf gefährliche Körperverletzung und fahrlässige Tötung. Angesichts dieser deutschen Traditionsjustiz gingen die Antifas in Bremen steil und es ging nach der Urteilsverkündigung vor dem Gerichtsgebäude richtig rund.
Es eskalierte zu dieser Zeit. Viel lief auch bei den Subkulturen gegen die Nazis und Skins ab. Da bekamen wir damals noch Einiges mit, wegen der Verzahnung besetztes Haus, Punkies, Kneipenszene, usw. Du hörtest immer wieder von Schlägereien, etc.
Irgendwann 1988 flog Siegfried Borchardt, der ja Anführer der „Borussenfront“ und Landeschef der FAP war, aus der Langendreer Kneipe „Locomotive“ raus. Die Kneipe lag genau gegenüber der S-Bahn Station „Langendreer - West“. Neben dem bekannten „Zwischenfall“, der bundesweiten Kultkneipe der Dark Wave und Gruftie-Szene. Beide existieren heute leider nicht mehr und LA 7, also der Stadtteil Langendreer ist schon lange nicht mehr das, was er damals war. An dieser S-Bahn Station, den Läden und Dönerständen trafst Du jedes Wochenende Punks, Grufties, Heavies, Vorstadtrocker, Kiffer, die ganze Palette an Subkulturen und proletarischer Vorstadtjugend. LA 7 war eine coole proletarische Wohngegend mit alternativen Einschlag. Borchardt kündigte an mit der Borussenfront wieder zu kommen. Mit ca. 40 Nazi-Skins rückte er am folgenden Samstag an. Die Bochumer Polizei fing die Nazihorde schützend am Hauptbahnhof ab und schickte sie nach Hause. Was ein Glück für die war, hatte sich doch die subkulturelle Jugend aus Langendreer auf die Auseinandersetzung vorbereitet. Auch unser besetztes Haus erfuhr von der Ansage. Leider erst ein paar Stunden vorher. Wir sind zu viert hin. 40 bis 50 Leute saßen und hockten so ab 18:00 Uhr dort rum. Du sahst alles. Knüppel, Eisenstangen, Ketten, Schlagringe, Messer. Und jede Menge Leute, die schon eine Flasche Bier oder Härteres in der Hand hatten. Nach einer Stunde bin ich und ein Kumpel abgehauen. Wir hatten auf diese Alk-Nummer kein Bock. Das die Nazis kommen sollten war ja auch bis dato ein Gerücht gewesen. Zwei blieben und erzählten uns später den weiteren Verlauf des Abends.
Ich erzähl mal das, was die Kumpels weitergaben: Irgendwann befand Einer man solle mal ein Plenum machen. Also diskutierten die Kiffer, Rocker, Punks, Heavies und wer auch immer da war, was zu tun sei, wenn die Nazis mit der S-Bahn eintreffen würden. Die Punks schlugen vor die Nazis mit Steinen einzudecken. Die Heavies erwiderten, dass würde doch Nichts bringen, dass sehe man doch an Wackersdorf und so. Sie wollten sich mit ihren Gasknarren an die S-Bahn-Türen stellen und die Magazine leer schießen. Das fanden die Punks scheiße, da würden doch auch die anderen Leute in der S-Bahn getroffen. Die Heavies sollen darauf erwidert haben, die Normalos seien doch schon längst von den Glatzen verprügelt worden. Irgendwann soll der Wirt der Kneipe „Locomotive“ erschienen sein und gesagt haben, dass man ja alles machen könne. Aber wenn hier scharf geschossen würde, wäre Schluss mit lustig. Dann würde er die Bullen holen müssen. Es war somit klar, dass auch scharfe Knarren im Umlauf waren. Naja, ich kann das nur aus eigener Anschauung über die damalige Prollszene in LA 7 bestätigen. So verlief also die Debatte. Ende des Liedes war, dass die Jungs mit Molotov-Cocktails auf den anliegenden Garagen standen, um diese über die S-Bahn in die Nazis zu schmeißen. Das hätte ein Massaker gegeben. Die Bullen werden das mitbekommen haben und deswegen die Nazis väterlich nach Hause geschickt haben.
Diese Geschichte ist von Kumpels, aber abgesehen von dem üblichen Räuberlatein das solchen Geschichten immer anhaftet, ist da viel Wahres dran. Auf der Ebene war damals das Niveau. Die 80er halt.
Azzoncao: Das hört sich ja ganz schön krass an. Und auch sehr aktionsorientiert.
