Die Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung ist eine äußerst heterogene Bewegung. Konflikte zwischen verschiedenen Flügeln bleiben daher nicht aus. Ausgehend von den Kontroversen zwischen der ‚herrschaftskritischen‘ und der ‚Haupt-Sache-Für-Die-Tiere-‚ sowie ‚Single-Issue-Fraktion‘2 der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung soll aufgezeigt werden, dass Speziesismus nicht isoliert von anderen Formen der Ungleichheit, Herrschaft, Benachteiligung und Diskriminierung betrachtet werden kann, wenn ein vollständigeres Bild des Phänomens gezeichnet werden soll.
von Andre Gamerschlag (2011)
-geschrieben für: Tierrechtsgruppe Zürich
(http://www.tierrechtsgruppe-zh.ch/), Reader zur Veranstaltungsreihe
„Theorie um Tierbefreiung…“-
Die Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung ist eine äußerst heterogene Bewegung. Konflikte zwischen verschiedenen Flügeln bleiben daher nicht aus. Ausgehend von den Kontroversen zwischen der ‚herrschaftskritischen‘ und der ‚Haupt-Sache-Für-Die-Tiere-‚ sowie ‚Single-Issue-Fraktion‘2 der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung soll aufgezeigt werden, dass Speziesismus nicht isoliert von anderen Formen der Ungleichheit, Herrschaft, Benachteiligung und Diskriminierung betrachtet werden kann, wenn ein vollständigeres Bild des Phänomens gezeichnet werden soll.
Der Kapitalismus hat mit seiner Marktlogik Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens – im Neoliberalismus wahrscheinlich mehr als jemals zuvor. Auch Speziesismus ist in ihm so eingeschrieben, dass die moderne Tierausbeutung nicht ohne die Analyse marktwirtschaftlicher Mechanismen begriffen werden kann. Zudem zeigen sich zahlreiche Verbindungspunkte zwischen Speziesismus und Phänomenen wie Rassismus und Sexismus. Ein Beispiel dafür ist, dass Frauen und Schwarze3 noch bis ins 20. Jahrhundert vertierlicht, also in Tier-Nähe gerückt wurden4. Die Tatsache, dass Fleischkonsum für viele Männer ein Symbol geschlechtlicher Identitätskonstruktion ist, was ein zusätzlicher Stabilisator für die erfolgreiche Reproduktion dieser speziesistischen Praxis ist, ist ein weiteres Beispiel. Doch ergibt sich daraus eine totale Absage an eine Single-Issue-Politik?
Nach einer kurzen Einführung in die Diskussion zwischen dem ‚herrschaftskritischen‘ und dem ‚Hauptsache-Für-Die-Tiere-Flügel‘ der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung (1) werden mit den Konzepten Triple-Oppression, Unity-Of-Oppression und Intersektionalität politische und analytische Modelle vorgestellt, welche die Verwobenheit von Herrschaftsmechanismen in den Blick nehmen (2). Im folgenden Schritt wird diese Perspektive eingenommen, um exemplarisch Verbindungspunkte von Speziesismus mit menschenbezogenen Herrschaftsmechanismen sowie dessen Einbettung im Kapitalismus aufzuzeigen (3). In den Schlussbemerkungen wird der Erkenntnisgewinn in der Analyse von Mensch-Tier-Verhältnissen betont, der sich aus der Anwendung der vorgestellten Modelle ergibt. Darüber hinaus werden die Ergebnisse der Analyse von Verbindungen wiederum auf die politische Praxis, auf die Diskussion zwischen den Flügeln der Bewegung bezogen (4).
1. Herrschaftskritische, Hauptsache-Für-Die-Tiere, Single-Issue
Viele Aktivist_innen sprechen von zwei unterschiedlichen Flügeln in der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung – der ‚Hauptsache-Für-Die-Tiere-Fraktion‘ und der ‚emanzipatorischen‘ oder ‚herrschaftskritischen Fraktion‘. Diese Einteilung und die damit verbundenen Positionen und Abgrenzungen (von solidarischer Kritik bis zur totalen Spaltung) gibt es schon lange. Trotzdem lässt sich derzeit wieder eine stärkere Debatte um das Thema ausmachen. Einer der Auslöser dafür war Helmut Kaplan – Tierrechtler, Philosoph und selbsternannter Sprecher der deutschen Tierrechtsbewegung – mit seinem Interview für die rechte Plattform Fahnenträger. Während der emanzipatorische Flügel die Zusammenarbeit mit Rechtsradikalen grundsätzlich ablehnt, ist Kaplan als ein Vertreter der ‚Hauptsache-Für-Die-Tiere-Fraktion‘ bereit dazu.
Die Grundpositionen in dieser Auseinandersetzung sehen wie folgt aus: Die einen wollen eine emanzipatorische Gesellschaft, in der auch andere Spezies als die menschliche befreit werden. Für sie ist Tierbefreiung Teil einer umfassenden Gesellschafts- und Herrschaftskritik, die sie auch in die Bewegung tragen wollen. Die anderen sind ausschließlich im Bereich der Tierrechte aktiv oder geben Tierrechtsfragen zumindest meist den Vorzug: Bündnisse mit der totalitären Glaubensgemeinschaft Universelles Leben, Holocaust-Vergleiche vor dem Eingang eines ehemaligen KZs, die Forderung nach einem Bordell-Rabatt für Vegetarier und eben auch das Interview mit Neonazis zeugen davon. Die Mittel scheinen ihnen egal zu sein, wenn Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit produziert werden können. Zwischen diesen zwei Extremen findet sich eine Bandbreite vermittelnder Positionen. Wer die Kooperation mit dem Universellen Leben verweigert, muss deshalb noch nicht so weit gehen und nur noch mit herrschaftskritischen Gruppen zusammenarbeiten. Und wer ausschließlich Tierrechtsarbeit macht, muss nicht in anderen Bereichen ein_e Chauvinist_in sein, sondern kann dennoch die Forderungen anderer progressiver sozialer Bewegungen beachten.
In der Kritik des ‚herrschaftskritischen Flügels‘ an der ‚Hauptsache-Für-Die-Tiere-Fraktion‘ wird die letztgenannte Gruppe oft außer Acht gelassen. Sie richtet sich in diesen Fällen gegen ‚Single-Issue-Gruppen‘ und setzt diese mit der ‚Hauptsache-Für-Die-Tiere-Fraktion‘ gleich. Dabei kann es in besonders krassen Fällen sogar passieren, dass Aktivistinnen als unemanzipatorisch diffamiert werden, nur weil sie ausschließlich tierrechtsaktiv sind. Ihnen wird dann aufgrund von Gruppenvorurteilen unterstellt, nicht herrschaftskritisch zu sein.
