Der Krieg im palästinensischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Nordlibanon endete am 2. September 2007. Mittlerweile wurde beinahe das gesamte offizielle, „alte Camp“ Nahr al-Bareds eingeebnet und der Wiederaufbau sollte in rund einem Monat beginnen. Entlang des alten Camps stehen allerdings noch immer die Ruinen von mehr als 200 Häusern, welche bislang für ihre ursprünglichen BewohnerInnen nicht zugänglich sind. Sie stehen unter alleiniger Kontrolle der libanesischen Armee.
Das Flüchtlingslager Nahr al-Bared besteht aus einem „alten“ und einem „neuen“ Teil. 1949 wurde das Camp auf einem Stück Land 16 Kilometer nördlich der libanesischen Stadt Trablous gegründet. Seit 1950 kümmert sich die UNRWA um die palästinensischen Flüchtlinge in Nahr al-Bared. Weil in diesem ursprünglichen, offiziellen Camp die Platzverhältnisse im Laufe der Jahre immer enger wurden, zogen viele, meist ökonomisch bessergestellte Flüchtlinge aus dem Camp aus und siedelten in unmittelbarer Nachbarschaft. Dieses Gebiet, welches zu den Nachbargemeinden Muhammara und Bhannine gehört, ist unter den Namen „neues Camp“ oder „Adjacent Area“ bekannt. Während die dort lebenden, registrierten Flüchtlinge natürlich Anspruch haben auf die verschiedenen Leistungen der UNRWA (Bildung, Gesundheit, Sozialhilfe etc.), hat die Agentur kein Mandat für den Bau und die Unterhaltung von Häusern und Infrastruktur in diesem Gebiet.
Rund einen Monat nach Kriegsende, Mitte Oktober 2007, erlaubten die libanesischen Streitkräfte LAF den ersten Flüchtlingen die Rückkehr in Teile des neuen Camps. Im Verlauf des Winters und des Frühlings 2008 zog sich die Armee aus dem neuen Camp zurück und übergab die Häuser ihren ursprünglichen BewohnerInnen. Der Rückzug war aber nicht vollständig: Bis heute sind noch rund 250 Häuser im neuen Camp, an der Grenze zum offiziellen Camp, durch Stacheldraht abgeriegelt, von den LAF kontrolliert und unzugänglich für ihre BewohnerInnen. Diese Gebiete werden im NGO-Jargon als „Prime Areas“ bezeichnet und sind unter den Flüchtlingen unter dem arabisierten Begriff „Primaat“ bekannt. Sie setzen sich zusammen aus A'-, B'-, C'- und E'-Prime (siehe Karte).
Unter den Flüchtlingen herrscht zum Thema der Primaat dieselbe Meinung vor wie hinsichtlich des Wiederaufbaus des alten Camps. Adnan, der im Corniche-Quartier, in unmittelbarer Nähe zu E' seinen Krämerladen hat, wartet vergeblich auf die Öffnung des Gebiets durch die LAF: „Sie sagen dir: 'Nächsten Woche, nächsten Monat.' Aber nichts passiert. Sie sagen: 'Wir müssen erst räumen, bevor die Leute hereinkönnen.' Das sind leere Worte. Niemand ist ehrlich. Sie lügen die Leute ständig an.“
Ähnlich ernüchtert und frustiert tönt es in den Bürocontainern der Nahr al-Bared Reconstruction Commission for Civil Action and Studies (NBRC), einem Grassroots-Komitee, welches stark in die Planung des Wiederaufbaus des alten Camps involviert ist. Abu Ali, einem sehr aktiven Mitglied des NBRC, gehört eines der 120 Häuser in E'. Er wartet seit 21 Monaten auf dessen Übergabe: „Die Armee sagt nun mal wieder, dass die Gebiete geöffnet würden, sie aber zuerst noch von Blindgängern und Schutt befreit werden müssen. Wo aber waren während der letzten beiden Jahren jene, welche für diese Arbeiten verantwortlich sind? Seien wir mal ehrlich: Dieses Gebiet könnte innerhalb eines knappen Monats von Bomben und Schutt befreit werden!“ Ismael Sheikh Hassan, freiwilliger Architekt und Planer beim NBRC, zeigt auf die LAF: „Hauptgrund für die lange Sperrung der Primaat ist die Armee. Bis im letzten Monat wurde auf der Kommandoebene kein Entscheid getroffen, den Leuten die Rückkehr zu erlauben.“
Seit Ende Mai scheint sich nun etwas zu bewegen. Am 19. Mai begann ein von der UNRWA beauftragtes Bauunternehmen mit der Räumung des Schutts in B' und auch die Demining-Teams nahmen ihre Arbeit auf. Am 3. Juni liess die UNRWA in ihrem wöchentlichen Update verlauten, ihre Vertragspartner hätten die Aufräumarbeiten in den Gebieten B' und C' beendet. In einem Treffen zwischen den LAF, Nahr al-Bareds Volkskomitee, den palästinensischen Gruppierungen und der UNRWA am 2. Juni eröffnete die Armee, dass sie die Rückkehr der BewohnerInnen in die Primaat innerhalb von zwei oder drei Tage erlauben werde. Bis am 11. Juni ist dies aber nicht geschehen. Ismael Sheikh Hassan sagt, Schuld seien Verzögerungen beim Demining und Aufschübe auf verschiedenen Stufen der Kommandostruktur der LAF. Man erwarte, dass B' und C' in den nächsten paar Tagen geöffnet werden. In B' handelt es sich um 40, in C' um 60 Gebäude. Die UNRWA liess am 11. Juni verlauten, die Armee habe ihr mitgeteilt, dass die ehemaligen BewohnerInnen von B' und C' am Folgetag zur Mittagszeit in ihre Häuser zurückkehren können.
