[Kurzdoku] Carlo Giuliani – erinnern heisst kämpfen

remembering means figthing

Zum Todestag von Carlo Giuliani haben wir eine Kurzdokumentation zusammengeschnitten, welches den Verlauf der Antiglobalisierungsproteste und die Ereignisse um Carlos Tod zusammenfasst. Mit diesem Video wollen wir Anstoss bieten für eigene Überlegungen und Recherchen. Des Weiteren haben wir zur Erinnerung auf dem Carlo-Giuliani-Platz in Bern ein Transparent gehängt.

 

Der Tod von Carlo und die massive Gewalt hinterliess in der Bewegung einschneidende Spuren. Sich mit dem Tod von Carlo zu befassen, heisst einen ungeschönten Blick auf die Ereignisse zu wagen. Es bedeutet in unseren Augen die politische Phase zu analysieren, die eigenen Strategien und Handlungsstränge zu verstehen und sich mit der Gewalt der Gegenseite zu beschäftigen.

 

Erinnern heisst Kämpfen – Carlo Giuliani ermordet am 20. Juli 2001

https://www.youtube.com/watch?v=wQuBo6U3-UI (Triggerwarnung! Gewaltdarstellungen)

 

weitere Dokus/Ausschnitte

1999 Seattle WTO Konferenz:

Breaking the Spell https://www.youtube.com/watch?v=D2MxtwAmeOY

This Is What Democracy Looks Like https://www.youtube.com/watch?v=yBUZH2vCD_k

Four Days in Seattle https://www.youtube.com/watch?v=pFamvR9CpYw

 

2000 Prag IWF/Weltbank Konferenz:

Anti-Globalisation Protests Prague IMF 2000 https://www.youtube.com/watch?v=GIVvBF_7JDo

Rebel Colours https://www.youtube.com/watch?v=LV-ZQWrresg

 

2001 Göteborg EU-Gipfel:

Terrorists.The kids they sentenced 1/9 https://www.youtube.com/watch?v=SezyUk_UGqU

 

2001 Genua G8-Gipfel:

OP Genova 2001 - Öffentliche Sicherheit und Ordnung beim G8 in Genua Juli 2001 https://www.youtube.com/watch?v=ubc9M9HBcIo

Gipfelstuermer - Die blutigen Tage von Genua https://www.youtube.com/watch?v=52kOAulA0LY

Genua G8 (KanalB) https://www.youtube.com/watch?v=SFrF7HB7B-I

Was geschah wirklich am Piazza Alimonda 1/4 https://www.youtube.com/watch?v=PXCNSavCCmU

 

Verfilmungen:

Battle in Seattle (2007)

Diaz – Don’t Clean Up This Blood (2012)

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Liebe GenossInnnen. Ihr habt Euch viel Mühe beim Sichten, Schneiden und Präsentieren gemacht.

Vielen Dank dafür. Wo bitte ist aber die Auseinandersetzung mit Strategien und Taktiken?

Die sehe ich leider nicht. Ihr hättet zumindest Fragen aufwerfen können.

 

Fragen wie z.B. diese?

Wer oder was war der Black Block? Wie kommunizierten dieser intern, wenn es Faschisten und Bullen anscheinend so leicht war ihn zu infiltrieren? Wie kam es dazu, dass der Black Block dermaßen viel zerstörte, aber das dies rein symbolisch war, während er nicht einsah Pazifisten oder andere Gruppen vor der Gewalt der Carabinieri zu schützen? Gewalt als Fetisch, als Selbstzweck? Die Einstellung, wir sind die Avantgarde, was kümmern uns die anderen? Warum kam es fast zu Schlägereien zwischen verschiedenen Black Block Fraktionen, als einige begannen Wohnhäuser mit Zivilisten anzuzünden, weil in der Parterre eine Bank war? Welches Verantwortungsbewußtsein lag da vor?

