»Ein Sieg der Opposition ist sehr wenig wahrscheinlich«

Romain Migus

Der venezolanische Revolutionsprozeß hat eine starke Klassenkampf-Komponente. Deshalb: Wenn die Opposition erneut das Parlament kontrolliert, wird sie zahlreiche soziale Programme der Chávez-Regierung beenden. Gespräch mit dem Soziologen Romain Migus.

 

Der französische Soziologe Romain Migus lebt seit 2004 in Venezuela. 2006-2007 hat er beim Centro Internacional Miranda in Caracas geforscht. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen über die Bolivarianische Revolution.

 

Manola Romalo: Der venezolanische Nationale Wahlrat (CNE) informierte bei einer Pressekonferenz am 19. September, daß er zu den Parlamentswahlen 150 internationale Beobachter akkreditiert und 60 ausländischen Begleiter eingeladen hat. Sie werden »die legale venezolanische Ordnung strikt befolgen müssen.” Weshalb betonte der CNE diese Empfehlung? Ist sie nicht normal?

 

Romain Migus: Die venezolanische Opposition hatte gedacht, daß sie die historische Dürre im ersten Halbjahr für sich auszunutzen könnte. In einem Land, das seine Stromversorgung fast nur aus Wasserkraftwerken produziert, mußte die bolivarische Regierung unpopuläre Notmaßnahmen wie Rationierungen ergreifen. Aber zu guter Letzt hat die venezolanische Bevölkerung verstanden, daß sie notwendig waren. Und die Opposition wird die vor einigen Monaten entstandene Unzufriedenheit nicht für ihre Wahlzwecke manipulieren können. Danach versuchte sie erfolglos, einen Korruptionsskandal beim Staatsunternehmen für Lebensmittelproduktion und -vertrieb PDVAL für sich auszunutzen. Jetzt steht die konterrevolutionäre Rechte vor einem Wahlprozeß, den sie verlieren wird. Einige abenteuerlustige Putschisten fangen jedoch an, von einer angeblich von der Regierung organisierten »Wahlfälschung« zu reden. Die Idee ist, sich dem Willen des Volkes nicht zu beugen, die Wahlergebnisse nicht anzuerkennen sondern einen »soft Putsch« anzustiften, so wie er in Serbien, in der Ukraine oder in Georgien fabriziert wurde.

 

Manola Romalo: In Venezuela haben seit dem Amtsantritt des Präsidenten Hugo Chávez 15 Wahlen stattgefunden. Alle sind durchwegs von internationalen Beobachtern wie dem Carter Center oder der EU anerkannt worden. Als Folge ist das Vertrauen zwischen Bevölkerung und CNE sehr gewachsen.

 

Romain Migus: Die von dir erwähnte Empfehlung des CNE bezweckt, einige der Regierung übel gesinnte ausländische Beobachter daran zu erinnern, daß sie nicht über den nationalen Gesetzen stehen. Sollten sie sich in dem politischen Prozess einmischen oder ein Konfrontationsklima provozieren, könnte die Behörde gegen sie Sanktionen ergreifen.

 

Manola Romalo: Mit über einer Million Euro finanzieren CDU und SPD die venezolanische Opposition, schreibt Susanne Gratius von der staatsnahen »Stiftung Wissenschaft und Politik« (Berlin), in einer im Mai veröffentlichten Studie. Ergreift die bolivarianische Regierung juristische Maßnahmen, um diese illegalen Zuwendungen zu verhindern?
 
Romain Migus: Stellen wir uns einmal vor, Nordkorea würde deutsche politische Parteien, Gewerkschaften, soziale Organisationen etc. mit Millionen Dollar finanzieren. Wie würden die politische Macht, die deutsche Justiz und die Presse darauf reagieren? 

Obwohl internationale Medien die Regierung als »Diktatur« bezeichnen, ist in der Bolivarianischen Republik Venezuela keine einzige Organisation behelligt worden, weil sie diese Art Finanzierung erhält. Ich glaube, daß den neuen revolutionären Abgeordneten die Aufgabe zukommen wird, über diese permanente Einmischung nachzudenken damit sie erreichen, daß der Staat das Instrumentarium ausländischer Finanzierung regelt und organisiert, so wie die meisten demokratischen Länder es auch tun.

Manola Romalo: Was steht für das venezolanische Volk auf dem Spiel bei diesen Parlamentswahlen vom 26. September?

