Revolution und Gegenrevolution

Einleitender Vortrag für eine Diskussion über die russische Revolution des Jahres 1917, am 26.11.2016 im Rahmen einer Reihe von Seminaren über die Oktoberrevolution vom Bildungskollektiv BiKo in Erfurt.

 

Wenn ich hier den revolutionären Prozess des Jahres 1917 und die vom „Roten Oktober“ ausgehende Gegenrevolution nachzeichne, dann ist zunächst eine Vorbemerkung zu den Veränderungen ihrer Rezeption und Geschichtsschreibung am Platz. Bis zur Öffnung der Archive unter „Glasnost“ wurde die geschichtliche Wirklichkeit unter einem dichten Mythenteppich verborgen gehalten. Er war aus den geschichtspolitischen Werkstätten der Sowjetunion, vor allem unter dem Diktat der Ende der 30er Jahre von Stalin verordneten offiziellen Darstellungen gewebt und über ML-orientierte Geschichtspflege und Propaganda in alle Länder getragen worden. Mit der Öffnung der Archive wurde eine Fülle von Material erschlossen, das den Mythenteppich allmählich auflösen half. Das gilt besonders für die von 1918 bis 1922 gegen die revolutionären Bäuer*innen und Arbeiter*innen entfesselte Gewalt.

 

Revolution

 

Die Revolution des Jahres 1917 vollzog sich wesentlich in drei Strängen. In der Revolution der Bäuer*innen im Frühjahr und Herbst, in der damit korrespondierend verlaufenden Machtübernahme in der Produktion durch die Fabrikkomitees (auch „Räte“ genannt) und schließlich durch die Soldatenräte in der Armee. An allen waren auch bolschewistische Arbeiter*innen beteiligt, sie wurden aber nicht von ihnen bestimmt. Die revolutionäre Explosion des Jahres 1917 wurde von den Textilarbeiterinnen des Petersburger Wyborg-Bezirks gezündet, die die Kämpfe der vergangenen Jahre gegen die zaristische Ernährungs- und Inflationierungspolitik in einen revolutionären Impuls übersetzten. Sie zogen männliche Arbeiter, manchmal mit Mühe, in die binnen Wochen erstarkende Streikbewegung hinein und setzten die Februarrevolution in Gang, an deren Ende die Abdankung des Zaren am 3. März stand. Die Bolschewiki waren davon überrascht worden und zogen, von Lenin aus der Schweiz angestachelt, nach. Von hier aus radikalisierte sich der revolutionäre Prozess schubweise auf dem Land, in den Fabriken und in der Armee. Auf dem Land überführten die Bäuer*innen die Gutshöfe (einige brannten sie ab) in die kollektive Verfügung der Dorfgemeinschaften und übernahmen die Verwaltungszentren. An der Bauerrevolution war bemerkenswert nicht nur die Übernahme der Gutshöfe, sondern die Selbstorganisation in der Herstellung einer eigenen lokalen Verwaltung. Der lokale Staatsapparat brach zusammen, in demokratischen Verfahren wurden Bauernkomitees gewählt, die eigenes Dorfrecht schufen.. Sie verwandelten einen großen Teil der Gutshöfe in Schulen, in denen sie von ihnen bezahlte Lehrer*innen einstellten, weil sie Bildung sehr wichtig nahmen. Und sie begannen sogar, übergreifende Strukturen zunächst auf Regionalebene herzustellen. Sie wurden bei alldem bestimmt von den Vorstellungen der sogenannten „moralischen Ökonomie“, entwickelt über Jahrhunderte in den Kämpfen gegen die meist adeligen Grundeigentümer. Tragend war eine egalitäre, eigentumsfeindliche Einstellung, die auch die Versorgung der armen und notleidenden Mitbewohner*innen einschloss. Die unter Stolypin vor dem Krieg gebildeten und aus der Dorfgemeinschaft ausgescherten Kulakenwirtschaften wurden aufgelöst und ins Dorfkollektiv zurückgenommen. Bauernselige Romantiker aus der Ecke der Narodniki und von sozialrassistischer Verachtung gegen die „dunklen, rückständigen Massen“ bestimmte Marxisten (wie etwa Plechanow: „Lasttiere“) verfehlten in ihren Beurteilungen die Herkunft der bäuerlichen Einstellungen aus den Kämpfen der vergangenen Jahrhunderte in schöner komplementärer Übereinkunft. Im Oktober war die gesellschaftliche Basis des russischen Staats verschwunden und Lenin trieb aus seinem Versteck in Finnland die Genossen an, die Revolution auf dem Land endlich zur Kenntnis zu nehmen. Nicht ohne Grund, denn es war der bei weitem wichtigste Strang der Revolution. Schließlich lebten 80% der Bevölkerung auf dem Land. Die Verhältnisse, die diese Revolution schuf, waren nunmehr herrschende Verhältnisse, legitimiert in neuen revolutionären Rechtsformen. Die Revolution korrespondierte sogar direkt mit der von Zapata angeführten mexikanischen Revolution, in deren Tradition noch heute die von Chiapas ausgehenden Bewegungen stehen.