Paul: Diskutiert wurden aber auch bei uns, theoretische Ansätze, also wie sehen wir Faschismus, bzw. unseren Antifaschismus. Aber wie schon gesagt, mehr in einer gesamtheitlichen Perspektive von Gesellschaftsveränderung.
Um unsere Langendreer Antifa hatte sich im Laufe der Zeit eine Gruppe gebildet, die Schutz, Nachtwachen und dergleichen machte. In dieser Konstellation fuhren wir dann auch 1989 nach dem Mord an Conny Wessmann nach Göttingen, usw.
Azzoncao: Seit ihr viel rum gekommen?
Paul: Mmmh, antifa-technisch? Nicht so viel. Also Demos in Oberhausen, Duisburg, Essen, Recklinghausen, Herne, Dortmund. Das war`s. Wir waren auch mal 1987 in Bielefeld zu einem Kongress und `ner Demo gegen die NF in der Bleichstraße. Aber eigentlich sind wir in der Region geblieben. Auf bundesweite Sachen hatten wir irgendwie keinen Bock.
November 1988 waren wir mal auf einer Internationalen Konferenz in Berlin. In einer Fabrik in der Osloer Straße. Das war aber, also von mir aus gesehen, weil ich immer an Internationalen Sachen Interesse hatte. Die Konferenz war auch echt super organisiert, mit interessanten Leute. Bloß die Berliner Antifa-Macker nervten.
Azzoncao: Wieso?
Paul: Naja, also ein paar Typen von der Organisation, die ich angesprochen hatte machten so richtig auf „Berliner Großkotz trifft Provinz“. Und darauf steh ich nun mal gar nicht.
Azzoncao: Und was war los?
Paul: Na, ...(lacht)... so eine typische Ruhrpott-Geschichte halt. Der Kameradschaftsführer der Essener FAP hatte sich im Ton vergriffen. Das machte der wohl öfters. Diesmal war er aber an die falschen Leute geraten. Er bekam Hausbesuch und durfte für zwei Wochen ins Krankenhaus. Das Ganze hätte niemand von uns mitbekommen, wenn nicht einem seiner Besucher das Nazizeug in der Wohnung aufgestoßen wäre. Der packte das rumliegende Zeug zusammen und lieferte das bei einem Linken ab. Der gab es wiederum mir, weil er meinte ich könnte wohl damit mehr anfangen. Ich staunte nicht schlecht über den Inhalt. Papiere des „Kommittees zur Vorbereitung der Feierlichkeiten zu Adolf Hitlers 100. Geburtstag“, des „Referat für Sicherheit“, etc.p.p.. Also alles Zeug von der internen Führungsstruktur der FAP. Selbst eine Erklärung eines Wittener VS-Spitzel, der sich von Christian Sennlaub und Christian Malcoci die Genehmigung zur Zusammenarbeit mit dem VS ausstellen ließ. Ich reichte das Ganze in die Antifastrukturen weiter und es wurde dann ein fetter Artikel im AIB daraus. Naja, und dann stehe ich einige Monate später in Berlin, zeige eine Liste der Sachen Zwei der Organisatoren, frage, ob sie etwas davon brauchen könnten. Der Eine checkt die Liste mit so einem völlig herablassenden Blick, meint hätten sie alles schon, und fragt, woher ich denn käme. Na, aus dem Ruhrpott, meinte ich. Da meint der doch allen Ernstes, wir sollten erst einmal Antifa machen, bei uns würde Nichts laufen, drückt mir die Liste in die Hand und haut ab....
...Schade das man Genossen nicht auf die Schnauze hauen darf...
...Berlin halt....
Azzoncao: Na komm, BerlinerInnen sind nicht alle so.
Paul: Aber viele. Die fühlen sich schon wichtig, weil sie in 'ner Großstadt leben. Was für eine Lachnummer.
Azzoncao: Was war das denn für eine Gruppe „Referat für Sicherheit“?
Paul: Eine interne Gruppe um die „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“, der GdNF. Die wiederrum war die Kernstruktur der ANS/NA und nach deren Verbot der FAP. Das „Referat für Sicherheit“ betrieb gezielte Anti-Antifa Arbeit, regelte die inneren Sicherheitsstrukturen der GdNF. Also z.B. dieser Vertrag über die Zusammenarbeit eines Kameraden mit dem Verfassungsschutz. Christian Sennlaub aus Witten und Christian Malcoci aus dem Rheinland zeichneten dafür verantwortlich. Die besetzten 1989 zusammen mit anderen Nazis für die KAH das dpa-Büro in Essen und hängten dort ein Transparent zu Adolf Hitlers 100. Geburtstag raus.
