Hattingen: Rassistischer Brandanschlag vor 20 Jahren

Hattingen; Brandanschlag 1993

Am 5. Juni 1993 kam es in der kleinen Ruhrstadt Hattingen zu einem Brandanschlag. In dem Haus einer türkischen Familie wurden im Erdgeschoß mehrere Brandherde gelegt. Der Familienvater war auf „Schicht“ während im Haus seine Frau und seine Kinder schliefen. Diese konnten dem Brand entkommen. Der Brandanschlag geschah eine Woche nach dem Brandanschlag in Solingen. Dementsprechend aufgeheizt war die Stimmung in Hattingen. Aber schon einige Tage später gaben die Behörden zu erkennen, dass sie gegen die Opfer und nicht gegen mutmaßlich rechte Brandstifter ermittelten. Den Spuren nach Rechts wurde bewusst nicht nach gegangen, ein Ermittlungsverfahren gegen die türkische Mutter eingeleitet.


Der Fall Hattingen stellt somit einen Vorläufer rassistischer und protektiver, profaschistischer Polizeiermittlungen schon lange vor dem staatlichen NSU-Unterstützer-Szenario dar.

 

Ein Interview und einige Publikationen über die Brandanschläge in Hattingen und Lübeck.

 


 

 

Azzoncao: Hallo Paul, Du hast damals zum Fall Hattingen recherchiert. Bitte erzähl uns von den Umständen des Brandanschlags.

 

Paul: Na, da muss man etwas ausholen. Ich glaube nämlich, dass diejenigen die den Anfang der 90er Jahre nicht live miterlebt haben sich das schwer vorstellen können. Zum einen, was das aufgeheizte Klima angeht. Zum anderen, was den alltäglichen Rassismus und Nationalismus angeht, die wir heute haben. Das wurde gerade damals ja inszeniert, als „rassistische Formierung“.

 

Azzoncao: Das ist nicht verständlich.

 

Paul: Ich meine damit, dass das was heute an rassistischen Zuschreibungen, kulturellen Rassismus und Sozialrassismus gegen Langzeitarbeitslose und Wohnungslose existiert. Der Nationalismus. All diese faschistoiden Ideen, die heute in fast aller Leute Köpfe und Münder sind. Das war damals nicht die Normalität. Das ist über eine Kampagnenpolitik der CDU und den Medien losgetreten worden. Im Schlepptau SPD und Co. Da wurde von Oben fleißig geackert, um das öffentliche Meinungsbild nach rechts zu rücken. Eine Einladung, die der rechte Rand der Gesellschaft gut zu nutzen verstand. Das haben wir damals „Formierung“ genannt. Also ähnlich eines Syndroms, wo verschiedene Faktoren, Interessen und Akteure zusammenkommen, die sich vielleicht in anderen Punkten widersprechen, aber punktuell zusammenarbeiten. Das Ziel in dieser „Formierung“ sahen wir darin, dass über einen breit installierten Rassismus und Standortnationalismus die Mächtigen gesellschaftsverändernd wirken können. Was dann auch geschah. Asylrechtsänderung, Lager, Abschiebegefängnis, etc.p.p.. Dafür suchten wir damals einen Begriff, der das alles irgendwie bezeichnete. Den Eigenbedarf und -anteil am Rassismus für Otto-Normalo ließen wir dabei nicht weg.

Später kamen dann die Auslandseinsätze am Hindukusch, um...wie sagte der sozialdemokratische Verteidigungsminister?... „Die Deutschen Interessen werden am Hindukusch verteidigt“..., der Sozialrassismus a la Hartz IV Gesetzgebung, der kulturell geprägte Rassismus, usw.. Das kann man dieser Formierung auch zuordnen. Aber all das konnten wir damals nicht absehen. Passt natürlich jetzt wie Faust aufs Auge und hinterlässt bei mir den bitteren Geschmack im Mund: Jau, war ja klar. Naja, und wir waren damals deutlich überrannt, kamen der rapiden Entwicklung weder von der Diskussion noch von Aktionen hinterher. Waren komplett in der Defensive und versuchten dennoch dagegen zu halten.

 

Azzoncao: Also ihr ward ziemlich konfrontativ.

 

Paul: Vom Lebensgefühl auf jeden Fall. Und, naja, von den Sachen, die wir versuchten zu machen auch. Obwohl das Meiste wirklich nur aufklärerische, karitativen und protestierenden Charakter hatte. Aber das störte schon sehr und den Behörden waren wir, also ich meine jetzt alle die so getickt haben wie wir, ein Dorn im Auge.