 

Die Fabrikkomitees hatten eine lange Tradition, die bis zur Revolution 1905 und darüber hinaus zurückreichte. Gewählt von der gesamten Arbeiter*innenschaft übernahmen sie die Kontrolle selbst oder organisierten ein unüberwindliches Gegengewicht gegen die Eigentümer bzw. das Management. Sie betrieben vor allem die Abschaffung des verhassten Stücklohns, mit Marx Signum der kapitalistischen Produktion und Vorreiter und Begleitstrategie des weltweiten tayloristisch/fordistischen Angriffs auf die Klassenautonomie. Die Auseinandersetzungen zwischen bolschewistischen, menschewistischen, sozialrevolutionären und anarchistischen Theorie- und Strategiepositionen spielten hier keine Rolle. Geprägt wurden sie in ihren egalitären Einstellungen vor allem von den Bauernarbeiter*innen, den neu aus dem Dorf eingezogenen Arbeitskräften, als dem radikalsten Element des revolutionären Prozesses in den Fabriken.

 

In der Armee beseitigten parallel dazu gewählte Komitees als „Organe der Selbstorganisation der Soldaten“ die verhassten Strukturen der zaristischen Autokratie. Die Diskussion an der Basis favorisierte vor allem Guerilla- und Milizvorstellungen und verlief analog zu der Bildung von Milizen und roten Garden in der Fabrik. Auch hier waren die Bolschewiki keine bestimmende Kraft. Alle drei Stränge waren Ausdruck revolutionärer Selbstorganisation von unten. Allerdings gelang es den Bolschewiki, sich in den Auseinandersetzungen mit der provisorischen Regierung durch radikale Forderungen und Parolen in den Vordergrund zu spielen und Mitglieder zu gewinnen.

 

Die sogenannte „Oktoberrevolution“ war dem gegenüber ein verhältnismäßig unauffälliger Vorgang der Besetzung von Institutionen staatlicher Macht, ganz im Gegensatz zu der Jubel- und Heldenberichterstattung aus dem Mythenteppich. Er fand weitgehend unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle statt. Das Nachtleben, auch das der besseren Kreise, verlief bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages weitgehend unbehelligt, selbst in unmittelbarer Umgebung der Stätten und Newabrücken, die die bolschewistischen Geschichtslegenden zu Orten eines dramatischen Kampfgeschehens machen. Relativ geräuschlos besetzten bolschewistische Arbeiter und Soldaten Bahnhöfe, Post, Telegrafenamt und weitere Knotenpunkte der Verwaltung. Auch die Übernahme des Winterpalais war wenig spektakulär. Der Leiter der provisorischen Regierung Kerenski fuhr weg, seine Soldaten verdrückten sich und seine Minister verharrten in unfroher Unsicherheit. „Kalifen für eine Stunde“ spottete die Presse. Aber der Spott sollte ihr in der Kehle stecken bleiben. Das Oktobermanöver war nur der Auftakt zu einer Offensive bolschewistischer Machtformierung. Ihr Erfolg beruhte darauf, dass sie die Gewaltressourcen und Zwänge des Bürgerkriegs mobilisieren konnte. Denn der Bürgerkrieg war das Medium, in dem die Bolschewiki ein unerschöpfliches Reservoir von -Gewaltmitteln zur Gestaltung neuer Machtverhältnisse entfesselten, unter Überschreitung von moralischen Barrieren und in mörderische/ Dimensionen hinein, die auch unter dem Zaren nicht durchbrochen bzw. erschlossen waren. In allen sozialen Bereichen der Revolution von unten fingen die Bolschewiki (nur über kurze Zeit im Verein mit den linken Sozialrevolutionären) zunächst die revolutionären Impulse durch rechtliche Zugeständnisse hinhaltend ab, um dann im Verlauf der Frühjahrsmonate des Jahres 1918 zu terroristischen Formen der Gegenrevolution von oben überzugehen.