Die Kritik basiert jedoch nicht nur auf einer verkürzten Gleichsetzung von ‚Hautsache-Für-Die-Tiere‘ und ‚Single-Issue‘. Sie verweist auch darauf, dass die Herrschaftsmechanismen miteinander verbunden seien und dass eine Form daher nicht effektiv isoliert bekämpft werden könne. So sei der Speziesismus etwa nicht im Kapitalismus oder getrennt von Rassismus und Sexismus zu überwinden. Daher, so eine häufige Argumentation der ‚herrschaftskritischen‘ gegen die ‚Single-Issue-Fraktion‘, müsse Tierrechts-/Tierbefreiungsarbeit auch den Kapitalismus und menschenbezogene Herrschaftsformen thematisieren. Ob diese These stimmt oder nicht, Verbindungen und Parallelen zwischen den verschiedenen Herrschaftsformen, die Barrieren für die Überwindung einer einzelnen Form darstellen, finden sich zur Genüge. Obwohl ich es durchaus berechtigt bis verständlich finde, dass es in der Vielfalt auch Organisationen gibt, welche auf eine „ans System angepasste“ Weise aktiv sind und keine Kapitalismuskritik betreiben, sondern ausschließlich versuchen, Veganismus und Tierrechte zu propagieren, erachte ich eine über die Mensch-Tier-Problematik hinausgehende Analyse von Herrschaftssystemen, Benachteiligungsformen und Ungleichheitsverhältnissen für notwendig. Das soll jedoch nicht bedeuten, dass jede Gruppe sie betreiben muss! Zentrales Anliegen dieses Beitrags ist es, die Notwendigkeit des Zusammendenkens von Speziesismus mit menschenbezogenen Herrschaftsformen zu verdeutlichen. Dafür wird im nächsten Schritt in die Konzepte Triple-Oppression, Unity-Of-Oppression und Intersektionalität eingeführt. Ihnen geht es unter anderem um die Analyse von Überlappungen und Verbindungen zwischen verschiedenen Herrschaftsmechanismen. Sie sind die theoretischen Werkzeuge für die spätere Thematisierung der Verwobenheit von Speziesismus mit Kapitalismus und menschenbezogenen Herrschaftsformen.
2. Auf dem Weg zur Intersektionalität
a. Triple-Oppression – Der Ursprung der Diskussion im Black Feminism
Ende der 1970er wurde im Black Feminism durch das Papier A Black
Feminist Statement der sozialistischen, lesbischen, schwarzen Frauen des
Combahee River Collectives (1977) in den USA eine Diskussion ausgelöst,
die im darauf folgenden Jahrzehnt unter dem Begriff Triple-Oppression
(Dreifach-/Mehrfachunterdrückung) bekannt wurde. Ausgangspunkt des
Papiers war eine Kritik am weißen Mittelschichtsfeminismus jener Zeit,
welcher die speziellen Probleme und Forderungen schwarzer Frauen
übersah. Dieser Feminismus versuchte ein gemeinsames ‚Wir‘ unter Frauen
zu schaffen, was zur Politisierung geschlechtsspezifischer
Benachteiligung notwendig war. Er mussten zeigen, dass Benachteiligungen
keine Erfahrung einzelner Frauen sind, die individuell und privat
gedeutet werden können, sondern dass es kollektive Erfahrungen sind, die
in die Sphäre der Öffentlichkeit und Politik getragen werden müssen –
„Das Private ist politisch“. Dieses Schaffen eines Wir-Gefühls ging
jedoch auch mit einer Homogenisierung einher. Das heißt, dass die
Unterschiede zwischen Frauen ausgeblendet wurden, um ein „Wir Frauen
fordern“ zu ermöglichen. Da es zunächst die weißen Frauen der
Mittelschicht waren, die sich Gehör verschaffen konnten, war das ‚Wir‘
der Frauen in der Öffentlichkeit eines, das die speziellen Probleme
schwarzer Frauen und der Frauen aus der Arbeiterschicht übersah. Das
Kollektiv kritisierte den weißen Mittelschichtsfeminismus für diese
Ausblendung. Vor dem gleichen Hintergrund kritisierte es aber auch die
männlich dominierte Bürgerrechtsbewegung, welche die Position schwarzer
Frauen ignorierte, und die männlich und weiß dominierte Linke, die
Schwarze und Frauen marginalisierte. Zudem wurde auch das
‚Haupt-/Nebenwiderspruchstheorem‘ der orthodox marxistischen Linken
zurückgewiesen. Demnach sei der Klassenwiderspruch der
‚Hauptwiderspruch‘ der Gesellschaft, während sich ‚Nebenwidersprüche‘
wie Rassismus und Sexismus aus diesem ableiten und mit dessen Sturz mehr
oder weniger automatisch mit überwunden werden. Dies führt zu einem
Politikverständnis, welches alle Kräfte gegen den Kapitalismus
mobilisiert, für die Politisierung sexistischer und rassistischer
Diskriminierung jedoch keine Ressourcen freistellt. Wozu auch, wenn dies
angeblich nur Nebenprodukte sind? Das Kollektiv forderte, diese
Trennung zu überwinden, die zur marginalen Thematisierung von Sexismus
und Rassismus führt. Das Kollektiv machte auch auf seine gesonderte
Position aufmerksam, da die Mitfrauen sowohl sexistisch als auch
rassistisch und klassistisch5
diskriminiert und benachteiligt werden. Gleichzeitig wurden ihre
Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche von den sozialen Bewegungen der
damaligen Zeit überhört. Die Betonung der „besonderen Position“
schwarzer Frauen stärkte einen eigenständigen schwarzen Feminismus und
führte wesentlich mit zur Institutionalisierung der Black Women‘s
Studies an den Hochschulen.
Auch im deutschsprachigen Raum griffen Migrant_innen diese Thematik auf
und sorgten für Interventionen im politischen und akademischen Kontext.
So wurde in autonomen und antiimperialistischen Gruppen gegen die
Haupt-/Nebenwiderspruchsthese argumentiert, woraus das heute weit
verbreitete „gegen Rassismus, Sexismus und Kapitalismus“ resultierte,
welches wir unter vielen Aufrufen von Antifa-Gruppen und anderen
linksradikalen Zusammenhängen finden. Ein populäres Dokument dieser
Diskussion ist das Papier Drei zu Eins von Klaus Viehmann und
GenossInnen (1990), welches große Beachtung in linken Kreisen fand.
