[MR] rassistische Zustände - der Grenzgang in Mittelhessen

grenzgangBiedenkopf

Alle sieben Jahre findet im Ort Biedenkopf (bei Marburg) eine dreitägige feierliche Begehung der alten Gemeindegrenzen statt, bei dem es neben militärischen, sexistischen und nationalistischen Elementen einen rassistisch-kolonialen Part gibt.

 

Der Grenzgang in Biedenkopf bei Marburg – ein deutsch-koloniales Volksfest

 

Der Grenzgangsverein Biedenkopf e.V. veranstaltet alle sieben Jahre einen historischen"Grenzgang", eine dreitägige Begehung der Ortsgrenze mit Volksfest-Charakter.Nachdem die Einwohner_innen * Biedenkopfs früh morgens mit Kanonenschüssen geweckt werden, versammeln sich die in Männergesellschaften und Burschenschaften organisierten Einwohner nach Stadtteilen getrennt. Mit Fahnen und Wimpeln ziehen sie in Formation zum Marktplatz, wo sie durch ihre "Führer", "Hauptmänner" und "Obersten" zum Appell gemeldet und vom anwesenden "Volk" bejubelt werden. Die weiblichen Gemeindemitglieder unterscheiden sich in unverheiratete "Mädchen" und verheiratete "Damen", welche die Burschenschaften bzw. Männergesellschaften ihrer Stadtteile unterstützen. Eine besondere Rolle spielt der sogenannte "Mohr", ein weißer Mann, der mit schwarzer Farbe bemalt, mit schwarzem Vollbart, Krummsäbel und einer geschichtsträchtigen schwarzen Uniform mit goldenen Knöpfen ausstaffiert wird. Flankiert wird er von zwei mit Peitschen ausgestatteten, weißen Männern in weißen Hosen und blau-roten Wendejacken, den sogenannten "Wettläufern". "Der Mohr führt tanzend mit seinem langen Säbel den Zug an, die Wettläufer umkreisen ihn mit lautem Peitschenknallen." [aus: Grenzgangbroschüre 2012]

 

Begleitet wird die Spitze von den, mit Lederschürze und Äxten ausgestatteten “Sappeuren” - so wurden im 19. Jahrhundert Belagerungspioniere bzw. Truppenhandwerker genannt. Ihre traditionelle Aufgabe ist es, den "Grenzgänger_innen" während ihres Marsches durch den Wald den Weg frei zu schlagen. Nachdem alle Burschen- und Männergesellschaften auf dem Marktplatz gemeldet wurden, der Bürgermeister eine feierliche Ansprache gehalten hat, die Totenehrung vollzogen wurde und die deutschen Nationalhymne gesungen wurde bewegt sich der Männermarsch, inklusive Spielmannszüge, auf dem Weg in die Oberstadt. Diese wird zweimal umrundet, wobei erst nach der letzten Runde die Mädchen, Frauen und der Rest der Umstehenden an den Zug anschließen darf. Nun folgt der eigentliche Höhepunkt des Festes: die Ortsgrenze wird nun entlang der historischen Grenzmarkierungen abgelaufen. Gäste, ehemalige und neue Biedenköpfer_innen werden “gehuppcht”, indem sie von den "Wettläufern" dreimal mit dem Steiß auf einen Grenzstein gestoßen werden, wobei der "Mohr" die Worte "Der Stein – die Grenze – in Ewigkeit" spricht und den Gehuppchten einen Wangenkuss gibt und so jeden Neuankömmling mit schwarzer Farbe markiert. Ein Zwischenstopp erfolgt am "Frühstücksplatz" im Wald, wo Bier- und Bratwurststände zur Verfügung stehen. Nachmittags wenden die "Wettläufer" ihre Jacken von der blauen auf die rote Seite. Am Ende des Tages treffen sich die Gemeinden zum Feiern im Festzelt bei Volksmusik und Bier.

 

Rassismus, Kolonialismus...

 

