Unter dem Motto: "Machen wir einen Schnitt" steht im italienischen Val di Susa der "Tag der heiteren Seitenschneider" bevor. Zur Beibehaltung der Heiterkeit, die seit jeher die als "No Tav" bekannten Gegner der Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke Lyon-Turin kennzeichnete, hatte ein Aktivist aufgerufen, der sich am Donnerstag Abend mit weiteren 700 an den Entscheidungsprozess über eine an sich schon lange geplanten Initiative beteiligte, die nach den Auseineinandersetzungen in Rom am 15. Oktober mitsamt der ganzen No Tav Bewegung von Politik und Medien auf eklatante Weise kriminalisiert und denunziert wurde. Die Einrichtung einer Roten Zone im Protestgebiet dürfte den Erfolg der Aktion als solche beeinträchtigen. Politisch gewonnen hat die Bewegung angesichts des Drucks, dem sie ausgesetzt wurde aber schon jetzt, weil sie sich aller Hetze und allem repressiven Druck zum trotz am Donnerstag mit überwältigender Mehrheit für die möglichst heitere Beibehaltung des ursprünglichen Vorhabens, mit Bolzen- und Seitenschneidern massenhaften zivilen Ungehorsam zu betreiben entschied.
Die große Protestaktion, bei der sich die No Tav vorgenommen hatten, en masse einen Zaun zu beschneiden, war bereits seit mehreren Wochen geplant. Wie die Bahngegner aus den Westalpen eindringlich betonen, umgibt dieser eine illegal errichtete Baustelle, die zudem mitnichten der Durchführung von Untersuchungen der geologischen Beschaffenheit des Gebirges für den Bau eines 57 km langen Tunnels, gegen den sich die No Tav erheben dient, wie es von den Befürworten des Projekts behauptet wird. Tatsächlich fungiert die umzäunte Anlage vielmehr als befestigtes Polizeihauptquartier in strategischer Position, das über die angrenzende Autobahn jederzeit mit Nachschub versorgt werden kann. Selbst einige Kommunalverwalter hatten ihre Beteiligung an der Aktion angekündigt. In einer Erklärung teilten sie mit: "gerade als Verwaltungsbeamte und als als (gewählte) Vertreter der Institutionen sind wir der Meinung, dass wir ein Zeichen dafür setzen müssen, dass unsere Rolle nicht sein darf, dass wir die umfassendste Illegalität und die willkürliche Beschneidung grundlegender Leistungen wie Bildung, Gesundheit und Renten absegnen, nur damit nutzlose Vorhaben ja verwirklicht werden, die allein die politische Kaste bereichern". In einem Interview sagte einer der Unterzeichner der Erklärung: "Wir in Condove müssen einen Kindergarten erneuern, was 1,5 Millionen Euro kosten wird. Eine halbe Million kommt von der Regionalverwaltung, woher wir den Rest nehmen sollen, das wissen wir nicht. Ein Verwalter, der ein Gewissen hat, kann es nicht unterlassen, einzugreifen und mit den Worten aufzuschreien, dass wir uns an den Ruin unseres Landes beteiligen. Wir stecken Dutzende Milliarden Euro in ein nutzloses Werk und lassen alles, was an der Basis eines zivilen Staates ist verkommen. Der unsere ist ein Verzweiflungsschrei. All das, wegen einer Baustelle, die es nicht gibt. Es gibt ein von einem Zaun umgebenes nichts". Letzteres bestätigten auch mehrere Europaabgeordnete in einen Brief an Van Rompuy, Barroso und Buzek gerichteten Brief über die Lage im Susatal. Das Vorhaben der besagten Kommunalverwalter, selbst am Zaun Hand anzulegen könnte derweil Geschichte sein: wie es heißt, werden sie weiterhin am Protest Teil nehmen, jedoch nicht mehr zum Seitenschneider greifen. Die Drohgebärden des italienischen Staates waren unmissverständlich - Dutzende dürften jedoch gerne bereit sein, die eigenen Seitenschneider für ihre Kommunalverwalter mitzuschwingen.