Ebenfalls viel wahrgenommen wurde das Buch Scheidelinien von Anja
Meulenbelt (1988), in dem sie die Klassismen und Rassismen in der
Frauenbewegung analysiert und kritisiert. Im wissenschaftlichen Kontext
der Auseinandersetzung um Triple-Oppression wurde vor allem auf der
Ebene der betroffenen Individuen untersucht, wie sie die einzelnen
Komponenten der Mehrfachunterdrückung wahrnehmen: Wirken sie
unterschiedlich stark auf das Individuum? Wird im Lebensverlauf mal die
eine, mal die andere Komponente wirkmächtiger? Mehr und mehr wurde der
Fokus vom dreifachbenachteiligen Individuum zu Verbindungen der
Herrschaftsverhältnisse verschoben. Das heißt, neben Fragen auf der
Ebene des Individuums wurden Fragen auf der Ebene der Gesellschaft
relevant. Die Frage, wie die einzelnen Benachteiligungen etwa auf
schwarze Frauen wirken, wurde um die Frage erweitert, wie Sexismus,
Rassismus und Kapitalismus/Klassismus ineinander verwoben sind. Im
deutschsprachigen Raum geschah dies ebenfalls in dem Aufsatz Drei zu
Eins. Demnach kann nicht von isolierten Machtrelationen ausgegangen
werden. Sexismus, Rassismus und Klassismus sind strukturell miteinander
verwoben. Ein weiterer Gedanke dabei war, dass es weder eindeutige
Unterdrücker_innen noch eindeutig Unterdrückte gibt. Durch das Netz, das
die verschiedenen verwobenen Herrschaftsmechanismen bilden, entstehen
Graustufen im Unterdrückungsdualismus. So ist die weiße Frau gegenüber
der schwarzen privilegiert, gegenüber dem weißen Mann jedoch nicht- oder
unterprivilegiert. Auch innerhalb der sich zu jener Zeit zu formieren
beginnenden Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung wurde dieser Ansatz
wahrgenommen und zum Unity-Of-Oppression-Gedanken erweitert.
b. Unity-Of-Oppression – Die Erweiterung durch die Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung
1991 prägte die Band Consolidated mit dem gleichnamigen Track den Begriff „Unity of Oppression“. Sie besang einen Zustand, in dem Weiße und Schwarze, Heterosexuelle und Homosexuelle, Frauen und Männer zusammenkommen, um die Unterdrückung zu überwinden, und um Tiere und Natur mit Rücksicht zu behandeln. Sie weiteten den Unterdrückungsbegriff auch auf nichtmenschliche Tiere und andere Menschengruppen (zusätzlich zu den durch Klasse, ‚race‘, Ethnie, Geschlecht benachteiligten) aus. Im gleichen Jahr führte die Vegane Offensive Ruhrgebiet – eine der ersten Gruppen mit einem gesellschaftskritischen Tierbefreiungsanspruch – den Begriff in die deutschsprachige Diskussion ein und artikulierte damit eine Kritik an der Verengung des Triple-Oppression-Konzepts. Aus ihrem herrschaftskritischen Anspruch heraus plädierte sie dafür, Herrschaft insgesamt anzugehen, anstatt sich nur an bestimmten Formen abzuarbeiten. Durch die Triple-Oppression-Diskussion wurde der Haupt-/Nebenwiderspruchsdualismus nicht aufgelöst, sondern nur verschoben. Drei „Widersprüche“ werden in dem Konzept als wichtig anerkannt. Speziesismus sowie weitere intrahumane Chauvinismen wie Ableism, Ageism, Heterosexismus bleiben weiterhin nebensächlich bis gänzlich unbeachtet. Einige Tierrechts-/Tierbefreiungsgruppen nahmen die kritischen Überlegungen in ihre Selbstverständnisse und Arbeit auf, darunter auch die Tierrechts-Aktion-Nord (TAN). Auch in der Unity-Of-Oppression-Diskussion wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Herrschaftsmechanismen miteinander verwoben sind und dass sowohl deren Eigenständigkeit, als auch deren Verzahnungen analysiert werden müssen. So formuliert etwa eine Kongress-Vorbereitungsgruppe der Tierrechts-Aktion-Nord:
„Der ‚unity-of-oppression‘-Ansatz versucht aufzuzeigen, welche verschiedenen Interessengruppen und Unterdrückungsformen es gibt und ist so formuliert, daß es sowohl die Eigenständigkeit, als auch Verwobenheit, Überschneidungen und Abhängigkeiten aufzeigt. Aus anarchistischer Sicht heißt dies in Kurzform ‚keine Herrschaft‘ auszuüben, das heißt diese zu bekämpfen. Der Ansatz ‚unity-of-oppression‘ ist somit ein Äquivalent zum (um z.B. Tierrechte) erweiterten anarchistischen ansatz [sic], mit dem Unterschied, daß es sich mehr auf Analyse und Beschreibung konzentriert.“ (V-Gruppe 1995: 71)
Geschehen ist diese Analyse und Beschreibung jedoch kaum, wie auch Lejeune und Lindenbaum (2002) feststellen. Anstatt die Netzförmigkeit zu erforschen, blieb der Begriff einige Jahre ein Modewort auf Flyern, bevor er wieder fast völlig verschwand und zu einem ‚historischen‘ Begriff wurde. Zwar gibt es Analysen über Verbindungen von Speziesismus und intrahumanen Herrschaftsverhältnissen – Carol J. Adams (1990/2002) Theorie der Geschlechterpolitik des Fleisches und Birgit Mütherichs (1995a, 1995b) sozialkonstruktivistische Theorie der Gewaltlegitimation durch den Natur-Kultur-Dualismus sind nur zwei Beispiele – jedoch wird in diesen kein Bezug auf den Unity-Of-Oppression-Begriff genommen.