Wie kamen Vertreter von Tutte Bianche dazu eine "Kriegserklärung" (wie die Zapatisten 1994) zu verlautbaren und somit medialer Steigbügelhalter für Berlusconis Repressionsapparat zu werden? War eine dermaßige Großmäuligkeit zu verantworten?

Warum haben sich so verdammt wenige an der Anti-Repressionsarbeit beteiligt? Was heißt das für die Bewegungen?

Warum gibt es so gut wie keine Erinnerungs- und Geschichtsarbeit der Radikalen Linken?

Das und viele, viele andere Fragen wären es wert diskutiert zu werden.

 

Ansonsten kann man noch hier was bei den Bochumern nachlesen:

Genova 20. Juli 2001 - Der Tod von Carlo Giuliani

https://linksunten.indymedia.org/de/node/185593

 

solidarische Grüße

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Hallo!

 

Vielen Dank für deine Anmerkungen. Die Auseinandersetzung mit den Strategien und Taktiken können wir selber nicht alleine beantworten. Zudem wollten wir das Video bewusst "kürzer" halten, um auch jenen eine Grundlage zu bieten, die die Ereignisse damals nicht mitgekriegt haben. Wie wir anhand deiner Fragen sehen, gibt es so viele Dinge die diskutiert werden könnten. Der G8-Gipfel wirkt auch nach 15 Jahren immer noch so gross. So viele Gruppen, Taktikten, Eindrücke, Kämpfe die damals stattfinden (und die zahlreichen Folgen). In all den Jahren haben wir festgestellt, dass diese Diskussionen und Fragen stetig abgenommen haben und übrig blieben teilweise nur Mythen. Wir fänden es sinnvoll/super/wichtig, dass deine und die unzähligen anderen Fragen wieder diskutiert werden und zwar nicht von Video zu "Konsument*in", sondern von Mensch zu Mensch in den (Bezugs-)Gruppen, Städten, Bewegungen etc.

Wir sind jederzeit interessiert, sich an strategischen und inhaltlichen Diskussionen zu beteiligen.

 

solidarische Grüsse

AGB

Liebe AGB,

ich finde es wunderbar wenn man (in der Tat so ein einschneidenes Ereigniss für die Antiglobalisierungsbewegung) versucht 15 Jahre später an etwas anzuknüpfen, um aus Fehlern und der damailigen politischen Ausgangssituation( im Kontext zu heute) zu lernen.

Was mir nicht ganz erschließt ist die Tatsache das Ihr hier bei Linksunten "lediglich" eine Vielzahl von bereits bekannten Videos verlinkt.

Daraus soll sich nun eine Diskussion oder eine 15 Jahre spätere Refelxion entwickleln?

Ich war damals selbst in Genua vor Ort und es erschüttert mich an dem Jahrestag bis heute was dort passiert ist.

Die politischen Aktuere von damals haben auch heute eine Geschichte zu erzählen, nämlich die Ihrer eigenen Lebensgeschichte bis heute ...15 Jahre später.

Was ist aus Ihnen geworden.Was aus den Eltern von Carlo.Was aus dem Polizisten,der die tödlichen Schüsse abgegeben hat?

Und ich meine gar nicht die Verurteilungen der Schergen,sondern das Gewissen.

Was ist mit den vielen verletzten Genoss_Innen geworden.Trauma und schlechtete Träume bis heute.

Wäre es nicht überlegenswert mal zum nächsten Jahrestag eine Art Symphosium zu organisieren wo Wir mal alle näher einanderrücken um zu verstehen ( oder mit Euren geschriebenen Worten "....die politische Phase zu analysieren...) was uns das heute noch politisch bedeutet und warum es notwendig ist neue Formen des Widerstandes gegen den erneut sehr aggressiven globalisierten Welthandel vorzugehen bzw. sich aufzustellen?

Fragen über Fragen die vermutlich nicht nur mich Ohnmächtig erscheinen lassen, da die Antworten einfach und doch so schwer sind.

Ein solidarischer Gruß in die Schweiz !

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Hallo!