 

Gegenrevolution

 

Lenin, der sich durch seine strategische Begabung und Redekunst immer mehr zum informellen Führer der Machtebene profiliert hatte und seit dem Attentat auf ihn im Sommer 1918 zur regelrechten Ikone hochstilisiert wurde, wurde mit anderen Kadern des Parteiapparats von Vorstellungen einer kriegsökonomischen Transformationspolitik geleitet. Sie griffen die Impulse aus der deutschen Kriegsökonomie auf -das waren zugleich die Impulse aus der russischen Kriegsökonomie, die ja ihrerseits seit 1914/15 deren Strategien aufgenommen hatte- und übersetzten sie in einen gewaltigen Prozess der Erneuerung Russlands mit Aspirationen globaler Ausstrahlung. Spätere Führungspersonen des Apparats, wie der als ZK-Mitglied hochrangige Altbolschewik Krassin (vor dem Krieg leitender Ingenieur bei Siemens, im Krieg auf höchster Bank.Ebene Mitglied der zaristischen Kriegsökonomie, jetzt bolschewistischer Außenminister), Groman (zaristische Ernährungsdiktatur, blieb in der bolschewistischen Requisitionspolitik), Kriszanowski hatten herausragende Positionen in der zaristischen Kriegsökonomie gehabt. „Lerne beim Deutschen“ war Lenins ständige propagandistische Mahnung. Was beim Deutschen lernen? Dies hier: die in der deutschen Kriegsökonomie exemplarisch verfolgte Verbindung einer Offensive tayloristisch/fordistischer –also kapitalistischer- Rationalisierung mit der Effektivierung und Vergesellschaftung des militärisch/ökonomisch/politischen Kommandos. Taylorismus hieß in Taylors eigenen Worten „Krieg“ („war“) gegen den proletarischen Eigenwillen im Produktionsprozess und den Lebensformen. Lenins Ziel: „alle beteiligten Werktätigen zu einem einzigen wirtschaftlichen Organ zusammen zu fassen, das mit der Genauigkeit eines Uhrwerks arbeitet“, unter dem Kommando des „einheitlichen Willens der Leiter des Arbeitsprozesses“ und bei der Übernahme der deutschen Methoden „keine diktatorischen Mühen zu scheuen“. Wie sehr dies mit terroristischen Methoden des sozialen Zugriffs verbunden werden sollte und wie sehr das zunächst zurückhaltende Eingehen auf den revolutionären Prozess nur taktischer Natur war, ergibt sich schon daraus, dass bereits im Dezember 1917 die „Tscheka“ gegründet und als Terrorinstrument in die Durchsetzung des Transformationsprojekts eingebunden wurde.

 

