Am 16. April findet das Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei statt. Dabei geht es um die Machtsicherung Erdogans. Inoffiziell wird das Präsidialsystem bereits durch den Ausnahmezustand ausgeübt, der nach dem Putschversuch im letzten Juli verhängt wurde. Mit dem Ausnahmezustand werden Erdogans GegnerInnen mit Repressalien überzogen, um den Erfolg des Referendums zu sichern und somit das Präsidialsytem nachträglich zu legitimieren.
Alle Macht bei einem Mann...
Das angestrebte System hebt die Gewaltenteilung auf und zentralisiert alle Macht in den Händen Erdogans. Als Präsident wäre er jederzeit in der Lage, das Parlament aufzulösen, Gesetze zu erlassen und Oberste Richter sowie Minister einzusetzen und abzusetzen. Zudem wäre es möglich, Präsident und Parteichef in einer Person zu sein. Schlüsselpositionen sollen weiterhin auf allen Ebenen und in allen Bereichen von Erdogan loyalen Vertretern besetzt werden. Somit wäre jede Kontrolle seiner Entscheidungen und jede Instanz, die seine Politik kritisieren könnte, aufgehoben.
Es ist eine Verschärfung der bereits vorhandenen undemokratischen Staatsstruktur. Schon in der jetzigen Verfassung ist verankert, dass über den gewählten OberbürgermeisterInnen Gouverneure stehen, die zum Teil über dem Gesetz stehen. Sie können beispielsweise über Demonstrationsfreiheiten oder über kurzzeitige Militäreinsätze entscheiden. Die Verfassungsänderung führt den bisherigen nationalistischen Charakter des Staats weiter. Dieser wurde schon bei Gründung der Türkei in der Verfassung verankert. Sie beruht auf dem Prinzip „eine Nation, ein Sprache, ein Volk, eine Fahne“. Das schließt alle Minderheiten, wie etwa die ca. 20 Millionen KurdInnen, aus.
...auf einem wackligen Thron
Das Referendum zum Päsidialsystem soll die Macht Erdogans und der Partei AKP sichern. Nicht nur durch den Putschversuch wurde an ihrer Macht gerüttelt. Bereits die Parlamentswahlen im Juli 2015 waren ein herber Schlag für die Alleinregierung der AKP. Die HDP (Demokratische Partei der Völker) schaffte es mit ihrem Einzug in das Parlament eine Alleinregierung der AKP zu verhindern. Daher wurden Neuwahlen durchgeführt. Im Schatten der Neuwahlen starben durch Bombenanschläge mehrere hundert linke Erdogan GegnerInnen und tausende KritikerInnen Erdogans waren einer pogromähnlichen Stimmung ausgesetzt.
Ein weiteres Beben
unter Erdogans Thron war der Widerstand der Bevölkerung in den
kurdischen Städten. Während der Ausgangssperren leistete die
kurdische Bevölkerung mit ihren zivilen Selbstverteidigungseinheiten
über mehrere Monate hinweg Widerstand gegen die Belagerung des
türkischen Militärs. Damit schützten sie die zuvor aufgebauten
demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen, die im Widerspruch zum
undemokratischen türkischen Staat stehen.
Auch die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei ist am stagnieren. Der Wert der türkischen Währung, der Lira, ist stark gesunken. Im Vergleich zum Dollar hat sich ihr Wert halbiert. Der hoch besteuerte Ölpreis macht der Wirtschaft zu schaffen. Eine riesige Immobilienblase wächst heran. Die Lage ist so düster, dass der stellvertretende türkische Minister Simsek Mitte Februar zu Bundesfinanzminister Schäuble nach Berlin angereist ist, um bei Deutschland wirtschaftliche Unterstützung der Türkei zu erbeten.