Wir haben diesbezüglich ein eigenes Video erstellt (Link:https://www.youtube.com/watch?v=wQuBo6U3-UI) und die gröbsten Ereignise von damals zusammengeschnitten. Wir wollten nicht nur den Tod von Carlo thematisieren, sondern auch die zahlreichen Proteste der Antiglobalisierungsbewegung aufgreifen und diese in einen Kontext stellen.

In unseren Augen hat mit jedem Jahr, der vergangen ist, die Erinnerung an Carlos Tod und die Solidaritätsaktionen mit den damaligen Protesten stetig abgenommen. Unser Ziel ist es wieder ein Blick auf die Geschehnisse zu lenken, die "neueren" Generationen zu informieren was damals war und Anstoss bieten sich Fragen zu stellen, zu recherchieren und (hoffentlich) zu intervenieren.

Die Ohnmacht, die du beschreibst sind immer noch gegenwärtig und diesbezüglich bieten wir gerne jede*r Person eine Plattform, um gemeinsam einen Schritt heraus zu finden. Leider sind Viele von damals nicht mehr auffindbar oder haben sich abgewendet.

 

solidarisch

AGB

danke für die vielen guten Fragen und Statements in einigen Kommentaren. Es tut mit gut zu sehen, dass einige fühlen und erkennen, dass das Thema nicht ausgestanden ist. Alle angerissenen Fragen und kritschen Überlegungen sind wichtig und einige Auseinandersetzung wert. Die Zeiten selbst gebieten es inzwischen. Im Alltag relevant bleibt jenseits aller Analyse und aller Reflexion aber die Frage der Repression aktuell. 10 Leute aus Italien sind davon immer noch akut sehr betroffen. Ein Mensch ist deshalb frei, weil er sich langjähriger Haft verweigert hat, zwei Sitzen immer noch und auch noch für längere zeit in Haft und sieben andere sind frei, wie jemand frei sein kann, der voller Auflagen lebt und immense Kosten am Hals hat.

 

Marina und Jimmy, die im Knast sitzen, kann mensch schreiben, das wäre schon was:

 

Marina Cugnaschi

c/o Seconda Casa Di Reclusione Di Milano – Bollate

Via Cristina Belgioioso 120

20157 Milano (MI)

Italien

 

Francesco Puglisi

Casa Circondariale di Roma Rebibbia - G9 – cella 9 – piano 2

Via Raffaele Majetti, 70

00156 Roma

Italien

 

Und den wenigen, wirklich großertigen Leuten, die als supportolegale weiter für die Rechtshilfe und die Unterstützung der Betroffenen sammeln gilt es immer noch, wenigstens mit Spenden zu helfen. Das geht über diesen Link:

 

http://buonacausa.org/genovag8?tab=0

 

Dieser (hier ins Deutsche übersetze) Text der besagten Leute von supportolegale verweist auf obigen Link:

 

Fundraising für die Verurteilten von Genua


Komitee SupportoLegale Diritti Umani


SupportoLegale entstand, um die Anwälte bei der Verteidigung der Aktiviste und aktivisttinen zu unterstützen, denen die Auseinandersetzungen während des G8 in Genua angelastet wurden. 10 Jahre später, existiert SupportoLegale weiterhin, um diejenigen, die stellvertretend für alle 300000, die wir in jenen Tagen bei den Protesten und in den straßen waren bezahlen hinsichtlich von ihren eigenen Bedarfen während der Haft und denen von ihren Familien zu unterstützen (wie auch hinsichtlich der gegenwärtig wie zukünftig anfallenden gerichtlichen bzw. prozessbedingten Ausgaben). Solidarität ist ein kollektives Getriebe.


Aus der Webseite supportolegale.org


SupportoLegale nimmt sich vor, mit dem, was wir gemeinsam sammeln werden, in Anlehnung an die jeweiligen Bedarfe und Prioritäten jene zu unterstützen, die von Repression getroffen wurden.