Das gilt auch für den Rückstau der Revolution der Bäuer*innen. In der Gesetzgebung der ersten Monate des Jahres 1918 wurden viele Ergebnisse der Revolution durch Rechtsform anerkannt, legalisiert, verrechtlicht. Auch das war schon der Versuch der staatlichen Usurpation und Enteignung des revolutionären Prozesses. Aber die Bäuer*innen, über 80 % des revolutionären „Potentials“, wurden nicht etwa -ihrem sozialen Gewicht entsprechend- vorrangig oder auch nur gleichberechtigt in die Umwandlung Russlands eingeladen. Ganz im Gegenteil. Schon in den ersten Januarwochen wurde ohne Not der Raubkrieg gegen die Dörfer mit der Bildung von bewaffneten „Requisitionseinheiten“ zur Aufbringung des Getreides eingeleitet. Der nächste Schritt war die Bildung einer „Nahrungsmitteldiktatur“ im „Narkomprod“ im Mai 1918, die eigentliche offizielle „Kriegserklärung“ gegen die Bäuer*innen. Obwohl diese in der Revolution selbst schon die Kulakenwirtschaften beseitigt hatten, wurde diese Politik von Lenin zur Legitimation des Raubs durchtränkt mit eliminatorischer Propaganda gegen diese „Spinnen, Blutegel, Blutsauger.“ „…Lasst uns diese blutsaugenden Kulaken ersticken und erwürgen“. Nun gab es jedoch keine mehr. Also zielte das auf die Bäuer*innen selbst. Darin lag eine Dehumanisierung, die Stalins Politik des Jahres 1931 vorwegnehmen sollte, die von der neuen Genozidforschung als „Völkermord“ eingeschätzt wird. Aber das nutzte nichts. Auch nicht der Versuch, die „armen Bauern“ in einem „Kreuzzug“ gegen das revolutionäre Dorf in Stellung zu bringen – die in Jahrhunderten gewachsene Solidarität war nicht so leicht zu zertrümmern. Versucht wurde es dann im „Bürgerkrieg“. Der Widerstand gegen die auf Zigtausende angewachsene Requisitionsarmee wurde mit „rotem Terror“ bekämpft: Erschießungen, Liquidierungen ganzer Dörfer, Geiselnahmen, Deportation in neuerrichteten Konzentrationslagern waren die Methoden. Und die auch Folterpraktiken der Tscheka, die nichts ausließen: Handschuhmethode (Hände in kochendes Wasser und dann die Haut abziehen), Übergießen mit Wasser und Vereisung in der Winterkälte, oder das Zwängen in ein Fass mit Ratten unten drin, die sich auf dem Feuer durch den Körper durchfraßen. Das alles mit Billigung Lenins und des ZK, die wöchentlich von Tschekaführer Latsis informiert wurden. Die Bäuer*innen hatten im Bürgerkrieg eine schwierige Position. Sie standen gegen die „weißen“ Armeen auf der Seite der Bolschewiki und rückten sogar in die Rote Armee ein, wenn die „Weißen“ auf der Siegerstraße waren. Bei bolschewistischem Übergewicht stellten sie das ein und wehrten sich gegen den Getreideraub. Als die „Weißen“ 1921 besiegt waren, zeigten die Bolschewiki, worum es ihnen ging. Statt den Krieg einzustellen, ging es gegen die Bäuer*innen erst richtig los. Eine Phase gnadenloser Offensiven im Krieg nach innen gegen die Dörfer begann mit hunderttausenden Toten und Tschekaopfern. Die Konzentrationslager schwollen an und der Hunger in den Dörfern aufgrund der Requisitionsüberfälle forderte Todesopfer in steigendem Ausmaß. Die Kriegführung gegen die dagegen gerichtete Aufstandsbewegung eskalierte im Sommer 1921, als der gewendete zaristische Offizier Tuchatschewski mit dem nunmehr freigesetzten Potential an Maschinengewehren, schweren Waffen und Flugzeugen eine Gewalt eskalierte, der die Bauernverbände letztlich wenig entgegenzusetzen hatten. Tuchatschewski ging schließlich sogar zum Einsatz von Giftgas über, um die Bauern aus den Wäldern ins Offene zu treiben, praktisch ins Maschinengewehrfeuer hinein. Dennoch kämpften diese verzweifelt und die Auseinandersetzungen endeten nach einer Hungersnot mit entsetzlichen Erscheinungen, die diejenigen des Hungermords im Jahre 1932 vorwegnahmen, kurz vor einer Niederlage der Roten Armee im Patt, das dann von der „neuen ökonomischen Politik“ (NEP) abgefangen wurde.

 

Auch der Krieg mit der Arbeiterklasse eskalierte bald. Schon Anfang 1918 setzte das Regime den revolutionären Arbeiter*innen die Rückkehr zu strikten Hierarchien unter dem Management des einzelnen Betriebsleiters entgegen. Die Rückkehr zum kapitalistischen Stücklohn wurde angeordnet und im Kampf gegen egalitäre Neigungen der Arbeiter*innen um eine Lohnhierarchie auf 17 Lohnstufen und eine entsprechende hungerpolitische Differenzierung der Nahrungsmittelrationen ergänzt. Die Streikbewegungen wurden mit einem breiten Spektrum kapitalistischer Maßnahmen bekämpft: Betriebsschließungen, Ausschluss von der Nahrungsmittelversorgung, Kündigungen bis hin zum Gewalteinsatz der Tscheka. Eine Protestdemonstration in Nishnij-Nowgorod wurde sogar mit dem Einsatz von Maschinengewehren bekämpft. Besonderen Widerwillen der Arbeiter*innen erregte der Habitus der neuen Eliten mit ihren sorglos zur Schau getragenen Konsum- und Statusprivilegien. Die Wut darüber fand regelmäßig Eingang in die Parolen der Streikenden und in die direkten Auseinandersetzungen mit den im Auto nebst Chauffeur angereisten Kader. „Pelzmantel runter!“ riefen die frierenden und hungernden Malocher angesichts derartiger Zumutungen. Die Kommissare fanden nichts dabei. Sie hatten sich die schärfsten Villen in und um Moskau gesichert -Lenin machte da keine Ausnahme- und wurden in den besten Restaurants bedient. Trotz Übergang zur Militarisierung der Produktion nahmen die Arbeiter*innenkämpfe schon in den letzten Monaten des Jahres 1920 und dann massiv im Frühjahr 1921 zu, vor allem in Moskau und St. Petersburg. Der Aufstand der Seeleute, Soldaten und Arbeiter*innen in Kronstadt war nur ein abschließender Höhepunkt, allerdings einer mit großer Symbolkraft. Er wurde durch das Massaker unter Trotzki liquidiert –wegen der Sympathisanten der Aufständischen in der Roten Armee mit regierungstreuen Spezialkräften. Das Ergebnis für das Verhältnis zwischen der Klasse und ihren selbsternannten Diktatoren: der Graben zwischen dem gros der Arbeiter*innen und ihren neuen Herren war unüberwindlich geworden. Die Partei war nur noch dem Namen nach „proletarisch“, urteilt Sheila Fitzpatrick, eine neutrale und distanzierte Forscherin von großem internationalem Renommee. Eine Partei ohne soziale Unterstützung, die „Avantgarde einer nicht existierenden Klasse“.