Damals deckte sich Christian Sennlaub mit Büchern über den bewaffneten Kampf ein. Ein Kumpel hat den gesehen, als der sich in einem linken Antiquariat an der Unistraße einem Buch über die RAF besorgen wollte. Später hat Sennlaub sich in den Knast auf Freiabo die Taz und andere linke Publikationen schicken lassen. Wir vermuteten stark, dass er bei dem Konzept „Eine Bewegung in Waffen“ mitgeschrieben hat. Auf jeden Fall war Sennlaub wie elektrisiert, als das im Prozess gegen die Nationale Offensive einige Jahre später vor dem Dortmunder Gericht zu Sprache kam. In dem Prozess kam ja auch zu Sprache, dass er Söldner nach Kroatien und Südafrika vermittelt haben soll.
Azzoncao: Also Bereich Rechtsterrorismus?
Paul: Ja sicher.
Azzoncao: Also Du warst jetzt 1988. Wie ging es weiter?
Paul: Ende der 80er Jahre gab es eine Reihe von Anschläge gegen die rechtsradikale Infrastruktur in Deutschland. In der Presse wie z.B. den Spiegel wurden damals Ursache und Reaktion umgekehrt. Es war von der „Bild am Montag“, wie wir auch den Spiegel nannten, ein eindeutiger Tendenzbericht für die Repressionsorgane und gegen Links. Ablenken von rechter Gewalt und Ursachen verkehren, nach dem Motto „Der Feind steht links“. Typisch Spiegel halt.
(http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13529754.html)
Azzoncao: Du warst neben deiner Antifa-Arbeit aber noch eingebunden in der Autonomen Szene?
Paul: Ja, sicherlich, wie alle Anderen auch. In der Zeit war ich sehr aktiv in dem neuen Infoladen an der Kohlenstraße. Mit Tresen-, Putz- und Kochdiensten, den Plenas, der eigenen Zeitung, den Parties, usw. Wir fuhren auf die diversen Demos, Anti-Apartheidsdemos, Demos zur Flüchtlingspolitik, zur Hungerstreikdemo der RAF im April 1989, etc.p.p.
Im Jahr 1988 war natürlich der Internationale Währungsfond, dessen Kongress und die Gegenaktionen in Berlin ganz großes Thema. Hier in Bochum gab es eine sehr gute Demo und die Leute fuhren auch nach Berlin. Der Begriff des „Neuen Antiimperialismus“ machte damals die Runde. Das Thema wurde leider sehr kontrovers in unserer Antifagruppe diskutiert. Die Einen wollten weg von der Antifa-Arbeit und sich nur noch mit dem Neuen Anti-Imperialismus auseinander setzen. Ich wollte das nur temporär, da ich davon ausging, dass nach einem halben Jahr die Kampagne in sich zusammenfallen würde und es weder eine theoretische noch eine alltägliche Praxis geben würde, die sich aus der Kampagnenpolitik entwickelt hätte. Für mich sah es so aus, dass man das Thema IWF aus einer antifaschistischen Perspektive beleuchten und die gesammelten Argumentationen aus der antikapitalistischen und anti-imperialistischen Debatte in die Antifastrukturen tragen sollte. Aber man kam auf keinen grünen Zweig. Inhaltlich machten sich da leider Unterschiede auf, die mit anderen Entwicklungen, wie Streits, Auseinandergehen von Beziehungen, usw. im Jahr 1989 zur Auflösung der Gruppe führten.
Ach ja, ehe ich es vergesse. Im Dezember 1987 gab es in Bochum zwei Hausdurchsuchungen wegen angeblicher Mitgliedschaft in den „Revolutionären Zellen“, bzw. der „Roten Zora“. Ein Jahr später wurden zwei Frauen aus der Bochumer Szene in diesem Zusammenhang in Beugehaft genommen.
(http://www.mao-projekt.de/BRD/NRW/ARN/Bochum_Repression_Frauen2.shtml)
Das beschäftigte auch die Leute aus unserer Antifa. Wir beteiligten uns an Versammlungen, Kundgebungen und natürlich an der großen Demo mit weit über 10.000 Linksradikalen am 11. Februar 1989 in Essen. Der wohl fettesten und größten Autonomen-Demo der 80er Jahre im Ruhrgebiet. Und dann dieser Fehler am Ende der Demo, in den Kessel vor dem Landgericht zu gehen. Vier SEK-Reihen vor uns und wir Bochumer standen da als erste Reihe. Was haben wir auf die Fresse gekriegt. Zwei mit Schädelbasisbruch, einem haben sie das Tonfa ins Auge gestoßen. Was sahen wir aus, meine Fresse.