Romain Migus: Der venezolanische Revolutionsprozeß hat eine starke Klassenkampf-Komponente. Deshalb besteht nicht der geringste Zweifel: Wenn die Opposition erneut das Parlament kontrolliert, wird sie zahlreiche soziale Programme der Chávez-Regierung beenden die erlaubt haben, den Analphabetismus zu besiegen, die Armut von 55 auf 23 Prozent zu senken, den Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnungen und dem Bildungssystem zu demokratisieren, u.v.m. 2008, nach den Kommunal- und Regionalwahlen, sahen wir, wie  die Opposition - dort wo sie gewonnen hatte - innerhalb von 48 Stunden bewaffnete Gruppen abkommandierte, die die Symbole der revolutionären Errungenschaften angegriffen haben: die medizinische Mission »Barrio Adentro« und die öfentliche Universität UNEFA.

Eine parlamentarische Rechte würde sofort einen »zivilen« Staatsstreich à la Honduras in die Wege leiten. Viele Oppositionsmitglieder sprachen bereits offen darüber. Wir können sagen, daß mit diesen Wahlen ein Teil der Zukunft der Revolution auf dem Spiel steht.

Manola Romalo:  Kann die rechte Opposition die parlamentarische Mehrheit erreichen?

Romain Migus: Die reale Ungewißheit besteht darin zu wissen, ob die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas und ihre Verbündete, die Kommunistische Partei, zwei Drittel der insgesamt 165 Parlamentssitze behalten werden. Falls sie diesen Anteil verlieren, werden sie die Zusatzkredite für soziale Programme, internationale Abkommen oder eine Verfassungsänderung nicht genehmigen können. Keine Zweidrittelmehrheit im Parlament zu erreichen, könnte die Revolution etwas bremsen . Dennoch ist ein Sieg der Opposition sehr wenig wahrscheinlich.

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Dieser Text ist wirklich wie aus Prawda von 1980 herausgegriffen.

Die alternativen Parteien (MUD und PP) haben mehr als die Hälfte der Stimmen bekommen (47.22% bzw 3.14%) gegen 48.13% für die Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas, PSUV, die 48,13% der Stimmen gekriegt hat. Und dennoch haben die alternativen Kräfte nur 65+2 Abgeordnete gegen 98 der PSUV bekommen. Im Gegensatz zu Grossbritannien und den USA verlangt die venezolanische Verfassung, dass die Sitze nach Anteil der Stimmen verteilt werden. Der Wahlrat ist aber von Pro-Chavez völlig kontrolliert und er hat Anfang 2010 wieder jede Menge Gerrymandering eingeführt.

 

Der Erdölpreis in den Neunziger war extrem niedrig. 1998, als der Putschist von 1992 gewählt wurde, lag der Preis auf 12 Dollar pro Barrel. Nun ist er auf über $70. Dementsprechend sind die Einkommen gestiegen. Dennoch ist die Mordratte um mehr als 300 gestiegen und die reale Löhne steigen seit 2007 nicht mehr. Die so oft gepriesene Abnahme der Armut ist

überhaupt nicht nachhaltig und ist eine Folge der Erdölpreise. So eine Abnahme - aber viel stärker - hatte Venezuela Anfang der 70er Jahren erlebt.

 

Zur Zeit sind die meisten der Chavez-Gouverneure Militärs und ein paar andere Verwandte (sowie der von Barinas, der Chavez Bruder ist). Venezuela hat jetzt gar keine sozialistische Regierung, sondern eine Militärregierung.

 

Chávez sagt, er sei "das Volk", er wolle bis nach 2021 regieren (früher hatte er das dementiert oder einfach  Witze zwischendurch erzählt, aber seit Jahren nicht mehr). Wir haben jetzt ein Personenkult, der an den von Turkmenistans letzter Diktator erinnert.

 

Die alternativen Parteien wollen gar nicht die sozialen Programme abschaffen. Dafür haben Sie keine Beweise. Ganz im Gegenteil: die alternativen Parteien wollen diese Programme effizienter machen.

 

Die Militärregierung weigert sich, an der PISA-Studie teilzunehmen. Sie weiss, dass es besser ist, falsche Zahlen an Unesco zu geben und self-assesment studies durchzuführen (von wegen Analphabetismus) als Transparenz zuzulassen.