c. Intersektionalität – Die Erweiterung durch akademische Diskurse
Während das Unity-Of-Oppression-Konzept in der radikalen Linken und der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung an Beachtung verlor, begann in akademischen Diskursen die Intersektionalität zu boomen. Der Begriff Intersektionalität leitet sich von „intersection“ (Kreuzung) ab und ist eine Metapher der Juristin Kimberlé Crenshaw (1989/2010), welche diese im Rahmen bildungspolitischer Arbeit innerhalb der UN verwendet, um den Standpunkt mehrfachbenachteiligter Frauen zu beschreiben. In diesem Bild stehen sie an der Kreuzung und sind von allen Machtasymmetrien (Straßen) betroffen. Intersektionalität ersetzte fast vollständig das Label Triple-Oppression und erlangte einen hohen Bekanntheitsgrad. Dabei veränderten sich auch die Perspektiven, die damit verbunden waren. Während anfangs die Kreuzung bzw. die Mehrfachbenachteiligung im Mittelpunkt stand, gewann später die Analyse der Verwobenheit, der Überschneidungen und Unterschiede zwischen verschiedenen Ungleichheitsverhältnissen an Bedeutung. Auch die klassische Triade „race, class, gender“ wurde ausgeweitet. Je nach Forschungsfeld, Untersuchungsgegenstand, Fragestellung oder Hypothese werden unterschiedliche Kategorien in die Analyse einbezogen. So gibt es Ansätze, die Themengebiete Sexualität/Begehren mit Fähigkeit/Behinderung zu verbinden, um so die Sexualität behinderter Menschen aus queerer Perspektive zu betrachten (etwa Raab 2007). Für die Migrationsforschung sind neben Geschlecht, Ethnie und Klasse auch Kategorien wie Religion und für die Sozialstrukturanalyse auch die Kategorien Behinderung und Alter von Bedeutung. Die Websuche nach „intersectionality & animals“ oder „intersectionaly & human-animal studies“ bringt nach wie vor kaum Treffer hervor. Die einzigen Ausnahmen bilden dabei zwei Aufsätze, welche PeTA für ihre Unsensibilität gegenüber menschenbezogenen Diskriminierungen kritisieren. Intersektionalität ist in den Human-Animal Studies, dem aus der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung entstandenen Forschungsfeld, das sich kritisch mit Mensch-Tier-Verhältnissen auseinandersetzt, im Gegensatz zu sehr vielen anderen gesellschaftskritischen Forschungsfeldern, fast kein Thema. Das ist verwunderlich, liegt dieses Paradigma doch sehr nahe am Unity-Of-Oppression-Gedanken und gibt es doch einige Arbeiten über Mensch-Tier-Verhältnisse, die zwar weder die Begriffe Unity-Of-Oppression noch Intersektionalität verwenden, aber dennoch eine intersektionelle Perspektive einnehmen. Es ist außerdem auch bedauerlich, weil Intersektionalität Erkenntnisgewinne und Anschlussfähigkeit an andere Forschungsfelder verspricht.
Im nächsten Schritt werden einige Ansätze und Ergebnisse dargestellt, welche als intersektionelle Human-Animal Studies bzw. Tierrechts-/Tierbefreiungstheorie gelten können. Dies ist auf der theoretischen Ebene von Interesse, da es zeigt, welche Überlegungen bereits existieren und wo weiter gedacht werden kann. Auf der politischen Ebene ist es für die pro/contra Single-Issue-Diskussion bedeutsam.
3. Die Verflochtenheit des Speziesismus mit anderen Herrschaftsformen
a. Gemeinsame Basis von und Analogien zwischen Speziesismus, Rassismus und Sexismus
Gemeinsamkeiten zwischen Speziesismus und menschenbezogenen
Herrschaftsformen zu suchen, liegt sehr nahe an den Grundgedanken der
Unity-Of-Oppression, dass Herrschaft als Ganzes abgelehnt werden sollte
und dass einzelne Ausformungen strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen.
Die Tatsache, dass es Gemeinsamkeiten gibt, kann auf der politischen
Ebene dann als Argument herangezogen werden, um für eine große
herrschaftskritische Bewegung zu plädieren und solche zu kritisieren,
die nur eine Problematik betrachten. Dies gilt umso mehr, wenn die eine
Bewegung nicht die anderen progressiven sozialen Bewegungen wahrnimmt
oder deren Forderungen ignoriert.
Gemeinsamkeiten lassen sich viele ausmachen. Das wird bereits durch
analoge Begriffsprägungen wie Rassismsus, Sexismus, Speziesismus oder
Ethnozentrismus, Androzentrismus und Anthropozentrismus deutlich.
Speziesismus, Rassismus, Sexismus, Ableism usw. können als
Machtasymmetrien, Herrschafts-, Ausbeutungs- und
Ungleichheitsverhältnisse, Benachteiligungs- und Diskriminierungsformen,
Ideologien, Wir-Sie- bzw. Mehrheits-Minderheits-Verhältnisse
interpretiert werden. Sie alle gehen mit Stereotypen, Stigmatisierungen
und Konstruktionen einher. In allen Verhältnissen spielt es eine
wichtige Rolle, dass eine dominante Gruppe einer benachteiligten Gruppe
negativ besetzte Eigenschaften zuschreibt, die entweder erfunden oder
erschaffen werden, oder aus der Überhöhung vermeintlich eigener (der
dominanten Gruppe) Eigenschaften resultieren. Dabei wird die andere
Gruppe oft nicht nur als etwas tendenziell anderes, sondern als das
genaue Gegenteil, als Antipode gedacht.
In der Soziologie gibt es eine Reihe von Theorien, mit denen sich solche
Prozesse ausfindig machen lassen. Dadurch dass sie auf verschiedene
Untersuchungsgegenstände angewandt werden können, zeigt sich, dass die
verschiedenen ‚Ismen‘ teilweise mit gemeinsamen Mechanismen verbunden
sind. Beispiele dafür sind etwa die sozialkonstruktivistischen
Erkenntnistheorien (z.B. das Konzept des doing difference von
Fenstermaker/West 1995, 2001), Wir-Sie-Gruppentheorien (z.B. die
Etablierten-Außenseiter-Figuration von Elias/Scotson 1993) oder die
Rassismus/Heterophobie-Definition von Albert Memmi (1992). In allen
Fällen liegen Ausformungen des Natur-Kultur-Dualismus zugrunde:
Mensch-Tier, Mann-Frau, Weiß-Schwarz etc. und immer spielen der Glaube
an natürliche Hierarchien und daraus legitimierbare Herrschaft eine
Rolle. Sozialkonstruktivistisch interpretiert wird die
Spezieszugehörigkeit auch kulturell erzeugt, etwa indem wir durch
Begriffspaare wie „essen – fressen“, „sterben – verenden“ eine Trennung
schaffen. Sie ist damit ebenso wenig (rein) biologisches Produkt, wie
das Geschlecht, das auch durch unterschiedliche geschlechtlich
definierte Berufe, Kleidungsstile, Gesten etc. geschaffen wird.