 

Azzoncao: Das hört sich bei vielen anderen Leuten anders an.

 

Paul: Wie denn?

 

Azzoncao: Na, radikaler.

 

Paul: Du meinst sicherlich die Nummer „Wir waren Helden“. Haha, mit wem hast Du gesprochen? Verrat es mir. Naja, es gab natürlich auch Highlights. Aber das war nicht die Norm. Der Alltag war sehr mühsam in den Antifa- und Antiragruppen in denen ich steckte. Und für viele Ex-Linke war das Nichts, das Leben musste ja auch Spaß machen, gelle? Den politischen Aktivismus organisierten die Meisten sich damit, dass sie die kleinen Gruppen die Arbeit machen ließen und dann vielleicht mal auf deren Demos gingen. Vermutlich hast Du mit solch gealterten Ex- und Sofalinken geredet? Möchte nicht wissen was Du da gehört hast, haha.

Wir machten über fünf, sechs Jahre durchgehend was. Also eigentlich durch die Woche durch, fast jeden Tag. Danach waren viele durch, ausgebrannt.

 

Azzoncao: Du redest in Wir. Wen meinst Du?

 

Paul: Na, die verstreuten radikalen Linken aus Bochum. Das waren, die verschiedensten Fraktionen die in den 80er Jahren in Bochum noch aktiv gewesen waren. Ich entstamme ja den Hausbesetzermilieu, das sich in dem Infoladen an der Kohlenstraße Ende der 80er Jahre wieder traf. Der Laden wurde von ca. 20 Leuten betrieben, 50 im engeren Umfeld und auf den Parties waren ca. 200 Leute da. Die Parties waren super. Selten so viel Spaß gehabt. Es gab die verschiedenen kleinen autonomen Gruppen, Anti-AKW Bezüge, Punkies, die ASU (Anarchistische Schüler Union), etc, p.p.. Wir hatten eine eigene kleine Zeitung, die „Aufruhr“, gingen gemeinsam auf Demos, etc.. Das war Alles noch vor der Wiedervereinigung.

In dieser Zeit kam es zu einem Vergewaltigungsversuch. Ich kannte beide Personen. Den Täter sowie auch das junge Mädchen. Für mich brach damals eine Welt zusammen. Ich hätte das keinen Typen aus meinem Umfeld zugetraut. Das nahm uns als Szene sehr mit. Die Diskussionen wurden sehr kontrovers geführt. Inhaltlich nicht sehr unterschiedlich, wurde aber hoch emotional und oft gegeneinander und sehr verletzend geredet und agiert. Die Quintessenz war, das alles auseinander flog und sich viele in unversöhnlicher Pose gegenüber standen. Das Umfeld hatte sich so gut wie ganz aufgelöst. Viele zogen sich aus der Szene zurück. Aber ich will das hier nicht ausführen. Ich würde dem Ganzen so auf die Schnelle nicht gerecht. Also cut.

Ich glaub es war 1991. Damals unternahm ich mit ein paar Leuten den Versuch ein Autonomes Plenum für die Stadt Bochum zu gründen. Es wurde schnell klar, dass die Gräben zu tief waren und dieser Versuch gescheitert war. Auf dem letzten Treffen kündigte ich an eine Antifagruppe gründen zu wollen. Schon vorher hatte ich mich mit Freunden an antirassistischen Altionen beteiligt, zu der Einführung der Lager hatten wir ein Plakat entworfen und versucht eine Gruppe zu bilden. Das hatte aber nicht funktioniert. Diese neue Gruppe traf sich dann in der IGA, Initiative Gefangenenarbeit, in der Düppelstraße. Sehr viele junge Leute waren gekommen. Dabei waren Einige, denen es sehr darauf ankam sich in Pose zu werfen. Diskussionen zu Inhalten wurden boykottiert und es wurde klar, dass es sich bei vielen der Youngsters um reines Peergroup Verhalten drehte. Welches Standing habe ich vor den Anderen, blabla. Na, da sind wir alten Hasen aus den 80er Jahren abgezogen. Wir waren zu viert, bald darauf zu acht und haben uns „Antifa die kleinen Strolche“ genannt. Dieses ganze Gepoose mit revolutionär und autonom, da hatten wir keinen Bock drauf. Wir fanden die anarchischen kids aus der Stummfilmzeit schon besser. Uns war das Handeln wichtiger als das Darstellen. Ein großer Schwerpunkt von uns waren Recherche- und Öffentlichkeitsarbeit. Und im Bahnhof Langendreer haben wir ab Februar 1993 ein Antifa-Cafe betrieben. Erst alle 2 Wochen, dann alle 4 Wochen. Ca. drei Jahre lang. Als Gruppe gab es uns ca. 10 Jahren und als informellen Kreis gibt es heute noch Kontakte unter uns. Neben der Antifaarbeit war ein Hauptanliegen von uns die antirassistische Arbeit. Wir hatten sehr viel mit der „Roma-UnterstützerInnen-Gruppe“ zu tun und arbeiteten zusammen bei Streiks und Besetzungen der Flüchtlinge aus den Containern und Lagern in Bochum. Unterstützten das Roma-Camp unter der Rhein-Knie Brücke 1991 in Düsseldorf, beteiligten uns an der Besetzung des Caritasbüro in Bochum wegen des Abschiebeabkommen nach Skopje, Makedonien, waren bei den ersten Demos gegen den bundesweit ersten Abschiebeknast in Herne, den Frauenabschiebeknast in Neuss und den bundesweit größten Abschiebeknast in Büren. Und so weiter und so fort.