Azzoncao: Das war dann aber schon 1989?
Paul: Ja, ja, also in dem Jahr als zum November hin der Prozess der Wiedervereinigung begann und die komplette politische Landschaft durcheinander wirbelte. Aber ehrlich mal, ich rede jetzt schon so viel. Lass uns kurz vor der Wiedervereinigung Schluss machen. Wir können mit der Vereinigung, der WM und all dem Zeug ein anderes Mal weitermachen. Ok?
Azzoncao: Ok.
Paul: Ich glaube es war Ende 1989 als Schluss war mit der Langendreer Antifa. Freundschaften und Beziehungen innerhalb der Antifa gingen auseinander. Die lokale Autonomen Szene wurde durch den Vergewaltigungsversuch eines Typen aus dem Infoladen an einem Mädchen gesprengt. Die nachfolgenden Auseinandersetzungen zerlegten die komplette linke Szene. Vor allem den Infoladen. Und auf der großen politischen Agenda wurde über die Wiedervereinigung die ganze Republik durcheinander gerüttelt.
Azzoncao: Also ein ganze Zäsur für die Bochumer Szene?
Paul: Ja, im Großen, wie im Kleinen.
Für mich fing mal wieder ein neuer Lebensabschnitt an. Ich begann eine Lehre und zog aus dem besetzten Haus aus. Auf das unpolitische Rumgehänge hatte ich keinen Bock mehr. Während ich mich einerseits immer mehr in die Tagespolitik und andererseits immer mehr in die historische Auseinandersetzung mit antifaschistischen Widerstand, Partisanengeschichte, Edelweisspiraten und Antisemitismus stürzte, feierten die MitbewohnerInnen lieber Party und hingen ab. Das war nicht so mein Ding.
1987 und 1988 war ich je eine Woche mit dem Dortmunder IBB nach Auschwitz gefahren. Die Internationale Jugendbegegnungsstätte Oświęcim war gerade funkelnagelneu. Es waren zwei sehr eindrückliche und prägende Wochen. Im Anschluss ging es das eine Mal nach Warschau mit Besuchen der Überreste des Warschauer Ghettos, des Pawiak Gefängnis und des ehemaligen GeStaPo-Hauptquartiers in der Aleja Szucha Allee. Das andere Mal ging es nach der Woche Ausschwitz nach Zakopane, nahe der slowakischen Grenze. In diesem wunderschönen Gebirgsort trafen wir auch verschiedene polnische Widerstandskämpfer, die uns durch ihre Geschichten außerordentlich beeindruckten.
Historischer und aktueller Antisemitismus wurden immer mehr zum Thema. Für mich, aber auch allgemein in der politischen Szene. Anfang der 90er machten wir einige Veranstaltungen dazu. Auch im Zuge anti-nationalistischer Kampagnen zur und nach der Wiedervereinigung.
Azzoncao: Aha, Antideutscher.
Paul: Hä? Quatsch. Die so genannten Antideutschen entwickelten sich erst Mitte, besser gesagt Ende der 90er aus den Spektrum der Antinationalen Linken heraus. Also dem Teil der linken Szene, die sehr praxisfern war, sehr ideologisch starr dachte und bei denen sich solche Gestalten wie Jürgen Elsässer exponierten. Nee, nee, check mal die Szenezeitungen und -publikationen aus der Zeit, also Ende der 80er, Anfang der 90er. Erstens haben damals sehr viele zu den Themen Nationalismus und Antisemitismus gearbeitet und zweitens gab es diese anti-nationale Spielart, diese Antideutschen, gar nicht.
Aber lass mal die 90er Jahre, wir wollten doch die 80er Jahre machen.
Azzoncao: Wie das klingt, scheint es so zu sein, dass mit der Wiedervereinigung das Kapitel der 80er Jahre abgeschlossen war?
Paul: Ja, das der 80er und natürlich der 70er. Das ganze Land und die Leute stellten sich neu auf. Das änderte unglaublich viel.
Azzoncao: Dann wollen wir mal hier Schicht machen.
Paul: Jawoll, Schicht im Schacht.
-----------------------------------------------------------------------------
Azzoncao: Na Paul, Du hast das Interview noch mal gelesen. Alles ok so? Kann man das so veröffentlichen?