Wir-Sie-Gruppen-Theorien beschreiben, wie in der Wir-Gruppe Werte
erzeugt und idealisiert werden und wie die Sie-Gruppe aufgrund des
vermeintlichen Fehlens dieser Werte diffamiert wird. Dies kann die
angeblich fehlende Intelligenz nichtmenschlicher Tiere sein, mit der
ihre Ausbeutung gerechtfertigt wird. oder die vermeintlich fehlende
männliche Rationalität bei Frauen, mit der ihr Ausschluss aus den
Universitäten und Führungsetagen begründet wurde. Auch der
Rassismusforscher Memmi stellt Gemeinsamkeiten fest, indem er darauf
aufmerksam macht, dass seine Rassismusdefinition auf andere
Menschengruppen, aber auch auf Tiere anwendbar ist:
„Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“ (Memmi 1992: 164)
„[…] von dem unter anderem die Frauen, Jugendlichen, Homosexuellen und die Behinderten betroffen sind… wenn man will, auch die Tiere.“ (ebd.: 213)
Die Vielfalt der Theorien, Modelle und Konzepte, mit denen gemeinsame Mechanismen verschiedener Formen von Herrschaft, Diskriminierung, Ungleichheit etc. herausgearbeitet werden können, ist enorm.
b. Unterschiede zwischen Speziesismus, Rassismus, Sexismus
Im Zuge der Diagnose von Gemeinsamkeiten sollten jedoch auch die
Unterschiede nicht geleugnet werden. Einer der für die politische Praxis
folgenschwersten Unterschiede besteht darin, dass der Speziesismus
nichtmenschliche Tiere betrifft, während alle anderen
Benachteiligungsformen Menschengruppen betreffen. Dies erschwert auch
die Argumentation für Tierrechte oder gesellschaftliche Tierbefreiung im
Vergleich zu der anderer sozialer Bewegungen. Schwarze, Frauen,
Schwule, Lesben, Menschen mit Behinderung und andere benachteiligte
Gruppen konnten damit argumentieren, dass während der bürgerlichen
Revolutionen die Werte Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit verkündet
wurden, welche von den modernen, bürgerlich-kapitalisierten Staaten
proklamiert werden. Ihre Benachteiligung widerspricht den, zumindest
offiziellen, Werten der Gesellschaftsordnung. In den
Emanzipationsbestrebungen für nichtmenschliche Tiere können sich die
Aktivist_innen nicht auf diese Versprechen berufen. Es muss erst
umständlich argumentiert werden, wieso auch gegenüber ihnen diese Werte
gelten sollten. Das ist etwa durch die Kritik der Differenzkriterien
zwischen Menschen und Tieren oder durch die Verschiebung der Perspektive
auf Differenzen zu einer Perspektive auf Gemeinsamkeiten möglich. Es
geht in diesem Fall nicht mehr darum, zu erkennen, dass Schwarze und
Frauen auch gleichwertige Menschen sind, sondern darum, dass Menschen
auch Tiere sind. Dies soll keine Menschen als Tiere degradieren, sondern
die Degradierung nichtmenschlicher Tiere, unter Betrachtung der
Gemeinsamkeiten zwischen diesen Gruppen, hinterfragen.
Unterschiede zwischen Speziesismus und intrahumanen Verhältnissen lassen
sich auch dann ausmachen, wenn Theorien für das Mensch-Tier-Verhältnis
adaptiert werden. Dieser Umstand ergibt sich jedoch nicht daraus, dass
wir es mit Nicht-Menschen zu tun haben, sondern entsteht immer, wenn
eine Theorie auf einen neuen Gegenstand bezogen wird, auch wenn dieser
aus dem intrahumanen Bereich stammt. So machen etwa Elias und Scotson in
ihrer Etablierten-Außenseiter-Figuration darauf aufmerksam, dass diese
Figur auf alle Verhältnisse übertragbar ist, aber immer etwas angepasst
werden muss, da kein Verhältnis mit dem anderen identisch ist. In ihrer
Theorie beispielsweise spielt die Stigmatisierung anderer Gruppen eine
wichtige Rolle. Stigmata sind kollektive Vorurteile: Frauen seien nicht
geeignet für Führungspositionen und Tieren fehle Intelligenz und
Individualität. Diese Stigmata sind nicht nur Diskriminierungen, sondern
werden handlungswirksam und enden in Benachteiligungen:
Personalverantwortliche, die keine Frauen einstellen, und
speziesistischen Praxen wie Schlachten und Fleischkonsum. Elias und
Scotson gehen auch davon aus, dass die Stigmata ins Selbstbild der
benachteiligen Gruppe einfließen können, so dass sie den Glauben an ihre
vermeintliche Minderwertigkeit verinnerlichen. In Bezug auf diese
Theorie besteht der Unterschied zwischen Speziesismus und
menschenbezogenen Benachteiligungsformen etwa darin, dass
nichtmenschliche Tiere keine Stigmata interpretieren und sie daher auch
nicht verinnerlichen können. Bei der Analogisierung gilt also immer,
dass auch deren Grenzen, also die Unterschiede aufgezeigt werden müssen.
Dies ist jedoch kein ‚Problem‘ der Übertragung auf
Mensch-Tier-Verhältnisse, sondern der Übertragung von Theorien auf
Gegenstände, an denen sie nicht entwickelt wurden, insgesamt.
c. Verbindungen von Speziesismus, Rassismus, Sexismus und die Einbettung des Speziesismus im Kapitalismus
Neben der Diagnose von Analogien und Unterschieden ist die von
Verbindungen besonders interessant. Wie hängen die verschiedenen
Herrschaftsformen zusammen, wodurch sind sie verbunden, wie ist die eine
Herrschaftsform auch Teil von anderen Herrschaftsformen? Das sind
Beispiele für die Fragen, die in diesem Bereich gestellt werden und die
im Zentrum neuerer Intersektionalitätsforschung stehen. Diese Fragen
nach der Verwobenheit liegen, ebenso wie die Analyse von Parallelen,
nahe am Gedanken der Unity-Of-Oppression (vgl. TAN-Zitat).
Speziesismus ist auf vielfältige Weise mit anderen Herrschaftsformen
verbunden sowie im Kapitalismus eingebettet. Zwar gab es schon immer
Tierausbeutung, aber die heutige Form, in ihrer qualitativ und
quantitativ entsetzlichen Ausprägung, ist ein Produkt des Kapitalismus.
Er hat ganze Industrien mit modernen ‚Errungenschaften‘ wie
Massentierhaltung und Fließbandtötung hervorgebracht. Durch den
Konkurrenzdruck entsteht der Zwang, immer günstiger zu produzieren, was
eigentlich mit sich immer weiter verschlechternden Haltungsbedingungen
einhergehen würde. Dies wird aber teilweise durch Tierschutzgesetze
verhindert, die jedoch aus einer Tierrechts- oder Tierbefreiungsposition
als ‚lächerlich‘ bezeichnet werden können. In der kapitalistischen
Verwertungslogik sind nichtmenschliche Tiere eine Ware. Sie können
teilweise aber auch als mehrwertproduzierende Arbeitskraft verstanden
werden. Auf den Feldern wurden sie zwar durch Maschinen ersetzt, aber in
den Tierfabriken ‚produzieren‘ sie Eier und Milch und ‚akkumulieren‘
Muskeln, die zu Fleisch gemacht werden. Um maximale Gewinne zu erzielen,
ist es nicht nur bedeutsam, die Haltungsbedingungen möglichst
kostengünstig zu halten, sondern auch die Nachfrage nach dem Produkt
möglichst hoch zu halten. Dazu ist es wichtig, dass Diskurse, die
nichtmenschliche Tiere als Nahrungsquelle definieren, nicht in solche
umschlagen, in denen ihnen gegenüber eine abolitionistische6
Ethik entwickelt wird. Neben kulturellen Stabilisatoren wie
Gewohnheiten, Routinen, Traditionen, Normen etc. unterstützen die
verschiedenen Industrien dies mit Werbekampagnen. Damit die
Konsument_innen verdrängen können, wie das Steak oder Ei entstanden ist,
ist es wichtig, dass die Tierfabriken nicht in ihrer Nähe sind und sie
nicht mit dem Anblick und den Schreien konfrontiert werden, sondern
weltfremde Bilder von frei wirkenden Kühen oder Hühnern auf der Alm
produziert werden oder Firmenlogos verwendet werden, die eine lächelnde
Comic-Henne zeigen, die freigiebig ihre Eier anbietet. Der Themenkomplex
um Speziesismus und Kapitalismus ist gigantisch.