Daneben machten wir eigene Antira-Arbeit. Also Aufkleber, Plakate, Nachtwachen in Flüchtlingswohnheimen, mobilisierten gegen den Asylkompromiss in Bonn, organisierten antirassistische Veranstaltungen und Filme in unserem Cafe, etc. Wir waren z.B. neben einer norddeutschen Gruppe die einzige Gruppe die damals die Macher von „Die Wahrheit lügt in Rostock“ eingeladen hatten. Zwei Rostocker aus dem JAZ waren gekommen und führten den Film vor. Ca. 80 Leute waren gekommen. Das wurde von der Besucherzahl nur von der Veranstaltung mit den US-Antifas und der Veranstaltung mit Stieg Larsson aus Schweden mit jeweils 100 Leuten übertroffen. Das Stieg Larsson, der Autor der Millenium Triologie, ein ausgewiesener Antifa-Experte aus Schweden war, weiss ja kaum jemand. Die Veranstaltung mit dem war nach der Zeit des Cafe. Und sie war echt klasse. Stieg im Anzug am Stehpult vor 100 Punkern. Super.

Da antirassistische Arbeit nur ein Teil unserer generellen Arbeit war, waren wir bei vielen praktischen Aktionen in Bochum nicht die Initiatoren, sondern eher das unmittelbare Supporter-team. Das führte aber auch zu Spannungen. Wir Antifas waren mit wenigen Ausnahmen Arbeiter, Proleten. Die Antira Gruppe Studierte, die dies auch gerne mal raushängen ließ. Es gab öfters Sprüche über Antifas im Allgemeinen, die sehr abwertend waren. Das führte auch dazu, dass ich später aus der Roma-Gruppe raus ging, wo ich auch Mitglied war.

 

Azzoncao: Mach das mal deutlicher.

 

Paul: Es fielen so Sprüche wie „Man sagt besser das den Antifas nicht, die haben nichts im Kopf und machen nur Ärger“. Das war glaube ich anlässlich einer Demo in Recklinghausen. So etwas halt. Naja, dieser Elite-Scheiß von wegen wir Intellektuellen checken halt alles. Für mich war an dem Moment Schluß, als ich in der Gruppe einen Vorschlag machte das Asylverfahrensgesetz, die Gutscheinpraxis und Lagerunterbringung auf einem Plakat als rassistische Politik zu bezeichnen. Da wurde mir vorgeworfen ich würde „Subsumieren“. Im Jargon dieser Leute hieß das, das ich verschiedene Widersprüche an denen die Flüchtlinge kämpfen würden vereinheitlichen wollte, ihnen die Sprengkraft nehmen wollte, ergo rassistisch bin. Da hat es mir gereicht. Ab dato wurde kein Handschlag für diesen Bezugsrahmen mehr getan. Da die jahrelang rumgelaufen waren und allen die nicht so antirassistisch wie sie waren das vorgeworfen haben, keine Öffentlichkeitsarbeit für ein politisches Umfeld gemacht hatten, sich nicht um Nachwuchs und Supporter kümmerten und auch auf soziale Treffpunkte keinen Wert legten, brannten sie irgendwann aus. Nur kernig und sich und andere funktionalisieren, da ähnelt du später mehr dem System, als ansatzweise einer linken Utopie. Die meisten von denen sind heute komplett von der Bildfläche verschwunden. Man muss halt noch Mensch bleiben.