Die rechten Handlanger auf der Straße
Um den Staatsapparat und die Staatsideologie aufrecht erhalten zu können, bildete die AKP eine Nationale Einheit – im Parlament mit der MHP und auf weiteren Ebenen mit anderen Reaktionären. Schon während dem Putschversuch wurden über die Moscheen die Erdogananhänger auf die Straßen mobilisiert. Für diese war das die erste Erfahrung in Massen auf der Straße zu agieren. Später griffen sie HDP-Büros sowie linke AktivistInnen an. Auch AktivistInnen die propagieren, beim Referendum „NEIN zu stimmen“ wurden angegriffen und auch getötet. Dieser faschistische Mob greift jedwede linke Freiräume und Aktivitäten an, um die Position Erdogans auf den Straßen zu stärken.
Die Handlanger des „Rechtsstaats“
Nicht nur der faschistische Mob bekämpft die Erdogan-GegnerInnen. Indem Nein-WählerInnen zu Terroristen erklärt werden, wird die verschärfte Repression legitimiert und die potentiellen Nein-WählerInnen werden diffamiert.
Betroffen sind von der Repression alle, die Kritik an Erdogan oder dem Präsidialsystem äußern. Doch besonders trifft es die demokratisch-fortschrittliche, sowie die revolutionäre Linke.
Die Festnahme der HDP-Abgeordneten, Figen Yüksekda, und der Entzug ihres Abgeordnetenstatus als Co-Vorsitzende der Partei, zeigen die gezielte Repression. Seit Terminierung des Referendums wurden hunderte RevolutionärInnen aus diversen Strukturen, Organisationen und Parteien verhaftet. Außerdem wurden unzählige linke Räumlichkeiten geschlossen. Mit der Repression will die AKP einerseits potentielle Nein-WählerInnen einschüchtern und anderseits jegliche revolutionäre Infrastruktur zerschlagen. Bei der Repression gegen RevolutionärInnen geht es nicht nur um das Referendum, sondern auch darum, die Gefahr zu bändigen, die sie für die AKP darstellen. Denn sie sind die einzigen, die eine mögliche Alternative zur Präsidialdiktatur aufzeigen können.
Auch in den kurdischen Städten wird Repression ausgeübt. Hier wird die gesamte Bevölkerung ins Visier genommen. In Nisêbîn wurde eine Ausgangssperre verhängt, wobei dutzende ZivilistInnen von türkischen Soldaten gefoltert und hingerichtet wurden. Jeglicher Kontakt nach außen ist abgeschnitten. Damit will der türkischen Staat die kurdische Bevölkerung vor den Wahlen einschüchtern und dem Aufbau einer Infrastruktur der kurdischen Befreiungsbewegung entgegen wirken.
Der Widerstand ist greifbar
Trotz der Angriffe des türkischen Staats lassen sich die linken und revolutionären Kräfte nicht einschüchtern. Es ist eine breite NEIN-Bewegung entstanden, die von GewerkschafterInnen, SozialdemokratInnen, LSBT AktivistInnen, RevolutionärInnen und weiteren linken AktivistInnen getragen wird.
Das Referendum führt zu einer Polarisierung zwischen denen, die für JA stimmen und denen, die für NEIN stimmen. Zwischen denen, die den Reaktionismus verteidigen, und denen, die diesen nicht länger erdulden wollen. Diese Polarisierung kann eine Möglichkeit für die revolutionären Kräfte darstellen. Denn ob bei den Wahlen JA oder NEIN gewählt wird, wird nicht die undemokratischen Bedingungen ändern. Das NEIN heißt nur, dass das eingerichtete Präsidialsystem keine Legitimität gewinnt. Um dieses zu beseitigen, muss die AKP Regierung gestürzt werden, denn die AKP hat schon bei den Wahlen 2015 bewiesen, dass sie nicht abwählbar ist.
Ein Sieg der NEIN WählerInnen – oder auch die Niederlage für Erdogan – muss zu einem Moment des Umsturzes gewandelt werden. Ansonsten können weder die KurdInnen befreit werden, noch kann eine Demokratisierung des Landes zu Stande kommen.