Ob die geplante Massenaktion überhaupt eine Chance auf Verwirklichung hat, ist fraglich, wenn auch nicht gänzlich unmöglich, weil es viele Tausende sein dürften, die sich allen Einschüchterungen dieser Tage zum Trotz auf den Weg machen werden. Rund um die Baustelle, die Ziel der Aktion sein soll, wurde eine engmaschig überwachte Rote Zone errichtet. Im Umkreis eines Kilometers sind sämtliche Straßen, Wege und Trampelfade, die durch Wiesen und Wälder zur Baustelle führen, gesperrt - zum Errichten der Sperren wurden auf Betonsockel montierte Metallgitter und Nato-Stacheldraht verwendet. Gebirgsjäger der Carabinieri di Sardegna, weitere Carabinieri sowie Angehörige der Polizia di Stato und der Guardia di Finanza kontrollieren bereits seit 0 Uhr vom Samstag das gesamte Gebiet und die Zufahrtstraßen im Tal. Insgesamt sollen über 2000 Beamte der verschiedenen Polizeien verhindern, dass die Bahngegner den Baustellenzaun erreichen. Zusätzlich zu den Standard-Einsatzfahrzeugen stehen den Truppen auch 15 Iveco-Multifunktionspanzer vom Typ Lince und ein Geländetransportfahrzeug Bandvagn 206 von Hägglunds zur Verfügung. In den frühen Morgenstunden vom Freitag wurde die Wohnung eines jungen Aktivisten in der Kleinstadt Biella "präventiv" durchsucht - der junge Betroffene würde womöglich explosives Material zur Verwendung bei den Protesten im Susatal horten, begründete die Polizei die Aktion. In den frühen Morgenstunden vom Sonnabend stürmten Digos-Beamte die Wohnung einer Turinerin. Auch hier wurde nach "explosivem Material" gesucht, wobei hier weniger Eischüchterung walten sollte, sondern eher die Feststellung der Personalien von ausländischem Besuch. In beiden Fällen agierte die Polizei ohne Durchsuchungsbefehl. Das ist bei vorliegen des Verdachts, dass an einem bestimmten Ort Waffen oder Sprengstoff gelagert werden, möglich. Am Abend vermehrten sich Kontrollposten entlang der Verkehrsadern des Susatals, die sogleich begannen, auf Hochtouren zu arbeiten. Die Polizei soll mit einer Liste mit den Namen von 400 als "gefährlich" eingestuften Aktivisten versehen sein. Mancher Bahngegner wurde bereits zwei Tage vor dem Protesttag bis auf die Haut durchsucht - auch im Intimbereich. Gegen 11:30 versuchten am Samstag Angehörige der politischen Polizei Digos und der Carabinieri di Sardegna, die sonst gesuchte Schwerverbrecher jagen oder Auslandseinsätze absolvieren, die "Baita Clarea", eine von den Bahngegnern vor einem Jahr in einem Wald unweit der Baustelle erbaute Steinhütte zu räumen. Die Anwesenden konnten jedoch ihren Verbleib bis zum Sonntag Morgen durchsetzen. Sie harren nun von Polizei umzingelt in der Rozen Zone aus. 2 Hubschrauber kreisen unablässig über das Gebiet der morgigen Demonstration und auch in Turin machte ein Polizeihubschrauber, der einige zufällig an diesem Wochenende in der Stadt stattfindende politische Initiativen überwacht hartnäckig seine Runden. In langstreckenzügen werden mögliche Protestteilnehmer von Polizisten kontrolliert, die Regionalzüge ins Tal werden ohnehin überwacht.
Die unübersehbare Härte des Vorgehens gegen die No Tav Bewegung im unmittelbaren Vorfeld der Demonstration macht ein weiteres Mal deutlich, wie gefürchtet jenes Völkchen aus dem italienischen Alpental ist. Hartnäckig lassen sich die Bahngegner nicht spalten, wenn Behörden und Medien ihnen vorwerfen, dass in ihren Reihen Menschen seien, von denen Gewalt ausgehen würde. Jedes arglistige Konstrukt wurde bisher entlarvt, jede Lüge abgewiesen. Die No Tav bleiben dabei, dass die Gewalt in jeder Hinsicht von der Gegenseite ausgeht. Im Zuge seiner Ausführungen zu den Auseinandersetzungen in Rom am 15. Oktober vor dem Senat am vergangenen Dienstag problematisierte der italienische Innenminister Maroni die Haltung der Bahngegner ohne Umschweife: "Nach den Ereignissen in Rom lässt sich leicht vorhersehen, dass die Anstrengung zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung in unseren Städten einer Zunahme geweiht ist. Ich beziehe mich dabei auf eine Aussage eines der Organisatoren der Demonstration, die am kommenden Sonntag im Susa Tal abgehalten werden müsste". Bei jenem Mann handelt es sich um einen vormals lange Jahre in der katholisch orientierten Gewerkschaft Cisl aktiven pensionierten Bankangestellten. Ihm warf Maroni vor versammeltem Senat die Aussage vor, dass Steinwürfe, "ob richtig oder falsch, eine Reaktion" seien, dass er die Auseinandersetzungen in Rom damit kommentiert habe, dass er dem, was die Zeitungen schreiben nicht trauen würde und dass er darauf beharre, dass das Beschneiden von Zäunen kein Gewaltakt sei. Sämtliche vor dem Senat zitierten Aussagen waren aus dem Kontext gerissen - die umfassenden Argumentationen des Betroffenen und den jeweiligen Zusammenhang ließ der Immenminister selbstredend aus. Unterm Strich bleibt die Tatsache, dass er die Möglichkeit der Zunahme von Problemen bei der Bewältigung der öffentlichen Ordnung in einem möglicherweise heißen Herbst unmissverständlich mit der Haltung jenes von unzähligen in der No Tav Bewegung aktiven Angehörigen der Zivilgesellschaft hochverehrten und von radikalen Aktivisten durchaus geachteten Bahngegners in Beziehung setzte. Freudig teilte Maroni dem Senat anschließend mit, dass es ihm unter Hinweis auf den erwarteten heißen Herbst gelungen sei, dem Wirtschaftsminister eine außerordentliche Zuwendung von 60 Millionen Euro für die Sicherheitsbehörde abzuringen.