Neben der Einbettung im Kapitalismus existieren zahlreiche Intersektionen zwischen Speziesismus und Rassismus, Sexismus etc., von denen einige im Folgenden skizziert werden. Sie finden sich etwa in der Sprache: ‚Häschen‘, ‚reiten‘, ‚zähmen‘, ‚Freiwild‘ sind nur einige Beispiele für Übertragungen aus dem Vokabular in Bezug auf Tiere auf Frauen (vgl. Fiddes 2003: 177). Andersherum finden sich in der Jägersprache Ausdrücke wie ‚Luder‘ für ein getötetes weibliches Tier oder ‚Schnalle‘ für das herausgeschnittene Geschlechtsteil des weiblichen Tieres (vgl. Mütherich 2005a: 22). Aber nicht nur in der Sprache, sondern auch in gesellschaftlich transportieren Stereotypen gibt es eine Intersektion zwischen Sexismus und Speziesismus, welche von der Ökofeministin Carol J. Adams (1990/2002) als Geschlechterpolitik des Fleisches bezeichnet wird. Damit ist eine Verknüpfung von ‚Männlichkeit‘ mit Fleischkonsum gemeint. Diese ist in der gelebten Realität unserer gegenwärtigen Gesellschaft zwar nicht mehr derart sichtbar wie zu Zeiten des Fleischmangels, kann aber in anderen Regionen und historischen Phasen erkannt werden. Durch den heutigen Fleischüberschuss zeigt sich diese Verbindung nur noch geringfügig in der Statistik, aber die Stereotype und Mythen leben weiter: „Männer brauchen Fleisch“. Das glauben nicht nur viele zu wissen, das vermitteln auch Kochbücher – wenn die Kapitel für Männer Fleisch- und Grillgerichte und die für Frauen Salate und Gerichte mit Milchprodukten zeigen – und viele anderen kulturelle Produkte und Wissensbestände (vgl. ebd.). Ein gutes Beispiel dafür sind auch die Burger King-Kampagnen „Eat like a man, man“ und „Mancademy“ (Slogan: „wo Männer wieder lernen, Männer zu sein“). Fleischkonsum ist ebenso wie bestimmte Sprechweisen, Kleidungsstile, Frisuren und Einstellungen ein Symbol, mit dem Männlichkeit dargestellt und erkannt werden kann. Vielleicht kann nicht behauptet werden, dass Fleischkonsum für die individuelle Konstruktion männlicher Identität notwendig ist, aber er wird häufig als eine Komponente hinzugezogen. Dies würde neben der Gewohnheit und Normalität von Fleischkonsum eine zusätzliche Barriere darstellen, wenn es darum geht, diese Praxis zu überwinden. Die Geschlechterpolitik des Fleisches lässt sich auch analog auf ethnische Gruppierungen und Klassen beziehen, da Fleisch in Zeiten des Mangels den Bessersituierten vorbehalten bleibt. Diese Verbindung ist in den Stereotypen und Mythen des Alltagswissens jedoch weitaus weniger präsent.
Eine weitere interessante Intersektion wird oft als human-animal-abuse-connection oder -violence-connection bezeichnet. Sie beschreibt einen Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Menschen und der gegen andere Tiere. Eine Grundannahme in diesen Theorien ist, dass Menschengruppen vertierlicht/animalisiert bzw. entmenschlicht/dehumanisiert werden, um ihre Ausbeutung zu legitimieren oder um zu Gewalt gegen sie zu mobilisieren. Birgit Mütherich formuliert dazu:
„Die Idee einer zweckgerichteten Seinsordnung, in der das Unvernünftige zum Nutzen des Vernünftigen gemacht worden sei und von diesem beherrscht werden müsse, wurde am ‚Tier‘ als dem vermeintlich unvernünftigen, naturverhafteten und determinierten Lebewesen vorexerziert und sanktioniert, besaß aber eine weit größere Reichweite: So wurden auch alle Menschengruppen, denen Vernunftmangel, Triebleitung, fehlende Affektkontrolle, und damit eine unveränderliche, wesensmäßige ‚Naturnähe‘ zugeschrieben werden konnten, als weitgehend rechtlos und als zu beherrschende Subjekte oder gar Objekte betrachtet; dies betraf prinzipiell Kinder, Frauen, Sklaven, ‚Irre‘, Besitzlose und ethnische Gruppen wie Zigeuner, ebenso wie Personen mit normabweichendem Verhalten, z.B. Homosexuelle, und bezog sich potentiell auf Nonkonformisten aller Art, die ihre Unvernunft durch eine Kritik der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bewiesen.“ (Mütherich 2005a: 9)
Menschengruppen werden damit mit dem rechtslosen Status belegt, der für nichtmenschliche Tiere üblich ist. Sozialkonstruktivistisch interpretiert kann davon gesprochen werden, dass Tier-Konstrukte in die Konstruktion von Menschengruppen einfließen. Diese Intersektion ist nicht nur für die Tierrechts-/Tierbefreiungstheorie bzw. für die Human-Animal Studies von Bedeutung, sondern darüber hinaus für fast alle Forschungsfelder, die sich mit Formen von Benachteiligung, Ausbeutung, Gewalt und Diskriminierung befassen.
4. Diskussion
Es wurde an einigen Beispielen gezeigt, dass Speziesismus und menschenbezogene Herrschaftsformen auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Sie weisen trotz ihrer Unterschiede viele Parallelen auf, haben gemeinsame Wurzeln und sind miteinander verzahnt. Die singuläre Analyse von Mensch-Tier-Verhältnissen, ohne das Mitdenken der sozioökonomischen Prinzips und menschenbezogener Verhältnisse, wird der komplexen Realität nicht gerecht und kann daher zu verkürzter Kritik und zu unvorteilhaften politischen Strategien führen. Intersektionelle Betrachtungen, also das Zusammendenken verschiedener Formen kultureller Differenz und sozialer Ungleichheit, können dem Abhilfe verschaffen.