Wenn Umzüge und Demonstrationen zu Ende gehen und alle denken, dass sie zurück in ihren so genannten alltäglichen Leben angekommen sind, bleiben die Verfahren zurück, die Repression, die Verurteilungen und für manche die Haft. Abgesehen von der Bedeutung, die das Ganze im Leben von einigen Leuten bekommt, die im Getriebe der Repressionsmaschinerie in der Falle sitzen, ergibt sich daraus ein riesiger Haufen Geld, dessen Last genau so wenig wie Ruhm, Ehre und Schuldigkeiten aus jenen Tagen im Juli 2001 nicht allein den zehn Menschen überlassen werden kann, gegen die ein rechtskräftiges Urteil gesprochen wurde.


Gefährten und Gefährtinnen, Freunde und Familien von allen, die in Haft sitzen bzw. verurteilt wurden versuchen, wie sie können, ihre Lieben zu unterstützen. Das reicht häufig aber nicht. Deshalb hat sich SupportoLegale zu diesem Unterfangen der Sammlung und Verteilung dessen, was in der ganzen Welt in Form von Geld zusammengetragen wird entschlossen.


Vor allen Dingen gibt es die Ausgaben, die im Knast und für die Angehörigen der Verurteilten anfallen. Es gibt Anwaltskosten und Prozesskosten (Akten, Kopien, Videos, Mitschriften), die noch genau beziffert werden müssen (unsere Schätzung basiert auf Erfahrungswerten). Diese werden jetzt wie auch in einigen Jahren wie ein Damoklesschwert über die Verurteilten schweben. Schließlich werden die Schadeneratzforderungen fällig werden (die auch noch zu beziffern sind). Das wäre der riesige haufen Geld. eine mindestens fünfstellige Summe - die wir gemeinsam auftreiben müssen.


Ruft die Seite auf, die wir für die Spendenübertragung eingerichtet haben, wenn ihr uns helfen wollt. Tut es, falls ihr eine Initiative starten wollt, um Geld aufzutreiben - und schreibt uns. Es gibt niemanden, den ihr dafür um Erlaubnis bitten müsst - außer euer Gewissen. Wir werden euch helfen, die Initiative publik zu machen und auf eure Überweisung warten. Schreibt uns, wenn euch jemand einfällt, der uns helfen könnte, oder wenn ihr besser verstehen wollt, wie unser Fundraising funktioniert: balance at supportolegale.org oder info at supportolegale.org


http://buonacausa.org/genovag8?tab=0

bonzensöhnchen giuliani wollte revolution spielen und ist dabei umgekommen......

Ja, Carlo war kein Arbeiterkind, er hatte aber gegen die eigenen Verhältnisse rebelliert und bürgerliche Verhältnisse gegen die Suche nach einem Leben, das solchen Mustern auf jeden Fall nicht folgen wollte. Gestorben ist er, wir die vielen intensiven Auseinandersetzungen mit den Vorgängen hervorgebracht haben, weil er im Angesicht der Gewalt, die an jenem Tag über die laufende Großdemo durch einen kalten Angriff hereinbrach, der nicht nur aufs blutrünstigste vonstatten ging, sondern wegen der Abwesenheit von Fluchtwegen auch noch extrem gefährlich war. Tausende haben darauf ähnlich reagiert wie Carlo. Dann lugte da plötzlich die Knarre aus dem Polizeijeep. Es waren durchaus Leute nach Genua gerkommen, die nichts anderes können als spielen - gerade auch manche, die sich für schwer militant hielten. Den meisten war es aber ernst, wenigstens war es ihnen ernst, massenhaft und sehr entschlossen zu protestieren. Hetze und Kriminalisierung hatten das Klima schon mächtig angeheizt, die Polizei war die Personifizierung dieser Hetze und der Stimmung, die den Demonstranten von institutioneller und institutionalisierter Seite galt. Das, was Carlo sein Leben gestohlen hat war alles andere als ein Spiel - und Carlo stand der Sinn alles Andere als danch zu spielen, merke dir das gut.