Die Ausführungen des Innenminsters wurden in den Medien umfassend aufgegriffen. Nach den Ereignissen am vergangenen Sonntag in Rom herrschte im gesamten Spektrum der italienischen Printmedien ein Einziges Thema, dass sich unter dem Motto "Null Toleranz für Gewalttäter" subsumieren lässt. Die Medien aus dem berlusconikritischen Lager standen den rechten und konservativen Medien bei der erbarmungslosen Anprangerung der direkten Aktionen und der Straßenkämpfe in nichts nach. Während die Bewegungen und die radikale Linke weitestgehend noch schwiegen, weil sie tagelang um vernünftige Einschätzungen der Ereignisse rangen, hob die linksliberale Presse den Randalierer unverzüglich an den Pranger. Leser, die am 15. Oktober mitdemonstriert hatten wurden aufgefordert, Bilder und Filme einzuschicken, damit man die Randalierer identifizieren könne. Tagelang grassierte eine hemmungslose Denunziationshysterie, die im linksliberalenn Lager darauf ausgerichtet war, die potenzielle eigene Wählerschaft so drastisch wie möglich gegen die institutionell nicht lenkbaren Träger des Protests aufzubringen. Für das linksliberale Lager stellte das Protestvolk vom 15. Oktober auf wahltaktischer Ebene eine wichtige Spekulationsmasse dar. Der Lauf der Dinge zerstörte das Kalkül mancher Linksliberaler gründlich. Die Gewaltfrage, die ohnehin ein probates Mittel zur Ausschaltung von nicht lenkbaren Trägern sozialen und politischen Unmuts ist, wuchs sich zum Hauptthema der Woche in der gesamten Medienlandschaft Italiens aus. Der vom Innenminister im Senat persönlich angeprangerte Bahngegner geriet eher in der norditalienischen Presse ins Fadenkreuz. Auf nationaler Ebene lieferte eine andere ebenfalls dem Senat vorgetragene Behauptung des Innenministers die Steilvorlage. Dieser hatte den Protest der seit jeher auf Schritt und Tritt mit unzähligen Kriminalisierungsversuchen konfrontierten Gegner der geplanten Hochgeschwindigkeitsbahn Lyon-Turin als das "ideale Labor zur Erprobung von aus dem klassischen militärischen (Einsatz von Katapultern, Rammböcken) und revolutionären ("Hit and Run" Übergriffe, Barrikaden) Repertoire bezogenen Praktiken" definiert. Dieses Labor sei vom "insurrektionalistischen Phänomen" ausgemacht worden, um jene Praktiken zu erproben und diese "mit Blick auf einen heißen Herbst auf dem Feld der Straßenproteste" nach entsprechender "Anpassung, in urbane Zusammenhänge zu exportieren". Mitte der Woche füllte das Susatal als Trainingslager für randalewütige Insurrektionalisten manche Zeile, anschließend folgte die Berichterstattung über die Sicherheitsmaßnahmen im Tal. Die Sozialdemokraten des Partito Democratico sah sich veranlasst, Parteimitgliedern dire Teilnahme am Protest im Susatal zu untersagen.