Wer Tierausbeutung alleine abschaffen will, stößt spätestens bei den kapitalistischen Zwängen an Grenzen. Obwohl es für mich auch denkbar ist, dass es einen veganen und/oder an sozialen Mindeststandards gebundenen Kapitalismus geben könnte, erscheint dies aufgrund kapitalistischer Mechanismen als extrem unwahrscheinlich. Fleischkonsum muss kein Symbol zur Konstruktion männlicher Identität sein, jedoch ist er es und wird es wahrscheinlich auch auf absehbare Zeit bleiben, sofern dies nicht problematisiert wird. Solche Verbindungen müssen auch in der politischen Praxis Berücksichtigung finden. Dies scheint erst einmal eine Absage an Single-Issue-Bewegungen zu sein, muss es jedoch nicht! Es ist wichtig, dass die Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung Tierausbeutung und die dahinter stehenden Ideologien nicht nur als alleinstehendes Phänomen betrachtet, dass die Einbettung im Kapitalismus berücksichtigt wird und dass sich dies in den Strategien niederschlägt. Daraus folgt meines Erachtens aber nicht zwangsläufig, dass jede Gruppe und jede Person so agieren muss. Ich sehe es als durchaus gerechtfertigt an, wenn manche Gruppen keine Gesellschafts- und Kapitalismuskritik betreiben, sondern einen ethischen Umgang mit nichtmenschlichen Tieren propagieren. Ebenso erscheint es mir legitim, wenn sie sich auf Tierausbeutung und Speziesismus spezialisiert haben, ohne in anderen Bereichen aktiv zu sein oder andere Herrschaftsformen aktiv zu problematisieren. Das gilt ebenso für andere soziale Bewegungen. Bewegung braucht Vielfalt. Eine Verengung der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung auf den ‚herrschaftskritischen Flügel‘ bzw. eine Ausgrenzung der ‚Single-Issue-Fraktion‘ würde diese Vielfalt meiner Meinung nach auf eine kontraproduktive Weise beeinflussen. Nicht alle Menschen sind offen für eine linksradikal wirkende Gesellschafts- und Herrschaftskritik. Aber auch sie können offen für Tierrechte und gesellschaftliche Tierbefreiung sowie sensibel für Ungerechtigkeit und Ungleichheit unter Menschen sein. Sollte ‚die Bewegung‘ darauf verzichten, diese Menschen anzusprechen, weil sie nicht die Utopie der herrschaftsfreien Gesellschaft ‚träumen‘? Oder sollte die Bewegung auch Organisationen umfassen, welche diese Menschen auf ihre Weise ansprechen? Die Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung muss in der Gesamtheit über ihren Tellerrand, ihr Thema hinausschauen, andere progressive Bewegungen hören und sich der Verwobenheit der verschiedenen Herrschaftsformen sowie der daraus resultierenden politischen Notwendigkeiten bewusst sein. Aber sie muss auch vielfältig bleiben, um nicht nur einige ausgewählte, sondern möglichst viele Kreise zu erreichen. Menschen und Gruppen (regressive und anti-emanzipatorische ausgeschlossen) mit anderen Beweggründen und Argumenten als denen der Herrschaftskritik, etwa Mitgefühl oder Ethik, zu respektieren, sie nicht zu diffamieren und ihnen gegenüber bündnisoffen zu sein, ist dafür strategisch notwendig. Einen weiteren Punkt, der für eine solch unvoreingenommene Haltung spricht, finde ich aber viel wichtiger. Menschen und Gruppen auszuschließen oder zu stigmatisieren, weil sie nicht die gleiche Ideologie vertreten, oder schlimmer, weil sie sich nicht als linksradikal, kommunistisch oder anarchistisch bezeichnen und nicht die dafür obligatorischen Sprachcodes, Kleidungsstile etc. aufweisen, kann als Chauvinismus interpretiert werden. Auch hier spielt die Arroganz einer Gruppe eine Rolle, die sich selbst („Wir sind die Reflektierten und politisch Korrekten. Wir haben verstanden, wie die Welt funktioniert.“) und ihre Ideale (Kommunismus/Anarchismus/=herrschaftsfreie Gesellschaft) als den Maßstab schlechthin darstellt, Kontrastgruppen konstruiert (z.B. „Stinos“, „Normalos“, „Bürgerliche“) und stigmatisiert („Die reflektieren sich nicht. Die denken nicht über Ausbeutung nach.“), sich über die Abwertung selbst aufwertet und damit Ausschlüsse (z.B. aus Bündnissen) legitimiert, eine wichtige Rolle.
Dieses Plädoyer ist jedoch keins für die ‚Hauptsache-Für-Die-Tiere-Fraktion‘! Sich auf Tierrechts-/Tierbefreiungsarbeit zu konzentrieren und diese nicht in eine generelle Herrschaftskritik einzubetten heißt nicht, dass die Forderungen anderer Bewegungen ignoriert werden dürfen. Viele Kampagnen und Aktionen dieser Fraktion sind ein Faustschlag ins Gesicht anderer sozialer Bewegungen. Sie reproduzieren die Ideale und Bilder der Popindustrie, beleidigen bestimmte Personengruppen, schlachten Tragödien aus etc. Neben der Methodenwahl sind auch die Kooperationen und Netzwerke in dieser Fraktion mehr als fragwürdig. Wenn es für die Tiere hilfreich erscheint, dann ist für manche jede Kooperation erwünscht. Die Gruppen aus diesem Flügel haben i.d.R. kein Problem damit, mit der Glaubensgemeinschaft Universelles Leben zu arbeiten, der vom Bayrischen Verwaltungsgerichtshof „totalitäre Strukturen“ attestiert wurden. Helmut Kaplan – der für den rechten Fahnenträger ein Interview gab und dieses in seinen Kreisen bewarb – hat jedoch einen Fehltritt gewagt, der selbst für die ‚Hauptsache-Für-Die-Tiere-Fraktion‘ nicht repräsentativ ist. Immerhin ist die Kooperation mit nationalistischen und rassistischen Gruppierungen selbst hier ungewöhnlich.
Es muss ein Mittelweg zwischen zwei Extremen gefunden werden: Einer Bewegung, deren gesamte Strategien- und Methodensammlung nur mit Überwindung des Kapitalismus und aller anderer Übel aufgehen kann, und einer Bewegung, die für „die Tiere“ zu fast jeder Strategie und Kooperation bereit ist. Dieser Weg kann für die Bewegung aus einer Mischung von herrschaftskritischen Gruppen, die die gesamtgesellschaftliche Emanzipation und Überwindung des Kapitalismus anstreben und die Intersektionalität strategisch einplanen sowie auf Speziesismus und Tierausbeutung spezialisierten Single-Issue-Gruppen, die andere und nicht zwangsläufig weniger emanzipatorische Argumentationen, Denkanstöße und Strategien bieten können, bestehen.