Am Ende des ersten Satzes fehlt "eingetauscht".

 

Weil die Tatsache, dass Carlo unvergessen ist und einges an Wissen bei allen Ohnmachtgefühlen da ist manchen ignoranten Troll hier mächtig juckt, noch der Hinweis, dass zig Leute, die keine Arbeiterkinder sind, deshalb nicht gleich Bonzenkinder sind. Wir sind viele Tausend auf dem ganzen Planeten, die auf Carlos Mutter nie was kommen werden lassen!

http://www.linksnet.de/de/artikel/18765

 

Geschichte von unten und radikale Linke

 

Bernd Hüttner in arranca! (05.07.2004)

 

Während Geschichte in der Gesellschaft eine große Rolle spielt, ist die (radikale) Linke relativ geschichtslos. Dies ist derzeit wieder an der Bewegung gegen die globalen Konzerne zu beobachten:

"Neue" eignen sich vieles erst mühsam neu an, machen zwangsläufig Fehler. Gleichzeitig ziehen sich ältere AktivistInnen resigniert zurück, da eine Weiterentwicklung kritischer Politik nicht möglich zu sein scheint.

Das Große und das Ganze…

Für die Geschichtsaneignung und -vermittlung gibt es verschiedene Formen: Bücher, Filme, öffentliche und private Gespräche. Die vorliegenden Bücher zur Geschichte der radikalen Linken handeln ereignis- und politikgeschichtlich die großen Debatten, die Zeitschriften, Demonstrationen und Kampagnen ab.(1) Die Geschichtsschreibung der radikalen Linken ist eine der Sieger, derjenigen (meist Männer), die während ihrer politischen Biographie genügend soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital angehäuft haben, um schreiben und forschen zu können. Es gibt natürlich die hilfreichen Nachdrucke und Dokumentationen mit einem "neutraleren" Ansatz. Dazu gehören z.B. das Buch über linksradikale Plakate, (2) oder das neue Buch der Berliner Altautonomen (3), die zwar stellenweise treffende Analysen enthalten, ihren Verkaufserfolg aber wesentlich dem Nostalgiefaktor verdanken. Zu erwähnen sind noch verschiedene Dokumentenbände (4) und die Titel zu einzelnen Bewegungen oder Organisationen (5). Diese Bücher sind notwendig, die Dokumentenbände unabdingbar – sie reichen aber bei weitem nicht aus, um die vielfältigen politischen Szenen und Strömungen, die persönlichen Motivationen der (damals) Handelnden und ihre Alltagskultur sichtbar werden zu lassen.

…ohne Alltag?

Wenn mensch sich die vorliegenden Beiträge zur Geschichte der Autonomen oder zu den einzelnen Bereichsbewegungen ansieht, so fällt auf, dass Kultur und dissidenter Lebensstil zwar das "Hinterland" sind, auf dem die neuen sozialen Bewegungen und noch mehr die autonomen Bewegungen aufbauen, das sie relativ resistent gegen Bewegungstiefs macht – diese aber in den Geschichtsbüchern nicht vorkommen. Das Leiden an den Verhältnissen, die Langeweile innerhalb linker Politik, der ganze banale Alltag kommt schlicht nicht vor. So gibt es zwar ausführliche historische Untersuchungen über die Trinkkultur von Hafenarbeitern in Hamburg vor dem 1. Weltkrieg, eine Untersuchung über die Bedeutung von Wohngemeinschaften für linksradikale Politik gibt es nicht.