 

Das „roll-back“ gegen die revolutionären Soldaten war nicht weniger markant und sei hier kurz umrissen: die demokratischen Errungenschaften und die Orientierung an Guerillavorstellungen wurden schon im März zurückgenommen, synchronisiert mit den anderen oben skizzierten bolschewistischen Offensiven. Sofort wurde eingeleitet, was Trotzki in einem Prawda-Interview die „Neugründung“ der alten Streitkräfte nannte. In der Tat: die Aufnahme der zaristischen Offiziere in die rote Armee wurde gegen den erbitterten Widerstand der revolutionären Soldaten unter der Deckvokabel „Militärspezialisten“ durchgesetzt. Ihre Zahl schwoll stetig aber dramatisch während des Bürgerkriegs auf etwa 75 000 an. Und das hieß: 82% aller Kommandeure, 83% des Generalstabs, 90% der Divisionskommaneure waren schließlich alte Zaristen. Ihre Militärhandbücher wurden übernommen, vor allem zu Fragen der Disziplinierung. Die russische Renationalisierung brachte sich so im Vorgriff auf Stalins 1932 eingeleitete offene Renationalisierung zum Tragen. Klammheimlich erst mal, aber sehr zur Befriedigung der höchsten zaristischen Generalität. Wenn Tuchatschewski zum Gaseinsatz griff, dann war dies der Hintergrund. Auch den Gaskrieg hatten sie von den Deutschen gelernt. Die beabsichtigte Parallelität in der Reorganisation von Betrieb und Armee war nur der Ausdruck der Herstellung eines militärisch-industriellen Komplexes, wie er auch in anderen kapitalistischen Ländern zu beobachten war und seinem Höhepunkt in der Synchronisierung von Produktion und Militär unter dem zweiten Fünf-Jahresplan zustrebte.

 

Die Kämpfe mit den Bäuer*innen und der Arbeiter*innen dauerten in den nächsten Jahrzehnten fort. Ich kann sie hier nicht behandeln. Sie waren allerdings der Hauptgrund, warum es im sowjetischen Russland nie zu einem planstaatlichen Kommando über Produktion und Gesellschaft kommen konnte. Noch im Jahre 1931 musste der Architekt stalinistischer Industrialisierungspolitik Ordschonikidse eingestehen, dass weder Vesenka (Planungsbehörde) noch Rabkrin (Arbeiter- und Bauerninspektion) eine Ahnung davon hatten, was im Produktionsprozess, auf dem „shop-floor“ überhaupt passierte. Jede Totalitarismusvorstellung bzw. –ideologie muss vor allem daran scheitern. Die SU war nie ein Planstaat. Planen konnte die Führung nur die „innere“ Kriegführung gegen die Bäuer*innen und die Arbeiter*innenklasse. Aber das galt ja auch für die anderen kapitalistischen Länder. Was denn anderes waren die sowjetischen Strategien als kapitalistisch? Sie trieben die tayloristische Rationalisierung voran, betrieben Mehrwertabpressung unter Einsatz von Stücklohn und mit radikalem Lohngefälle, Geldwirtschaft etc. Wegen der großen sozialen Widerstände war allerdings die Formierung staatlicher Gewalt besonders stark ausgeprägt, eine extreme Erscheinung im Konzert der kapitalistischen Mächte. Nach allem stellte der durch den „Roten Oktober“ eingeleitete Prozess nur einen Strang im Gesamtspektrum der globalen fordistisch/tayloristischen Offensive auf dem kapitalistischen Weg in eine Gesellschaft von Massenproduktion und –konsum dar.

