Am 19.08. wollen Neonazis in Spandau und Charlottenburg aufmarschieren. Anlass ist der 30. Todestag des NS-Politikers und Mitverfassers der Nürnberger Rassegesetze Rudolf Heß. Dieser beging 1987 im alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Spandau Selbstmord. Aufbauend auf der Behauptung, es habe sich bei den Gründen seines viel zu späten Ablebens um einen Mord gehandelt, ist er seitdem Ziel neonazistischer Märtyrerverehrung (1).
Die andere Seite eines solchen nationalsozialistischen, neoromantischen Totenkults, die Verachtung des Lebens, ist nicht zuletzt, was das am Samstag zu erwartende Spektrum gefährlich macht. Die Neonazis wähnen sich als Teil einer „Herrenrasse“ nicht nur höherwertig als andere Menschen, sie glorifizieren noch den eigenen Tod im Kampf für ihr Kollektiv der Wahnhaften (2). Ihr „Kampf“ ist dabei meist nichts Anderes als grausame Gewalt. Die Amadeu Antonio Stiftung zählt 179 Todesopfer rechtsextrem motivierter Morde seit 1990. Unter diesen die Opfer des NSU, der Mordserie, die nach der letzten langen Phase rechter Massenproteste gegen Geflüchtete in den 90ern begann. Die Gefahr ist also absolut konkret. Gerade für unsere Genoss*innen in manch weniger urbanen Gebieten kann der Aktivismus im Angesicht dortiger faschistischer Straßenhegemonie zu einer massiven Bedrohung führen. Auch am Berliner Stadtrand greifen Neonazis immer wieder „Volksfremde“ an.
Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Ausmaß politischer Wirkmacht von Neonazis in Deutschland. Denn obgleich der massiven Mobilisierung werden am Samstag nur um die tausend Teilnehmer*innen zu einem „Pflichttermin“ der Szene erwartet. Zu einem Termin, zu welchem bundes- und sogar europaweit mobilisiert wird. Es ist jedoch eine Mobilisierung, an der sich die einflussreichere „Neue Rechte“ samt AfD und Identitärer Bewegung eben nicht beteiligt. Diese bemüht sich im Gegenteil größtenteils um eine Abgrenzung vom Nationalsozialismus (3), auch wenn diese Bemühungen aufgrund ideologischer Übereinstimmung oft genug scheitern. NPD, Die Rechte und der Dritte Weg, die auch zu dem Aufmarsch aufrufen, sind Kleinstparteien ohne nennenswerte parlamentarische Bedeutung. Sie können zwar besonders im ländlichen Raum immer wieder Menschen für ihre Menschenfeindlichkeit gewinnen, doch die bundesdeutschen politischen Diskurse bestimmen sie eher nicht mit. Selbst im Zuge der „Flüchtlingskrise“ war es primär ökonomisch oder kulturell begründete Hetze gegen vermeintliche „Wirschaftsflüchtlinge“ oder „Kulturfremde“ die Anklang in der breiteren Öffentlichkeit fand. Die offen rassifizierenden Argumentationsmuster klassischer Neonazis blieben meist ungehört oder gut getarnt.
Gesellschaftliche Bedeutung ist etwas, das die Neonazi-Szene häufig erst durch ihre Funktion für Andere gewinnt. Bei der Verschärfung geflüchtetenfeindlicher Gesetze kommen die Rechten manch Mandatsträger*in sehr recht. Sie fungieren dann als Repräsentanten des unzufriedenen Volkes, dessen rassistische Bedürfnisse es zu befrieden gilt. Zum Anderen dienen sie als artfremdes Böses, das bekämpft werden kann. Insbesondere die SPD und mit ihr die Grünen sind es, die Gelegenheiten wie das Heß-Gedenken nutzen, um sich als antifaschistische Vorkämpfer*innen zu präsentieren. Auch für den kommenden Samstag rufen sie zu Protesten auf. Die Spandauer Bezirksverordnetenversammlung hat gar einstimmig, also im Einklang mit CDU und AfD, ihre Ablehung des Aufmarsches verkündet (4), ein Vorgang der beispielhaft ist. Als Erzählung hinter solch staatstragendem Agieren wird der gemeinschaftliche Mythos von einem geläuterten Deutschland gepflegt. Dieses habe sich in Negation zum Nationalsozialismus gebildet und kämpfe nun aufrecht gegen das Böse. „Wir haben aus unserer Geschichte gelernt“ lautet ihre Parole. Sigmar Gabriel erklärt in diesem Sinne Rechtsextreme auch schon mal zu „Undeutschen“(5). Antisemitismus und deutsches Dominanzstreben bestehen in dieser Erzählung nur in historischer Form, dessen untote Ausgeburt in Form der Neonazis symbolisch bekämpft wird, wobei der Post-Auschwitz-Deutsche Currywurst fressend (mit Pieker) seine vermeintliche Läuterung zur Schau tragen kann.