Paul: Ja, ja. Aber schon irgendwie komisch. Also auf der einen Seite Anekdoten, die auf einen speziellen Ausschnitt des politischen Zeitgeschehens fokussiert sind und meist sich um Gewalt drehen. Und dann wieder soziale und politische Reflexionen.
Ich weiss nicht, ob das wirklich alles so gewalttätig war, ob das meine damalige jugendliche Wahrnehmung war oder erst durch meine Erinnerung so gefiltert wird. Denn ich kann mich auch an super schöne Momente erinnern, ganz anders. Aber die haben nicht viel mit Antifa zu tun, sondern mit dem Zusammenleben und -arbeiten mit den Anderen.
… Die 80er Jahre waren alle sehr verdichtet. Du warst fast jeden Tag unterwegs, wolltest die Welt verändern, jetzt und hier, tanztest auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig, hattest mit vielen Leuten zu tun, es passierte Unmenge parallel. Was damals in einer Woche ging, geht heute in drei Monaten. …
… Ich hoffe nur, dass die Leute mit meiner Geschichte `was anfangen können. ...
Azzoncao: Nun es ist halt oral history, erzählte Geschichte.
Paul: Ja, das finde ich ja auch gut an Euren Interviews, also dass man irgendwie Geschichten von vor 30 Jahren zu hören bekommt. Also wenn ich z.B. 1981 in der besetzten Bo-Fabrik in der Kneipe gesessen hätte und dann so ein grauhaariger Typ wie mein Vater an meinem Tisch gekommen wäre. Und der hätte dann erzählt, wie er in den 50er Jahren im Ruhrpott einer der ersten Rock `n Roller gewesen wäre, 1956 zu dem Bill Haley-Film „Außer Rand und Band“ - „Rock around the clock“ nach Dortmund gefahren wäre und sie dann sich mit der Polizei eine Straßenschlacht geliefert hätten. Wie sie gegen die erdrückende reaktionäre Zeit der Adenauer-Ära ihre Musik, ihre Bands und Konzerte, ihre Pettticoats, ihre Lederjacke und Schmalztolle, und ihre Mopeds, ihre Fahrten ins Blaue, ihren Tanz und das Zusammensein mit ihren Mädels gesetzt hätten.
Oder er hätte erzählt, wie er in der „ohne Mich“ Bewegung gegen die Militarisierung und Wiederbewaffnung Deutschlands angegangen wäre. Ihn hätten am 11. Mai 1952 die Bullen in Essen gejagt, weil er von dem Demoverbot Nichts erfahren hätte. Ein Verbot, weil man angab den Verkehr nicht regeln zu können. Wie die Bullen in die Demo geschossen hätten. Zwei Angeschossene, ein Gewerkschaftler und ein Sozialdemokrat. Dem zwanzigjährigen Kommunisten Philipp Müller haben die Bullen damals ins Herz geschossen. Notwehr nannte das Dortmunder Gericht diesen Mord. ...
... Da hätte ich ein Gefühl für Geschichte im Pott bekommen, also das es Leute wie mich schon immer gegeben hat, dass wir Wurzeln haben. Also politisch in Denktraditionen, historisch in Organisationen, sozial und kulturell in Milieus oder Schichten. Nur dass diese Geschichte niemand erzählt, dass sie weggedrückt wird, „kein schlechtes Beispiel“ geben soll. Damit Staat und Kapital sich alternativlos darstellen können.
… Ich lese total gerne Biographien von GenossInnen. Ich lerne immer wieder etwas über die Geschichte und somit über mich. ...
Azzoncao: Tja, jetzt wirst Du auch ein Teil der Geschichte.
Paul: Na denn: Heute ist nicht alle Tage, ich komm` wieder, keine Frage!
-----------------------------------------------------------------------------
Wenn der „schwarze Paule“ erzählt:
Bochum vor 30 Jahren (12.05.1983) - Blockade gegen den NPD Parteitag
https://linksunten.indymedia.org/de/node/86051
Die "Krefelder Krawalle" vor 30zig Jahren (25.06.1983)
https://linksunten.indymedia.org/de/node/89904
Hattingen: Rassistischer Brandanschlag vor 20 Jahren
https://linksunten.indymedia.org/de/node/88473
Azzoncao, ein Polit-Cafè
(Juni 2014)
------------------------------------------
Azzoncao, ein Polit-Cafè
c/o Bahnhof Langendreer
Wallbaumweg 108
44894 Bochum