5. Literatur
Adams, Carol J. (1990): The Sexual Politics of Meat. A Feminist-Vegetarian Critical Theory. London/New York: Continuum Intl Pub Group. Dt. (2002): Zum Verzehr bestimmt. Eine feministisch-vegetarische Theorie. Wien/Mühlheim-Ruhr: Guthmann-Peterson.
Combahee River Collective (1977): A Black Feminist Statement, in: Hull, Gloria/Scott, Patricia/Smith, Barbara (Hg.) (1987): All the Women are white, all the Blacks are Men but some of us are brave. Black Women’s Studies. Old Westbury NY:Feminist Press. S.210ff.
Consolidated (1991): Unity of Oppression, auf: Friendly Fascism [Musik CD]. Vancouver: Nettwerk Europe.
Crenshaw, Kimberlé (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: The University of Chicago Legal Forum, S.139-167. Dt. (2010): Die Intersektionalität von „Rassen” und Geschlecht demarginalisieren. Eine Schwarze feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht, der feministischen Theorie und der antirassistischen Politik, in: Lutz, Helma/Vivar, Maria T. H./Supik, Linda (Hg.): Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S.33ff.
Elias, Norbert/Scotson, John L. (1993): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt/M.: Suhrkampf Verlag.
Fenstermaker, Sarah/West, Candace (1995): Doing difference, in: Gender & Society 9/1995. Thousand Oaks, London: SAGE Publications. S.8ff.
Dies. (2001): „Doing Difference“ revisited. Probleme, Aussichten und der Dialog der Geschlechterforschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft 41/2001. S.237ff.
Fiddes, Nick (2003): Fleisch. Symbol der Macht. 3. Auflage. Frankfurt: Zweitausendeins.
Gamerschlag, Andre (in Druck/2011): Intersektionelle Human-Animal Studies. Ein historischer Abriss des Unity-of-Oppression-Gedankens und ein Plädoyer für die intersektionelle Erforschung der Mensch-Tier Verhältnisse, in: Chimaira – AK für Human-Animal Studies (Hg.): Titel noch unbekannt. Bielefeld: transcript Verlag. [voraussichtlich Oktober 2011].
Lejeune, Martin/Lindenbaum, Henry (2002): Ferien auf den Bahamas – oder: Geschichte unseres Scheiterns, in: Tierrechts-Aktion-Nord (Hg.): „My Brother’s Keeper“ Zur Tierrechtsbewegung – Meinungen, Gedanken, Erfahrungen. Hamburg: Tierrechts-Aktion-Nord. S.74ff.
Memmi, Albert (1992): Rassismus. Frankfurt/M.: Verlag Anton Hain.
Meulenbelt, Anja (1988): Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus. Reinbek/Hamburg: Rowohlt Verlag.
Mütherich, Birgit (2005a): Die soziale Konstruktion des Anderen – zur soziologischen Frage nach dem Tier. 2. Auflage. Hannover: Autonome Tierbefreiungsaktion Hannover.
Dies. (2005b): Speziesismus, soziale Hierarchien und Gewalt. Hannover: Autonome Tierbefreiungsaktion Hannover.
Raab, Heike (2007): Intersectionality in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität, und Geschlecht, in: Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld: Transcript Verlag. S.127ff.
V-Gruppe [Kongress-Vorbereitungsgruppe der TAN] (1995): Unity Of Oppression, in: TAN Tierrechts-Aktion-Nord (Hg.): Abschlußreader der Tierrechtswoche. Hamburg: TAN-Vor-/Nachbereitungsgruppe. S.71ff.
Viehmann, Klaus u. GenossInnen (1990): Drei zu Eins. Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus, in: Strobl, Ingrid / Viehmann, Klaus u. GenossInnen / autonome l.u.p.u.s.-Gruppe (1991): Drei zu Eins. Berlin: ID-Verlag.
- Dieser Aufsatz und der ihm zugrundeliegende Vortrag basieren auf meinem Beitrag (2011, i.D.) Intersektionelle Human-Animal Studies: Ein historischer Abriss des Unity-Of-Oppression-Gedankens und ein Plädoyer für die intersektionelle Erforschung der Mensch-Tier-Verhältnisse, der im Herbst 2011 in einem Sammelband über Human-Animal Studies erscheinen wird und die theoretischen und forschungsprogrammatischen Aspekte vertieft. [zurück]
- Single-Issue bedeutet, dass sich etwas auf nur ein Thema bezieht. Einerseits können damit Bewegungen, Kampagnen etc. gegen bestimmte Praxen (Pelz, Zoo, Jagd etc.) gemeint sein, andererseits Bewegungen mit nur einem Referenzsubjekt (etwa Frauen-, Behinderten-, Schwulen-, Lesben-, Tierrechtsbewegung). In diesem Aufsatz sind mit Single-Issue immer Bewegungen gemeint, die auf die Emanzipation von nur einem Subjekt zielen. [zurück]
- In Anlehnung an sozialkonstruktivistische und queere/dekonstruktivistische Diskurse benutze ich Begriffe wie ‚Mann‛, ‚Frau‛, ‚Weiß‛, ‚Schwarz‛ als Identifikationskategorien oder sozialstatistische Genusgruppen, also in einem reflexiven, kategoriekritischen und antiessentialistischen Sinne. [zurück]
- Noch vor 100 Jahren war es etwa noch unproblematisch für Wissenschaftler und ‚Gelehrte‘, Vergleiche zwischen Schwarzen und Affen oder Frauen und Tieren herzustellen oder sogar zu behaupten, dass die jeweilige Menschengruppe tierähnlich sei, während weiße Männer die vollkommenen oder richtigen Menschen seien. [zurück]
- Während Kapitalismus ein sozioökonomisches Prinzip zur Organisation von Arbeit/Produktion und Ressourcenverteilung bezeichnet, welches zu enormer sozialer Ungleichheit und Naturzerstörung führt, wird Klassismus als Herrschafts-, Benachteiligungs- oder Diskriminierungsform begriffen, wie auch Sexismus oder Rassismus, die sich aus der kapitalistischen Produktionsweise ergibt. [zurück]
- Abolitionismus ist ein Synonym für die Anti-Sklaverei-Bewegung. Der Begriff wurde von einigen Tierrechtler_innen und Tierbefreier_innen auf das Mensch-Tier-Verhältnis übertragen und wird von ihnen zur Beschreibung ihrer Positionen verwendet. [zurück]