Mir sind freundliche, kollegiale, korrekte Menschen lieber, als irgendwelche Piet-Congs, die mit politischen Millimeterbändchen die Welt vermessen. Für mich gilt: der Sozialismus ist sozial, oder er ist nicht.

 

Azzoncao: Das war also das wir?

 

Paul: Ja, sehr heterogen wie man sieht. Wenn ich mich recht erinnere, gab es also die beiden Antifagruppen und eine Menge freifliegender Antifas. Die Roma-UnterstützerInnengruppe, das Antirassistische Plenum und Leuten, die generell antirassistisch eingestellt waren. Dann noch eine Frauen-Lesben-Gruppe, die aber mehr unter sich blieb, aber immer mal wieder zu sehen war. Der „harte Chor“, eine autonome Kulturgruppe. Und freie Radikale, hahahaha, also Autonömchen. Ich glaub das war`s. Das waren die aktivsten Gruppen, die auch Kontakt zu den Flüchtlingen und sonstigen Angegriffenen suchten. Der Bahnhof Langendreer war mit der ökonomischen Absicherung seines Projekts beschäftigt und entfernte sich immer mehr aus der aktuellen und konkreten Politik. Das galt für sehr viele Leute damals. Und das lag nicht nur an der Wiedervereinigung und dem Nationalismus, der sich breit machte.

Ich habe da immer folgende Geschichte parat. Als das Pogrom von Hoyerswerda im September 1991 war kamen ca. 3.000 Leute auf eine Demonstration in die Bochumer City. Die Demo war von diversen Personen und Gruppen organisiert worden. Darunter auch unserer. Ad hoc, mit ganz schlechten Equipment. Ich weiß noch wie ich auf einem Elektrokasten stand und eine Rede geschwungen habe. Die konnten wohl nur 300 bis 400 Leute verstehen. Naja, aber es waren auf jeden Fall ein paar tausend Leute gekommen, um gegen den Rassismus zu protestieren. Im August 1992 war das Pogrom von Rostock. Damals kamen auf den Husemannplatz in Bochum mal gerade 600 Leute zu einer antirassistischen Demonstration zusammen. Also innerhalb eines Jahres nur noch 20 Prozent von dem Vorjahr. Gekommen waren ein Jahr zuvor alle Gesichter, die ich aus den 80er Jahren kannte. Und viele mehr. Selbst meine komplette Familie war erschienen. Die so genannte Szene war nur ein Teil. All die Leute repräsentierten den bewusst antirassistischen Anteil Bochums. Und 1992? Nur noch Szene. Die üblichen Verdächtigen. Autonome, Punks, Linke und wenige Bürgerliche. Mein Vater erschien und verblüffte mich mit der Äußerung, dass jeder tote Flüchtling die Regierung erfreuen würde, denn dann ginge ihr Kalkül auf. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Innerhalb eines Jahres mussten die 3.000 DemonstrantInnen aus dem Vorjahr erkennen, dass ihre Forderungen an die Regierung und die Behörden Menschenleben und -rechte zu schützen an die Falschen ergangen waren. Das diese Regierung kein Interesse an demokratischen Rechte für alle hatte. Bei jedem neuen rassistischen Artikel in den Medien und rassistischen Äußerungen seitens der Politik konnten die Menschen erkennen, dass nicht nur die Nazis ihre Gegner waren, sondern der Staat, seine Vertreter, die Parteien und Medien ihrer Vorstellung von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit dem Garaus machten. In Anbetracht dieser Gegnerschaft zogen sich viele zurück und nur die üblichen Verdächtigen protestierten. So erkläre ich mir den Rückzug vieler Menschen Anfang der 90er Jahre. Na, und die Grünen. Die waren ja mit der Karrieresicherung beschäftigt. Und die DKP und ihre VVN hatten, bzw. haben, bis heute ja noch mit dem Verlust ihres geliebten Vorzeigesozialismus aus dem Osten zu schaffen. Für die ist Antirassismus Wahlkampfthema, das gehört nicht zum Herzblut.

 

Azzoncao: Du wolltest was zum Klima erzählen.