 

Was das bedeutet, darüber möchte ich heute mit Euch diskutieren. Ich begreife diese Skizze und unseren Workshop hier in Erfurt als Auftakt zu einem „work in progress“ den wir, d.h. die „Materialien für einen neuen Antiimperialismus“, ab Beginn des nächsten Jahres auf unserer neuen Homepage voranbringen wollen, ebenso wie mit der Publikation einer umfassenden Arbeit im nächsten Frühjahr, der sie entnommen ist.1

 

Detlef Hartmann

 


Das Seminar am 26.11.2016 begann mit einer Darstellung von Stephan Stracke über seine soeben in der Ukraine gemachten Erfahrungen, namentlich mit der Erinnerungskultur zum „Holodomor“ des Jahres 1932 bis 1934 in der Ukraine. Daran anschließend wurde der Vortrag über „Revolution und Gegenrevolution“ quasi als Rahmen dieser Darstellungen gehalten, der in den obigen schriftlichen Ausführungen zusammengefasst und anschließend in den Räumen der Veranstalter*innen ausgelegt wurde.

 

Die Diskussion war breit und bemerkenswert vorurteilslos. Zunächst wurden die Erfahrungen in der Ukraine beleuchtet, mit einem Akzent auf die Frage, ob denn ein raumorientiertes Geschehen so einfach dargestellt werden könne und nicht eines historisch-materialistischen Verständnisrahmens bedürfte. Zur Raumorientierung wurden die Arbeiten von Snyder berührt, insbesondere „Bloodlands“. Im Aufgriff der historisch-materialistischen Rahmenbedingungen der zunächst leninistischen, dann unter Stalin weitergeführten Gegenrevolution nahm die Erörterung des technologischen Angriffs der fordistisch/tayloristischen Innovationsoffensive breiten Raum ein. Dies galt vor allem für die Frage, wie ein solcher Angriff zu derart mörderischen Folgen führen könne, wie unter Lenin und Stalin. Eine besondere Erörterung galt auch der Frage, wie die Bolschewiki vom roten Oktober an einen derart rapiden Transformationsprozess durchlaufen könnten, wie ihn sogar der relativ Bolschewiki-treue Rabinowitch in seinen beiden Büchern beschrieben hat. Sebastian, Mitorganisator und Leiter der Veranstaltung, stellte dann die wohl wichtigste Frage nach dem Fortbestand der „moralischen Ökonomie“. Hier im Norden sei davon nichts zu spüren. Was für Formen der Subjektivität, welche Haltungen etc. böten denn nun Quellen für widerständische Praktiken. Oder könne nun eine linksradikale bzw. linke Praxis im globalen Norden, die über das Gegebene hinaus wolle, nur auf die eigene Überzeugungskraft verlassen, ohne an Vorhandenes anknüpfen zu können. Für den Norden, d.h. die metropolitanen kapitalistischen Zentren habe ich das weitgehend –bis auf Teile des migrantischen Spektrums- bestätigt. Aus den Peripherien –und das sind über drei Milliarden Menschen- brächten sich jedoch nach wie vor Kräfte der moralischen Ökonomie vor allem in ihren Gerechtigkeitsvorstellungen zur Geltung. Sie manifestierten sich in einer großen Vielfalt der Schattierungen in den Prozessen vor allem der afrikanischen und asiatischen Binnenmigration und würden über die transnationale Migrationsbewegungen in die Lager, ja sogar die Metropolen getragen.


1 D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Band 2/ Innovative Barbarei gegen soziale Revolution/ Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert. (im Erscheinen) Vgl. vorläufig auch einen alten, grundsätzlich noch zutreffenden, vor allem durch die Öffnung der russischen Archive jedoch teilweise überholten Aufriss: Soziale Revolution und das Kommando der Akkumulation. Zur Aktualität der russischen Revolution, das Ende des sowjetischen Entwicklungsmodells, Materialien Band 4, Berlin, Göttingen 1992, S. 9, herunterzuladen auch unter materialien.org

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Guter Text aber ein Kritikpunkt habe ich.