Was verrät dieser Brauch, der auf historische Gebietsstreitigkeiten im 16. Jahrhundert zurückgeht und mit ähnlichen Zeremonien auch in anderen mittelhessischen, westfälischen und niedersächsischen Regionen gepflegt wird, über diejenigen, die sich ihm verbunden fühlen? Wie der Grenzgangsverein freimütig zugibt, waren Vorlage für die Symbolfigur des sogenannten "Mohren" Schwarze Hofdiener, die den hessisch-darmstädtischen Landgrafen angeblich als "Harlekine" zur Belustigung, aber auch zur Machtdemonstration und Abschreckung von Eindringlingen dienten. Ob dieser im Falle des Biedenköpfer Grenzgangs selbst als Eindringling gesehen wird oder ob er als Maskottchen herhalten muss, ob er nun den Marsch anführt oder bei näherem Hinsehen von ihm verfolgt wird - in jedem Falle beruht dieses Schauspiel offenbar auf einer symbolgewaltigen, rassistischen Inszenierung des Schwarzen Anderen. Mit "tänzelnden" Bewegungen, schwarzer Schminke, Uniform und Säbel perfomt ein weißer das, was gemeinhin als Schwarze Attitüde angenommen wird. Seine schwarze Uniform steht im Kontrast zu den weiß gekleideten Peitschenträgern. Sie ist historischen Husaren-Uniformen nachempfunden, die im 19. Jahrhundert von ungarischen Soldaten der “Gemeinsamen Armee” Österreich- Ungarns getragen wurde und ihrerseits einen Verweis auf eine feindselige historische Vergangenheit darstellt. Der Säbel, dem Sarass oder Husarensäbel nachgebildet, symbolisiert “orientalische Aggressivität”. Die schwarze Schminke und die tänzelnden Bewegungen erinnern an die rassistisch geprägte Theatermaskerade der Blackface Minstrelsy, die in Unterhaltungsshows im 19. Jahrhundert vor allem in den Nordstaaten der USA aufkam.

 

In diesem Show-Format traten weiße mit schwarz geschminktem Gesicht und Wollperücke als singende, tanzende Clowns auf und bedienten rassistische Stereotype vom Schwarzer Exotik als naiven, unbeschwerten Sklaven. Diese Darstellung diente dazu, die menschenverachtenden Zustände in der Sklaverei in zynischer Weise zu verharmlosen. Dass die Figur des "Mohren" von den Grenzgangteilnehmer_innen darauf zurückgeführt wird, dass weiße Landgrafen mit “Mohren” als Statussymbol protzten, bekräftigt diesen bevormundenden und besitzergreifenden Rassismus, der nicht-weiße zu kindsköpfigen, dienstbaren Närr_innen herabsetzt. Zwar scheint das Biedenköpfer Amt des "Mohren" gegenwärtig durchaus ein erstrebenswertes zu sein, es kann jedoch nicht über den wahren historischen Kontext dieser Figur hinweg täuschen. Eine, in Bezug auf den "Mohren", gewaltvolle Facette des Grenzgangs verkörpern die sogenannten “Wettläufer”: Ihr Wettlauf besteht darin, ihn in Schach zu halten, mit ihrem Peitschenknallen ungebetene Fremde zu verscheuchen und den Grenzgangszug anzutreiben: Vermutlich ist ihre züchtigende Funktion der Grund, weshalb sie im Laufe des Tages ihre Wendejacken von der blauen auf die blutrote Seite umkehren. Anschließend folgt das "Huppchen", bei dem Gästen und Zugezogenen der Grenzverlauf eingebläut werden soll: Obwohl dieses Ritual heute schmerzfrei von statten geht, hat es seinen demütigenden und gewaltsamen Charakter behalten. Es ist eine Drohgebärde derjenigen, die schon zur Dorfgemeinschaft dazugehören, gegenüber denen, die noch keine vollwertigen Mitglieder sind. Im Anschluss werden die "Neuen" durch einen Wangenkuss des "Mohren" markiert und so unmissverständlich gekennzeichnet. Die sogenannten Wettläufer sind auf die Zeit der deutschen Kolonialherrschaft im Osten des afrikanischen Kontinents zurückzuführen. Als Symbol des deutschen Herrschaftsanspruchs im Kolonialgebiet tragen sie Peitschen, mit denen der ansässigen Schwarzen Bevölkerung der deutsche Kolonialismus eingedroschen wurde. Wer den unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Zwangsarbeit nicht standhielt oder sich gegen die deutschen Kolonialherren* zur Wehr setze, wurde ausgepeitscht, in Lager gesperrt oder ermordet. Nachdem das Deutsche Kaiserreich im heutigen Namibia, Togo, Kamerun und Tansania Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent in Besitz nahm, wurde deren Bewohner_innen ins Deutsche Reich verschleppt, um in "Menschenzoos", auf Jahrmärkten oder im Zirkus als "Menschenfresser" vorgeführt zu werden.

 