 

Paul: Na, das war alles andere als gut. 1991 bis 1993 und darüber hinaus waren die Zeitungen voll mit rassistischen Zuschreibungen. Der Diskurs „Das Boot ist voll“ wurde von Springer bis zu Augstein, von BILD bis Spiegel, bedient. Breite Plakatkampagnen der BILD an jeder Haltestelle. Überall ploppten die Nazigruppen hoch und in der Stadt musstest du oft die Scheiße abkratzen oder deren Parolen übermalen. Es gab immer öfters Hauereien zwischen deinen Leuten und den Nazis. Ich erinnere nur an Silvio Meier, einem Berliner Hausbesetzer, der im November 1992 von Nazis erstochen wurde. Persönliche Gewalterlebnisse häuften sich und wurden extremer. Viele von uns machten ja Kampfsport. Dennoch hattest du zu der Zeit meistens noch was in der Tasche. Dann die Angriffe gegen Flüchtlinge, die Pogrome, Brandanschläge und Morde. Und die Politiker, die den Opfern die Schuld daran gaben. Die Zeit war echt übel.

 

Wir machten im Mai, Juni 1993 Urlaub in Frankreich, als der Brandanschlag in Solingen passierte. Wir hatten erst Station in Paris gemacht und uns auf dem Montmarte ein Zimmer gesucht. Abends waren wir dann in einem super netten Bistro. Man könnte sagen wie aus dem Film. Irgendwann kam die Chefin des Hauses zu uns und fing ein Gespräch an. Was denn los sei in Deutschland? Man würde so viel von Übergriffen und rassistischen Pogromen hören. Es war mir unangenehm all das bejahen zu müssen. Nicht wegen irgend einem gekränkten Nationalstolz oder so einem Quatsch, sondern weil es mir nur möglich war meine Ohnmacht angesichts dessen zu offenbaren. Als wir dann an unserem Urlaubsort waren kam in den Nachrichten der Brandanschlag von Solingen. Die französischen Medien waren voll davon. Unser Urlaub war dann auch keiner mehr. Denn Abschalten ging kaum noch.

Wir blieben also nur noch ein paar Tage und fuhren zurück. Und als wir in Bochum ankamen erfuhren wir, dass es in der Nacht zuvor einen Brandanschlag in Hattingen gegeben hatte.

 

Azzoncao: Womit wir beim Thema wären.

 

Paul: Ja. Wir sind dann zu dritt von der Antifa sofort runter nach Hattingen. Das sind ja keine 10 Kilometer von uns. Unten im Ruhrtal. Dort haben wir uns den Brandort angesehen, mit Leuten geredet und Kontakte zu Antifas gesucht, die wir aus Hattingen kannten. Der Bericht davon steht ja im Anhang dieses Artikels. Ich habe den damals für die Antifaschistische NRW-Zeitung geschrieben.

Wir reagierten auf den Brandanschlag in der Weise, dass wir bei dem Internationalen Kulturfest „Kemnade International“ ein Flugblatt über den Brandanschlag und die Hattinger Nazibezüge am Wochenende darauf verteilten. Die Burg Kemnade liegt ja genau zwischen Bochum, Hattingen und Witten und zu dem Fest kamen traditionell immer viele AntirassistInnen und Linke.

Schnell bekamen wir mit, das die Ermittlungsbehörden die Opfer zu Tätern machen wollten. Einige Autonome bildeten dann eine Gruppe zur Unterstützung der türkischen Familie, wir recherchierten weiter gegen die Nazis und die Mediengruppe „Klack Zwo B“ machte einen Film zu dem Brandanschlag. So versuchte die linke Szene gegen die rassistischen Ermittlungen seitens der Polizei und der Vorverurteilung der Presse vorzugehen. Was wir über die Ermittlungen, bzw. Nicht-Ermittlung seitens der Sonderkommission mit bekamen war echt die Höhe. Seit dem trau ich keinen polizeilichen Ermittlungen gegen Rechts mehr.

 

Azzoncao: Was machtet ihr genau?

 

Paul: Also für uns kann ich sagen, dass wir allen Sachen nachgingen, die Nazis in Hattingen betrafen. Leider kamen wir nicht sehr weit. Das was wir ermitteln konnten publizierten wir über die antifaschistische NRW-Zeitung. Die war kurz vor dem Brandanschlag in Solingen von verschiedenen Antifagruppen aus NRW gegründet worden. Es gab dann die Gruppe mit den Anwälten, die die Familie in dem Prozess unterstützte. Da weiß ich nur, dass die Anwälte sehr gut waren. Das habe ich in dem Prozess selbst mitbekommen, bei dem die angeklagte Mutter freigesprochen wurde. Es erschienen einige Artikel in der „Jungen Welt“ und ich glaube auch in der TAZ. Und natürlich die beiden Bücher, die dann 1996 und 1998 erschienen. An den Film kann ich mich nur undeutlich erinnern.