Am Donnerstag Abend war, wie eingangs berichtet, die Volksversammlung (assemblea popolare) im Susa Tal zusammen. Mit überwältigender Mehrheit entschied sich die Versammlung, der massiven Kriminalisierung zum Trotz am Vorhaben der massenhaften Beschneidung des Baustellenzauns festzuhalten - offengesichtig und unbewaffnet. Ob der eindeutigen Kriminalisierungsabsichten wurden drastische Tegeln aufgestellt. Wer sich traut, kann und soll versuchen, in die Nähe des Zauns zu gelangen. Wer sich nicht traut oder aus altersgründen nicht in geeigneter Verfassung ist, kann und soll im Dorf Giaglione direkt am Rande der Roten Zone bleiben. Kinder bleiben im Dorf und malen dort ein riesiges Bild, weil man den Ordnungshütern nicht traut. Alle verstehen sich als gleichermaßen an der Aktion am Zaun beteiligt, ob sie dort sind oder im Dorf bleiben. Sofern es gelingt, in die Nähe des Zauns zu kommen, sollen alle, die es schaffen, zur gleichen Zeit an den Zaun treten und ihn beschneiden. Niemand soll die Baustelle entern, sie ist ohnehin bloß fiktiv, der eigentliche Tunnelausgang soll an andere Stelle entstehen. Schwerpunkt ist die Aktion gegen den illegalen Zaun um das illegal besetzte Areal. Nach der Aktion wird gemeinsam der Rückzugangetreten. Bei Übergriffen der Polizei wird der Rückzug ebenfalls gemeinsam und ohne zu reagieren der Rückzug angetreten. Einen Ordnungsdienst gibt es nicht. Alle sind für alle verantwortlich. Wer die Regeln nicht einhält, wird allerdings nicht länger als Mitprotestiertender angesehen - was dann geschieht ist seine Sache, soweit die Beschlüsse der Versammlung, die darauf schließen lassen, dass der Wille groß ist, sich unter den gegebenen Umständen vor allem der rabiaten Kriminalisierungskampagne zu verwehren. Die Maßnahmen, die gleich am Morgen nach der Versammlung anliefen und die Art und Weise, wie sie durchgeführt und in den Medien propagiert wurden lässt auf den unbedingten Willen der Gegenseite schließen, den Zorn manchen Protestieres herauszufordern. die letzte Provokation traf am Samstag Abend über die Medien ein: pünktlich zum Tage des Protests im Susatal wird in allen italienischen Zeitungen die Nachricht prangen, dass die Carabinieri am Samstagnachmittag einen Studenten aus Ariano Irpino verhaftet haben, dem versuchter Mord vorgeworfen wird, weil er am 15. Oktober an der Inbrandsetzung eines Carabinieri-Einsatzfahrzeugs in Rom beteiligt gewesen sein soll. In schönster Übereinstimmung mit den Berichten des italienischen Innenministers im Senat wird zur Stunde in jeder einzelnen Meldung hervorgehoben, dass der Mann zum Zeitpunkt seiner Verhaftung auf dem Weg ins Susa Tal gewesen sei, welches er bereits im Sommer schon besucht hatte. Die Betonung einer angeblichen Verbindung zum Susatal stand bereits in ersten Meldungen im Vordergrund, die außer des Tatvorwurfs keinerlei weitere Details zur Angelegenheit zu bieten hatten.
Videos vom 22.10.
Die Werbetrailer lassen sich durch klicken auf das weiße Kreuz oben rechts ausschalten
Betonblöcke versperren die Waldwege
http://www.youreporter.it/video_NoTav_blocchi_di_cemento_bloccano_i_sent...
Stacheldraht für die Rote Zone
http://www.youreporter.it/video_Chiomonte_filo_spinato_israeliano_che_ci...
Michelino Davico, Sekretär im Innenminsterium, beim Rundflug über die Rote Zone mit dem Turiner Polizeipräsidenten
http://www.youreporter.it/video_NoTav_elicottero_polizia_sorvola_Val_di_...
Geisterdorf Chiomonte:
http://www.youreporter.it/video_Coprifuoco_a_Chiomonte_neanche_un_anima_...
Livestream
Stand 11:30
Livestream II
60000
Livestream Regional TV
liveticker ?
gibt es einen liveticker (zb auf indy italien) auf englisch oder gar deutsch? ansonsten kann ich den livestream von "corierre" (http://videochat.corriere.it/index_H2402.shtml) empfehlen - solidarität mit dem widerstand "no tav"!
Bildergalerien bis ca. 13:00 Uhr
Leute am Zaun!
Die "No tav" Bewegung hats an den Baustellenzaun geschafft: aktuelle Bilder bei http://www.livestream.com/notavtv
Livestreams der großen Medien
"Tausende Gemeinplätze der Medien in Gefahr", lautet ein Twit zum Susatal. La Reepubblica und La Stampa zeigen unverdrossen nur Bilder eines Infostands im Dorf Giaglione, il Corriere della Sera hat kurz vor Beginn der No Tav Volversammlung die Überztragung unterbrochen.
Ticker zur Aktion
Ticker aus Giaglione: Machen wir einen Schnitt!
http://linksunten.indymedia.org/de/node/49144#comment-33327
...den Ersten Schnitt machte "Sora Cesoia", das heißt, Schwester Bolzenschneiderine :), beliebte Dorfbewohnerin aus dem Tal:
http://twitter.com/#!/manolo_loop/status/128107658237575170/photo/1/large