Das Vorgehen der LAF wirft bei Abu Ali Fragen und Zweifel auf: „Wie konnten sie den Leuten im letzten Jahr erlauben, ihre Habseligkeiten in den abgebrannten, geplünderten und zerstörten Häusern zu holen, obwohl noch jede Menge Blindgänger herumlagen? Sie hätten das Gebiet räumen sollen, bevor sie die Leute hereinliessen. In diesem Gebiet sind viele Häuser nicht komplett zerstört, was die Entminung vereinfacht. Ich vermute, dass dort die Blindgänger längst geräumt wurden und dies nun als Vorwand vorgeschoben wird.“
Laut der UNRWA wurde beschlossen, dass die LAF und das Popular Committee verantwortlich sein werden für die Ankündigung und Koordination des Zeitplans und der Logistik für die Rückkehr der Familien in die Prime Areas. Nidal Abdelal von der Palästinensischen Volksbefreiungsfront winkt ab: „Bislang versteht weder das Popular Committee noch die UNRWA, weshalb die Armee die Primaat nicht übergibt, damit die Leute zurückkehren können. Die LAF legen die Termine fest, das ist schon vier oder fünf Mal passiert. Und bis heute gibt es ständig irgendwelche Probleme in den Details, die sie von der Übergabe der Primaat abhalten.“ Abdelal weist darauf hin, dass die ständigen Verschiebungen des Übergabe-Termins Skepsis und Besorgnis unter den Leuten verursache. „Sie bezeichnen sogar die UNRWA und das Popular Committee als Lügner. Sie sagen den Leuten einen Termin, aber dann wird er verschoben, dann einen neuen Termin, schliesslich wird auch dieser wieder verschoben. Am Ende sind die Primaat unter der Kontrolle der Armee. Sie ist verantwortlich für ihre Übergabe. Sie sollen sie endlich der UNRWA und dem Volkskomitee übergeben, so dass die Leuten dorthin gehen können.“
Wie viele andere Flüchtlinge auch, weist Abu Ali auf den Sommerkrieg von 2006 hin: „Israel warf im Süden eine Million Streubomben ab, aber die Leute konnten sofort in ihre Häuser zurückkehren, als der Krieg vorbei war. Wieso aber dürfen wir nach zwei Jahren noch immer nicht in unsere Häuser in den Prime-Gebieten zurück? Was ist der Grund? Klar, es hat dort zerstörte Häuser, das können wir sehen. Aber gibt es im 21. Jahrhundert etwa keine Geräte, um UXOs zu lokalisieren? Wir haben diese Fragen mehrmals der Regierung, Armeevertretern und Politikern gestellt, aber leider nie klare Antworten erhalten. Man vertröstete uns stets mit faulen, wenig überzeugenden Ausreden.“
Neben der bevorstehenden Übergabe von B' und C' stellen sich weitere Fragen, zum Beispiel jene, was mit den dortigen Gebäuden geschieht. Die Häuser in Primaat werden, wenn möglich, stabilisiert und rehabilitiert oder andernfalls abgerissen, falls der Besitzer damit einverstanden ist. Eine anonyme Quelle in der UNRWA weist darauf hin, dass wohl nur wenige Besitzer einen totalen Abriss ihrer Häuser bewilligen würden, da die Erfahrung gemacht wurde, dass die libanesische Regierung keine Bewilligungen für den Neubau von Häusern im neuen Camp erteile.
Bislang unabsehbar ist der Zeitpunkt der Übergabe von A' und E'. Ismael Sheikh Hassan sagt, es werde spekuliert, „dass E' und A' in den nächsten Monaten geöffnet werden. Aber natürlich gibt es dafür keine Garantien. Sicher ist, dass E' zuerst und A' zuletzt geöffnet wird.“ Der Zugang zu E' scheint von den Räumungsarbeiten in den beiden benachbarten Sektoren des alten Camps abzuhängen, weil diese noch arg mit Blindgängern kontaminiert sind. Laut Nidal Ayyoub von der UNRWA hat die Armee bislang keine Pläne für die Öffnung von A'.
Die Armee jedoch aber andere Pläne, und zwar für den Bau einer LAF-Basis in Nahr al-Bared. Am 16. Januar entschied zudem das libanesische Kabinett, in Nahr al-Bared eine Marine-Basis zu errichten. Beide Pläne betreffen vor allem A' und E' und den Küstenbereich des alten Camps. Im Frühling regte sich heftiger Protest seitens EinwohnerInnen des Camps und verschiedener Menschenrechtsorganisationen und die Pläne wurden nun angeblich fallengelassen. Das Vorgehen der LAF hinsichtlich der Übergabe von A' und E', wird wohl deren endgültige, zukünftige Pläne für Nahr al-Bared offenbaren.
a-films hat kürzlich einen 26-minütigen Film aus Nahr al-Bared produziert, der hier angeschaut und/oder heruntergeladen werden kann.
Auf unserer Website finden sich Hintergrundberichte und weitere Videos zu Nahr al-Bared.
Bisherige Artikel auf indymedia zu Nahr al-Bared Camp:
Nahr al-Bareds isolierte Ökonomie - Juni 2009
Wachsender Unmut in Nahr al-Bared - Mai 2009
Wiederaufbau ohne die Betroffenen - März 2009
Die Zerstörung des Flüchtlingslagers Nahr al-Bared und ihre Folgen - Februar 2009
Hintergründe zur Zerstörung von Nahr al-Bared - Mai 2008
Armee plündert und brandschatzt - November 2007
Rückkehr nach Nahr al-Bared - November 2007
Ein Bericht aus Beddawi Camp - November 2007