Der Prozess fand erst lange Zeit später statt. Das war 1996. In der Zwischenzeit hatten die gestreuten Gerüchte das Ihrige in Hattingen getan. Für die Familie begann ein Spießrutenlauf. Sie zog weg. Und schließlich auch in die Türkei. Selbst dort verfolgte sie noch das Gerücht. Laut einem WAZ-Bericht von diesem Jahr, scheint dieser Angriff und die Verdächtigungen von damals ihr Leben zerstört zu haben. Auch hier Parallelitäten zu den Hinterbliebenen der NSU-Morde.

Für die Stadt Hattingen war alles im Lack. Die Opfer sind die verdächtigen. Nazis gibt es hier nicht. Genau so wie es ja in Deutschland keinen Rechtsterrorismus gibt.

Als in Lübeck drei Jahre später zehn Menschen bei einem Brandanschlag in der Hafenstraße umkamen, lief der gleiche Horrorfilm ab. Nur viel heftiger. Hier waren Menschen gestorben und das öffentliche Interesse sehr hoch. Auch hier wurde einer der Flüchtlinge verdächtigt und gegen ihn ein Prozess eingeleitet. Wir haben damals auch von hier aus versucht solidarisch zu sein. Sind nach Lübeck gefahren, haben Veranstaltungen gemacht. Für uns war klar, dass hier der Rassismus und Faschismus seitens der Behörden gedeckt wurde. Und somit die Straftaten verlängert und die Täter ermutigt wurden. Eigentlich das Gleiche was im ganz großen Stil dann in Sachen der NSU passierte. Hattingen war sozusagen ein lokaler Vorläufer. Einer den wir nachvollziehen konnten. Ich denke es gibt sehr viele weitere Fälle.

 

Azzoncao: Das klingt krass.

 

Paul: Naja, ich kann noch mindestens zwei Fälle aus Bochum erzählen, die ähnlich liegen. Und einer ist gerade einmal eineinhalb Jahre her. Wenn ich dann noch Erfahrungen aus anderen Bereichen dazu nehme, verdichtet sich da meine Meinung..

 

Azzoncao: Da stellt sich die Frage nach Zufall oder Plan.

 

Paul: An Zufälle glaube ich bei dieser Häufung und den sich ähnelnden Mechanismen nicht. An einen Plan auch nicht. Ich bin kein Verschwörungstheoretiker. Ich denke, dass rassistische und nationalistische Grundeinstellungen, gepaart mit bürokratischer Ignoranz und Null demokratischen Bewußtsein seitens der Behörden diese Abläufe einleiten und so perfekt ablaufen lassen. Dazu die ähnlich gestrickten Einstellungen bei den Medien und die rassistische Grundeinstellung seitens der Bevölkerung. Das hier und da noch mal eine Weisung zum Schutz eines Nazis und V-Manns stattfindet fällt dabei mitnichten auf. Naja, das ist meine Theorie.

Eine Ahnung wie so etwas im Alltag funktionieren kann lässt sich vielleicht hier nachvollziehen:

https://linksunten.indymedia.org/de/node/77225

https://linksunten.indymedia.org/de/node/42044

 

 

Azzoncao: Danke für das Gespräch und die ganzen Materialien.

 

Paul: Gerne doch.

 

 

 

Fotostrecke zum Brandanschlag in Hattingen:

http://www.derwesten.de/staedte/hattingen/brand-in-der-unionstrasse-am-5-juni-1993-img1-zoom-id1795005.html

 

WAZ-Artikel aus dem Jahr 2013 zum Brandanschlag:

https://linksunten.indymedia.org/de/node/88436

 

Brandanschlag in Lübeck:

http://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%BCbecker_Brandanschlag

 

Im Anhang:

Der Lübecker Brandanschlag, Hrsg. Wolf-Dieter Vogel, 1996, Elefanten Press

Die Brandanschläge in der Barbarisierung der Gesellschaft, 1998, Schwarze Risse-Rote Straße

Artikel aus der Antifaschistischen NRW-Zeitung Nr. 2 und Nr.3

Dieses Interview, mit Artikel, als PDF-Version

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Bomben Artikel, richtig gut