Die identitätsstiftende Geschichte vom Aufarbeitungsweltmeister Deutschland ist die breit akzeptierte Grundlage hiesiger Politik. Es ist die moralische Rechtfertigung für einen deutschen Führungsanspruch, der jetzt „Verantwortungsübernahme“ heißt. Dass die für die Durchsetzung dieses Anspruchs notwendige ökonomische Vormachtstellung noch immer auch auf vergangener Vernichtung, Kriegsbeute und zu deutschem Kapital geronnener Zwangsarbeit aufbaut, ist in dieser Geschichte keine Randnotiz wert.
Auch für einige „Linke“ scheinen die Nazis gelegentlich nicht ungelegen zu kommen. Voller Begeisterung werden hier Mobi-Videos produziert (shame on us) während bei anderen Gelegenheiten, wie dem Erstarken von Strukturen der „Grauen Wölfe“ (türkische Faschisten) in den als eigen empfundenen Kiezen, oft ein Gefühl von Ohnmacht herrscht. Bei Gelegenheiten wie dem Heß-Aufmarsch kann sich dem trügerischen Gefühl von Stärke hingegeben werden. Auch scheint der Judenhass in den eigenen Reihen vernachlässigbarer gegenüber dem Vernichtungsantisemitismus der Neonazis. Es ist gegenüber diesem aber auch tatsächlich so, dass sich für eine radikale Linke, dass sich für uns, ein Relativieren verbietet.
Klar ist: (Bekennenden) Nazis muss entgegengetreten werden. Dies kann kaum entschieden genug passieren, ist es doch voraussichtlich nur eine Frage der Zeit bis wieder einer von ihnen mordet. Unsere Radikalität sollte sich dabei jedoch nicht nur auf die Form des Widerstands beziehen. Es kann nicht kritiklos Hand in Hand mit SPD Mitglieder*innen marschiert werden, deren Partei-Obere nach dem G-20 Gipfel in Hamburg die Jagdsaison auf Linke eröffnet haben. Es gilt die deutschen Mythen, den deutschen Nationalismus, der auch immer ein Nationalismus der Sozialdemokratie ist (6), anzugreifen. Freund*innen, beteiligen wir uns am Protest gegen den Nazi-Aufmarsch. Ausdrucksstark und unversöhnlich.
Nie wieder Deutschland! Für den Kommunismus!
Antifa+, August 2017
(1) https://www.antifainfoblatt.de/artikel/der-geschichtspolitische-fundamen...
(2) https://www.libraryofsocialscience.com/newsletter/posts/2014/2014-12-8-o...
(3) Die Identitäre Bewegung gefielen sich beispielsweise kürzlich dabei Gedenksteine für NS-Zwangsarbeiter im Berliner Umland zu reinigen.
(4) http://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/spandau/aus-der-bezirksverordn...
(5) http://www.mdr.de/sachsen/dresden/gabriel-besucht-heidenau100.html
(6) siehe zum Beispiel aktuell in Konkret 8/2017, „Das üblere Kleine“
Linke zum Video
eben leider vergessen. sry. bitte einfügen: https://vimeo.com/230163270
peinlich
Euer Ernst? Wenige Stunden vor dem Aufmarsch bringt ihr diesen Aufruf und dieses nichtssagende Mobi-Video raus? Die Mobi läuft seit Wochen, habt ihr in der Zeit Däumchen gedreht oder in Israel gechillt?
Antifa braucht Utopie. Euer Text besteht aus Jammern auf höchstem (akademischen) Niveau. Was für eine Bewegung wollt ihr sein? Ihr dreht euch nur um euch selbst.
hä
Was ist los bei dir? Ich finde das Video jetzt auch nicht super vielsagend. Der Aufruf ist an manchen Stellen zu komliziert geschrieben, aber was soll dein Hass auf Akademiker? Willst du eine dumme Bewegung? Ich bin auch "Akademiker". Soll ich mich verpissen? Ich freue mich auf jeden Fall wenn ich von ner aktivistischen Gruppe auch mal nen klugen Text lese. Auch wenn ich ne andere Meinung habe. Die kann mensch dann ja drunter schreiben.
jo
Bisschen spät, aber der Aufruf ist sauber. Video auch nice. Nächstes Mal bitte früher!
Stabil!
Jetzt ins Bett und morgen früh raus aus den Federn.