So wie ich das verstanden habe, hälst du eine Zentrale Planwirtschaft für möglich und effizient.

 

Was aber wenn Umwelteinflüsse die man nicht berechnen kann das Planwirtschaftliche System untergraben?

Dann gäbe es eine Versorgungslücke.

 

Man kann nicht hundertprozentig planen weil die Natur chaotisch ist.

!

ich bin gegen eine zentrale planwirtschaft und für eine basisdemokratische und bedarfsorientierte planwirtschaft!

 

allerdings ist ebenso die marktwirtschaft eine planwirtschaft, allerdings komplett dezentralisiert (zumindest in großen teilen), aber auch dort wird geplant, nich wahr ;-)

 

für die mitbestimmung aller die dies möchten, für die deckung des bedarfs!

für diesen beitrag. dieses jahr werden höchstwahrscheinlich alle machtversessenen linken aus ihren löchern kriechen um die bolschewistische konterrevolution zu feiern. dabei negieren sie natürlich den breiten charakter der revolutionären bewegung in russland, die antiautoritären elemente und die selbstorganisation der ausgebeuteten, die lebendige bewegung zur erschaffung einens neuen lebens. es wird ihnen darum gehen erneut die herrschaftsgeschichte zu reproduzieren und ihr perfides und mörderisches system des staatskapitalismus zu legitimieren. dem gilt es entschieden entgegenzutreten. leider gibt es im deutschsprachigen raum noch immer viel zu viel toleranz von antiautoritären gegenüber den machtversessenen bolschewisten. hier gilt es anzusetzten und den graben zu vertiefen. sie sind es, die unzählige male die ausgebeuteten und ehrlichen revolutionäre hintergangen, benutzt und ermordet haben(leider auch weil viele aus der anarchistischen bewegung von ihnen an der nase herumführen ließen und ihrer propaganda auf den leim gingen). das russische beispiel ist nur eines von vielen, man könnte auch an spanien denken.. es gilt dies im gedächtnis zu behalten und ihre methoden zu analysieren, in der geschichte wie in der gegenwart und dort wo sich ihr herrschaftsanspruch offenbart die konfrontation mit ihnen zu suchen, anstatt dem "wir wollen doch alle eine klassenlose gesellschaft-blabla" auf den leim zu gehen. dies kann vor allem surch eine auseinandersetzung mit den revolutionären bewegungen, die durch das rote jakobinertum kooptiert und niedergeschlagen wurden geschehen, daher ist es von relevanz sich mit den kritiken der anarchistischen bewegung am bolschewismus auseinanderzusetzen, eine kritik die sich in der geschichte unzählige male bewahrheitet hat. es wird zeit endlich eine klare grenze zu ziehen zwischen jenen, denen es um die eroberung der macht und aufrechterhaltung der ausbeutung des menschen durch den menschen geht und jenen, die für die totale auslöschung von staat und kapital kämpfen.

in gedenken an alle durch das konterrevolutionäre pack gedemütigten, gefolterten und ermordeten revolutionäre!

"die totale auslöschung von staat und kapital kämpfen" - klar, mit der totalen Auslöschung haben es solche Freaks wie du immer. Die Massenmorde der Anarchisten in Spanien an unschuldigen Frauen und Kindern, Nonnen, Kommunisten  und Anderen, haben wie Typen wie auch unter "totale Auslöschung" verbucht und der Verrat Hand in Hand mit spanischen und deutschen Faschisten an der spanischen Revolution gebührt diesen.

wer hat hier wen massakriert in spanien? deine unschuldigen kommunisten haben alle, derer sie habhaft werden konnten und die nicht auf stalins linie lagen im knast gefoltert und umgebracht. die spanische revolution wurde einzig und allein von stalin und den orthodoxen kommunisten verraten, weil stalin zum ersten in europa keinen staat gebrauchen konnte, der freiheitlicher als die russische diktatur aufgestellt war und er zum zweiten schon mit adolf am klüngeln war, wie man sich polen aufteilen wird. bevor er spanien dann endgültig den faschisten überlassen hat hat er sich auch noch schnell mit den spanischen goldreserven ausm staub gemacht.

für dieses arschloch sind auch nicht gerade wenige internationalisten in den tod gegangen- siehe interbrigadistas- wenn er sie nicht schon selbst durch den vorläufer des kgb in proto-gulags in spanien hingeschlachtet wurden.