Eignen sich vielleicht literarische Versuche als "authentischere" Quelle linker Geschichtsschreibung? Zwei bekanntere leben von der Spannung, die aus der polizeilichen Verfolgung der männlichen Protagonisten resultiert – eine Situation, die kaum repräsentativ ist, erst recht unter Gender-Gesichtspunkten (6). Der Roman "Die kalte Haut der Stadt" (7) ist als eindrückliche bis beklemmende Schilderung über die militante Bewegung der 1980er Jahre und ihren Niedergang von höherem Quellenwert. Er schildert den langsamen Zerfall eines autonomen Zusammenhanges und die damit verbundenen psychischen Prozesse und Dynamiken. Hinzu kommen die (Auto-) Biographien mit allen ihren Problematiken oder Interviewbände mit ZeitzeugInnen. (8) Broschüren zur Geschichte der Linken gibt es bis Mitte der 1990er viele. Sie zählen als graue Literatur nur eingeschränkt, da sie zwar wichtig sind, aber wieder verschwinden und heute nur noch in (Privat-) Archiven greifbar sind. Ein gelungener Versuch einer Geschichtsschreibung "von unten" im hier eingeforderten Sinne ist das Buch zum Autonomie-Kongress 1995, in dem Angehörige verschiedener Altersstufen in Interviews über ihre politischen Biographien reflektieren. (9) Dadurch kommt viel von den individuellen Motivationen, Deutungsmustern und Visionen zur Sprache. Dies ist ebenfalls in einer Veröffentlichung über verschiedene Strömungen der Tübinger antirassistischen Szene der Fall – hier werden Interviews mit 13 engagierten AntirassistInnen der Textanalyse hinzugefügt (10). Der Nachdruck der Geschichtsserie aus der seinerzeit weitverbreiteten radikal (11) ist ein Versuch, Geschichte aus einer sozialrevolutionären Perspektive zu schreiben und dabei für jüngere LeserInnen noch halbwegs verständlich zu bleiben. Diese Serie endet jedoch Mitte/Ende der 1950er Jahre und damit just an dem Zeitpunkt, an dem eine Zeitgeschichte der radikalen Linken beginnen würde.

Alternativen…

Die Geschichtsschreibung der (radikalen) Linken hat einen eingeschränkten Blickwinkel und ist methodisch veraltet. In den 1960er und 1970er Jahren setzte sich die Historische Sozialwissenschaft in Kritik der damals hegemonialen Politik- und Geistesgeschichte ("Staatsmänner machen Geschichte") für die Betonung gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen ein. Sie untersuchte Klassen und Schichten, technische Innovation und Ökonomie. Die am Fortschrittspessimismus der neuen sozialen Bewegungen angelehnte Alltagsgeschichte wiederum kritisiert an der SPD-nahen Historischen Sozialwissenschaft, dass das Individuum, sein Alltag und individuelle Deutungen dort nicht vorkämen. In den 1980er Jahren gibt es in der BRD die Geschichtswerkstätten, in denen sich feministische, gewerkschaftliche und andere ehrenamtliche und akademische HistorikerInnen zusammenschließen. Sie bringen die Geschichte derjenigen in die Öffentlichkeit, die bislang von der konservativen Geschichtswissenschaft und der Historischen Sozialwissenschaft ausgeschlossen waren: sogenannte Unterschichten, Frauen, nicht organisationsgebundene Strömungen und Aktionsformen der ArbeiterInnenbewegung usw. Die BarfußhistorikerInnen betreiben Geschichte aus der Sicht der Unterdrückten und Abhängigen, sie untersuchen deren Alltag, sie sind gewollt subjektiv und verwenden die neue Methode der oral history, der erzählten Geschichte: Durch Befragungen von ZeitzeugInnen nutzen sie deren Kompetenz und rücken jene überhaupt erst als Quellen mit Aussagekraft und -wert ins Bewusstsein. Die AktivistInnen der Geschichtswerkstätten verfahren nach dem Motto "Grabe (= forsche) wo du stehst" und untersuchen die Geschichte ihres Betriebes oder Stadtteils. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass das immergleiche unkritische Erzählen von individuellen Erinnerungen ("Geschichten statt Geschichte") in einer alternativen Heimatgeschichte, zu der die Geschichtswerkstättenarbeit vielerorts wurde, auch nicht gerade politisch fortschrittlich und methodisch innovativ war. Hinzu kommt die in letzter Zeit stark problematisierte Thematik von individuellen Erinnerungen und den Beschränkungen, denen sie unterliegen. Die akademische/herrschende Geschichtsschreibung ist mit Geschlechter-, Alltagsund Mentalitätengeschichte allemal innovativer als die Geschichtsschreibung über die/aus den linken Bewegungen, die den Stand der oral history und anderer, verwandter Methoden noch nicht erreicht hat. Vor dem Hintergrund, dass sich Linke immer einer Sicht "von unten" und der Einheit von Politik und Alltag verschrieben haben, mutet dies recht befremdlich an.