Mit diesen rassistischen Inszenierungen wurde die "Angst vorm Schwarzen Mann" geschürt und so die Greueltaten der deutschen Kolonialbesatzung an der ansässigen Bevölkerung verharmlost bzw. gerechtfertigt. Dort, wo die Schaulustigen besonders einfältig waren, wurden die "Menschenfresser" nicht von Schwarzen Personen dargestellt, sondern von weißen, die sich mit schwarzer Farbe beschmierten. Mit der Symbolfigur militaristischen Brimboriums des sogenannten "Mohren" inklusive des wurde der Rassismus deutscher Kolonien auf völkisches Brauchtum im Hinterland des damaligen Großherzogtums Hessen übertragen. Der Bezug zwischen deutschen Kolonien und dem Marburger Hinterland hat durchaus seine Gründe: Im Kolonialrecht wurden als Hinterland sogenannte Interessensphären und staatslose Gebiete bezeichnet, auf die Imperialmächte Herrschaftsansprüche erhoben. Als Hinterland wird die Peripherie bezeichnet, die aufgrund mangelnder Infrastruktur, agrarisch geprägter Wirtschaftsstruktur und geringen Bildungs- und Berufschancen der Bevölkerung von Lebensbedingungen politischen im Machtzentren Hessischen abhängig Hinterland so ist. So miserabel, waren dass die viele Hinterländer_innen sich als Tagelöhner_innen in den umliegenden Ballungszentren z.B. im Rhein-Main-Gebiet verdingten. Diese Arbeitsmigrant_innen ernährten ihre Familien, indem sie einen Teil ihrer Löhne nach Hause schickten. Andere wanderten in die Vereinigten Staaten, nach Australien, Osteuropa, Rußland oder in die deutschen Kolonien aus.

 

... Militarismus, Sexismus...

 

Der Grenzgang wird als militärischer Feldzug inszeniert, an dem nur die männlichen Einwohner teilnehmen. Diese teilen sich festen Kompanien zu, die von der strammen Hierarchie ihrer Representanten angeführt werden. Die Wappen, Wimpel, Schärpen, Kanonenschüsse und Uniformen nachempfundenen Trachten unterstreichen den militaristischen Charakter. Frauen* sind bei den zeremoniellen Zusammenkünften zwar nicht zugelassen, fiebern aber im Herzen mit und basteln den beteiligten Männerbünden Schleifen und Wimpel zur moralischen und repräsentativen Unterstützung bei deren Aufgaben. Später werden sie traditionsgemäß von sogenannten Damen- und Mädchenführern abgeholt und zum Frühstücksplatz geleitet, wo ihre Anwesenheit wiederum als notwendiger Beitrag zum geselligen Beisammensein eingefordert wird. Darüber hinaus stellen sie dort den Inbegriff der zu beschützenden Heimat dar, die vom sogenannten "Mohren", der für fremde Einflüsse steht, beschmutzt wird. Dass Frauen* vom eigentlichen Grenzgang ausgeschlossen sind, überrascht wenig, sind sie doch nach gutbürgerlicher Geschlechteraufteilung in den häuslichen Bereich verwiesen und sollen für emotionale Bestärkung, leibliches Wohl und liebreizende Begleitung zuständig sein, während Männern* öffentliche Aufgaben wie die Aushandlung und Verteidigung von Gebietsgrenzen zugedacht werden. Unterschieden wird nicht nur zwischen Männern* und Frauen*, sondern auch zwischen Verheirateten und Junggesell_innen. Hieraus ergibt sich eine Trennung in "Bürger" und "Damen" sowie in "Burschen" und "Mädchen", die sich in streng voneinander getrennten Verbünden organisieren. Eine solche Unterteilung beruht auf einer Ideologie, nach der nur eine heterosexuelle, monogame Ehe als normal und anständig gilt und alles, was von dieser Norm abweicht, mit Abwertung, Spott und Ausgrenzung bedacht wird. Hierin äußert sich ein zutiefst heterosexistisches und spießbürgerliches Weltbild.

 

Fakt ist: Beim Grenzgang werden Grenzen gesetzt. Respektierter Teil der imaginierten und zelebrierten Gemeinschaft ist, wer weiß, Heterosexuell und im besten Fall verheiratet oder wenigstens Heiratswillig ist. Der angelegte Normenkatalog orientiert sich an klassischen spießbügerlichen und zutiefst deutschen Werten. Das Bedürfnis nach einer Gemeinschaft, die sich maßgeblich über eine “Blut und Boden Ideologie” begründet finden im hessichen Hinterland ihren Ausdruck. Alles "Fremde" wird in Form des "Mohren" vorgeführt oder durch Peitschenhiebe vertrieben. Dieses Jahr ist es wieder so weit: Vom 16. – 18. August findet das traditionstriefende Heimatfest mit Brauchtumsduselei, Trachtenfummel und altpreußischer Marschkapelle statt. Und wenn die Biedenköpfer_innen schon mal so in Nostalgie schwelgen, dürfen ganz in Anlehnung an alte Traditionen natürlich Rassismus, Sexismus, Nationaltümelei und Militarismus nicht fehlen.

 

Weitere Infos:

lisa2.blogsport.de

 

* Im gesamten Text ist zu beachten, dass wir von der Konstruiertheit des dualen Geschlechtersystems ausgehen. Aus diesem Grund verwenden wir den gender_gap und das Sternchensymbol, falls es sich um eine von Außen definierte Geschlechterkategorie handelt welches wir somit infrage stellen wollen.

 

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