 

tod solchen ärschen wie dir!

es ist echt erbärmlich, dass man Euch im Jahre 2017, immer noch auf die Massaker der Anarchisten in Spanien hinweisen muss, und menschenverachtende, richtig unwissende Gestalten wie Du hier darüber erstaunt sind, dabei ist das Thema uralt und längst bekannt:

 

http://www.graswurzel.net/316/spanien.shtml

 

Ja, die Spanischen Anarchisten haben bei ihrer sozialen Neugestaltung Massaker an Unschuldigen begangen, die auch dazu führten, die Kirche noch weiter in die Arme Francos zu treiben. Das ist ein historischer Fakt

 

Der Historiker Paul Preston hat zum Spanischem Holocaust alles richtige geschrieben, nur bei Typen wie dir scheint nichts angekommen zu sein.

Ich find die Bezeichnung "spanischer Holocaust" nicht angebracht, auch wenn das Prestons Buchtitel ist. Er scheint auch der einzige zu sein, der diesen Begriff benutzt und bei allem historisch sicherlich richtigen und wichtigen was er schreibt, wirkt es doch so, dass er den Begriff für einen dramatischen Effekt nutzt und die Sprachliche Gleichsetzung hier keine inhaltliche Grundlage hat.

solltest du dich mal mit dem Putsch von Segismundo Casado López vom 04. März 1939 gegen die gewählte Regierung Negrin unter dem Befehl der anarchistischen Truppen der 14. Division um Cipriano Mera beschäftigen, der Massaker an den Kommunisten in Madrid und deren feines austaxieren mit Franco über die Kapitulation der Spanischen Revolution. 

 

Nur mal so, wenn ein wenig Zeit für Weiterbildung sein sollte, jenseits der eigenen Mythen.

!

man sollte nicht vergessen das es auch revolutionäre marxisten zu dieser zeit in spanien gab, welche nicht mit stalin für die bürgerliche demokratie gekämpft haben, sondern für die soziale revolution ... bei kommunisten muss man immer genau hinschauen, wa, es gibt dort linke, räte usw. (aber eben auch die dogmatischen autoritären bäääääääääääs)

war die von dir so hochgelobte Selbstorganisation, nicht im Kern ökonomisch nicht selbst die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, gerade jenen Umstand den du so scharf kritisieren gedenkst? 

 

Ist nicht genau die Schaffung genau solcher selbstbestimmter Strukturen immer Staat und damit immer Herrschaft über jene, die gedenken, gleichberechtige, kommunistische Strukturen der Produktion, Zirkulation, Konsumtion zu zerschlagen?

 

Um es mit Marx zu schreiben: Nicht die Schaffung des Mehrwertes, die Mehrarbeit an sich, ist das ungerechte im Kaptialismus, sondern nur die Aneignung, der Diebstahl durch den Kapitalisten, die ungerechte Verteilung dieses Mehrwertes. Es geht also im Kern also gerade darum, Strukturen, einen Staat samt Produktion zu erschaffen, der genau diese Aneignung unmöglich und die diese Verteilung der Mehrarbeit möglich macht.

 

Auf welchem bürgerlich nihilistischen Standpunkt mit Menschenverachtungsbonus du stehst, haste ja wenigstens, völlig kenntnislos über die eigenen anarchistische Bewegung und deren Verbrechen, ja hinreichend bewiesen. Die edelen Anarchisten gab es nämlich nie, weder in Spanien, noch in Rußland, noch in den Abbildern jener heute mystifizieren Bauernbewegungen im Allgemeinen und der Ukraine im Besonderen, mit all ihren Abgründen im Heute.

das einzige verbrechen von anarchistischer seite, das ich kenne, ist das ungenaue zielen fanny kaplans beim attentat auf den drecksack lenin, so daß dieser autokrat leider überlebt hat.

In Deinem Fall Bürgersöhnchentum !

Lenin kam auch aus einer bürgerlichen Familie du kleiner Leninist.

!

ich will mich ja nich einmischen, aber lenins bruder war anarchist und lenin seine anfänglichen töne klangen ebenso, naja dann kam die macht...

 

P.S.: Über Lenin kann (muss) man diskutieren (auch als anarchist), doch dann war schluß, nie wieder stalinismus!

Der hierarchische Sozialismus hat nicht funktioniert weil er die Klassengesellschaft nicht abschaffte sondern

eine neue Klasse der Bürokratie erschuf. Sobald ein Staat da ist, auch nach der sozialistischen Revolution fängt der ganze Quark von vorne an.

 

Wie bei "Animal Farm."