… und die Realität

Historische Aufarbeitung – und die betrifft in der schnelllebigen radikalen Linken schon den Zeitraum von vor fünf Jahren – kann nur von Menschen vollbracht werden, die "dabei" waren oder sich für die Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Bewegung engagieren und sich dafür Zeit nehmen (können). Dabei gilt es gravierenden Tatsachen Rechung zu tragen: Erstens der politischen Lage, die von Abwehrkämpfen gekennzeichnet ist und kaum Raum für den Luxus von Geschichtsarbeit lässt. Zweitens ist die Zeitspanne, in der sich die meisten AkteurInnen in den linken Bewegungen aufhalten, relativ kurz und reicht in der Regel nicht über das "schwarz-rote Jahrzehnt" vom 19. bis 28. Lebensjahr hinaus. Dies hat zur Folge, dass ein Interesse für geschichtliche Aufarbeitung nicht entsteht und die Frage nach der eigenen Geschichte selten gestellt wird. Drittens sind es nur Einzelpersonen und kleine politische Gruppen, die sich für die Aufarbeitung der Geschichte einsetzen. Die Bewegungsarchive betreiben jenseits der Betreuung ihrer meist wenigen NutzerInnen keine offensive historische Bildungsarbeit.

Die Geschichtslosigkeit resultiert auch aus dem Selbstverständnis undogmatischlink( sradikal)er Praxis, das von Spontanität geprägt ist, geplante, strategische Politik sowie festere Organisationsformen lange Zeit ablehnte und Theorie (und damit auch Geschichte) vor allem als Legitimation der eigenen Praxis verstand. Ein kollektives Gedächtnis kann sich angesichts der losen Strukturen und der personellen Fluktuation nur schwerlich bilden.

Es ist Zeit, das Defizit der linksradikalen Geschichtsschreibung aufzuheben, "zu beschreiben ", wie es Katja Leyrer nennt, "und zu berichten, was in den vergangenen zwanzig Jahren war: Nicht Flugblätter, Pamphlete und Gesetzesentwürfe, sondern vor allem die alltägliche Erfahrung, die wir gemacht haben und machen und die manchmal ganz unfeministisch ist", da "der Alltag, das Tagtägliche, das ›Normale‹ und der Umgang mit den ›kleinen Ungerechtigkeiten‹ und Bedrohungen in der Regel sehr viel mehr Zeit und Kraft in Anspruch nimmt, als es scheint – und als wir es wahrhaben wollen" (12). Es ist Zeit, sich von der patriarchalen Ereignis- und Politikgeschichte (13) zu verabschieden und z.B. eine (Alltags-) Geschichte der link(sradikal)en Bewegungen in verschiedenen Regionen zu schreiben, die synthetisierten Aussagen von Zeitzeugen als Quellen zu entdecken und so z.B. die individuellen und kollektiven Sozialisationen, die Deutungsmuster und Motivationen zu beleuchten. Dann würde vielleicht auch deutlicher werden, dass die radikale Linke wenige bis keine Konzepte für politisches Wirken und widerständiges Leben in der Nachausbildungsphase hat, für Kinder, Erziehung, Krankheit, Tod, Beruf etc. pp. – für all die Widersprüche, die das Leben bietet und so schwierig macht, für all die Widersprüche, die in der linksradikalen Geschichtsschreibung sehr oft nicht vorkommen. Dabei sind diese Defizite und diese Widersprüche exakt die Gründe, derentwegen sich Menschen aus emanzipatorischer Politik zurückziehen. Die Geschichte(n) der radikalen Linken in diesem Sinne sind erst noch zu schreiben. Sicher sind die engen materiellen Bedingungen, denen Geschichtsvermittlung heute unterliegt, in Rechnung zu stellen. Ältere GenossInnen sollten nicht nur über Geschichtslosigkeit jammern, sondern besser überlegen, wo sie Angebote machen.



(1)Geronimo: Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen, 4. veränderte Auflage, Berlin 1995 (zuerst 1990); Almut Gross/Thomas Schultze: Die Autonomen, Hamburg 1997; Bernd Langer: Kunst als Widerstand. Plakate, Ölbilder, Aktionen, Texte der Initiative Kunst und Kampf, Bonn 1997

 

(2)HKS 13: vorwärts bis zum nieder mit, Berlin o.J. (2001, incl. CD-ROM), http://plakat.nadir.org

 

(3)AG Grauwacke: Autonome in Bewegung, Berlin 2003, http://autox.nadir.org

 

(4)ID Verlag (Hg.): Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997; Die Früchte des Zorns, Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora, 2 Bände, Berlin 1993; Redaktion diskus (Hg.): Küss den Boden der Freiheit, Berlin 1992; Der Blues. Gesammelte Texte der Bewegung 2. Juni, Dortmund 2001; Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989, Berlin 2002

 

(5)Werner Balsen/ Karl Rössel: Hoch die internationale Solidarität, Köln 1986; Redaktion ›atomexpress‹:… und auch nicht anderswo. Die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung, Göttingen 1997; Michael Steffen: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, Berlin 2002 (Steffen interviewt auch viele ehemalige KB-Mitglieder); Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986-1989; Berlin 1992

 

(6)Tomas Lecorte: Wir tanzen bis zum Ende. Die Geschichte eines Autonomen, Hamburg 1992; Raul Zelik: Friss und stirb trotzdem, Hamburg 1998

 

(7)Michael Wildenhain: Die kalte Haut der Stadt, Berlin 1991, von Wildenhain liegt noch vor: zum beispiel k., Berlin 1983

 

(8)Es seien hier nur einige genannt: Ulrike Heider: Keine Ruhe nach dem Sturm, Hamburg 2001; Heipe Weiss: Fuchstanz, Frankfurt 1996, beide über die Frankfurter Sponti-Szene der 70er Jahre; lesenswert ist auch der Interviewband von Ute Kätzel: Die 68erinnen, Berlin 2002. Das Lebensgefühl der 80er Jahre gibt Georg Heinzen, Uwe Koch: Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden, Hamburg 1985 ganz anschaulich wieder, Einblicke in die Karrieren unbekannter 68er im Betrieb gibt Jochen Gester/Willi Hajek (Hrsg.): 1968 – und dann? Erfahrungen, Lernprozesse und Utopien von Bewegten der 68er Revolte, Bremen 2002

 

(9)Der Stand der Bewegung. 18 Gespräche über linksradikale Politik. Lesebuch zum Autonomie- Kongreß 1995, Berlin 1995, lesenswert auch: Den Faden weiterspinnen. Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Immigrantinnen, im Exil-lebenden und deutschen Frauen. Erfahrungen des Internationalen Frauenplenums Westberlin 1988- 1991, Berlin 1995 sowie Heinz Nigg (Hg.): "Wir wollen alles, und zwar subito." Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen; Zürich 2001 (mit DVD) website: www.sozialarchiv. ch/80/

 

(10)Sabine Hess/Andreas Linder: Antirassistische Identitäten in Bewegung, Tübingen 1997

 

(11) GdV-Team: Gegen das Vergessen. Münster 1999

 

(12)Katja Leyrer: Weiberkram, Frankfurt 1992, S. 14

 

(13)Zu der ich auch noch das Grauwacke Buch zählen würde, denn dort taucht auch nicht auf, was z.B. Katja Leyrer einfordert.