Die EU – Komplizenschaft mit der AKP
Von der EU und anderen selbsternannten Hütern der Demokratie ist ein Einschreiten weder zu erwarten, noch zu fordern. Für die europäischen Imperialisten steht im Vordergrund, dass die Türkei als geostrategischer Türsteher und NATO-Stützpunkt bestehen bleibt. Ihr einziges Interesse darüber hinaus ist es, Sicherheiten zu schaffen, um gewinnbringend Kapital in der Türkei anlegen zu können. Um das zu erreichen haben sie keine andere Wahl, als die Unterstützung Erdogans.
Der Merkelbesuch bei Erdogan, diesen Januar, soll die Partnerschaft mit der Türkei stützen. Die AKP nutzt diesen Besuch für ihre politischen Zwecke. Für die BRD geht es um weit mehr, als um den Flüchtlingsdeal: Sie will die Türkei als Partner im Nahen Osten haben, damit sie ihre Interessen durchsetzen und Märkte dahingehend erhalten und erweitern kann.
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Türkei werden von deutschen Investoren ausgenutzt, um Profite zu erzielen. Und um die Türkei, als zweitgrößte Armee der NATO, weiter aufzurüsten, werden Rüstungsinvestitionen gefördert. Seit geraumer Zeit gibt es in den Rüstungskonzernen gemeinsame Interessen. So teilen Rheinmetall und der türkische Rüstungskonzern BMC eine Lizenz für gepanzerte Fahrzeuge und wollen Gemeinschaftsunternehmen gründen, um zusammen zu produzieren.
So wird der Aufbau der Präsidialdiktatur auch vom „demokratischen Westen“ gezielt befördert, um die eigenen Interessen abzusichern. Während also die Kapitalisten auf beiden Seiten von der Zusammenarbeit profitieren, bedeutet diese für die Bevölkerung in der Türkei eine Zuspitzung der Ausbeutung und der Repression.
„Recht“ und „Freiheit“ in Deutschland
Bei ihrem Staatsbesuch betonte Merkel schon die Gemeinsamkeit, die sie mit der Türkei hat: die Bekämpfung derer, die aufgrund ihrer Opposition zu Erdogan als Terroristen bezeichnet werden. Entsprechend werden kurdische und türkische Linke auch in Deutschland kriminalisiert, mit Repressalien überzogen, ausspioniert und eingeknastet. Besonders gerne wird hier der §129b genutzt: Ein juristisches Werkzeug mit gewaltigen Möglichkeiten und ohne jegliche demokratische Kontrolle. Durch enorme Polizeipräsenz bei jeder Veranstaltung der kurdischen und türkischen Linken und durch Verstümmelung der Demonstrationsfreiheit, soll die Kritik an Erdogan in der Öffentlichkeit verhindert werden. Zuletzt wurde Anfang März ein Verbot von Fahnen der kurdischen Freiheitsbewegung erlassen. Darunter fallen neben kurdischen Organisationen auch die Fahne der YPG, den Volksverteidigungskräften in Rojava. Insgesamt werden hier also von allen Seiten genau die Kräfte kriminalisiert, die in der Türkei für eine Demokratie einstehen.
Solidarität kennt keine Grenzen
Wir solidarisieren uns mit den fortschrittlichen linken Kräften in der Türkei und mit den hier von Repression betroffenen AktivistInnen. Es ist unsere Aufgabe unsere Solidarität praktisch werden zu lassen und Deutschland als wichtigen Partner der Türkei zu entlarven.
Wir unterstützen die Kampagne „Sag NEIN“, um die Legitimität des Präsidialsystems zu untergraben. Auch nach dem Referendum werden wir unsere Solidarität mit den fortschrittlichen Kräften ausbauen – auf das die Revolution siegen wird.
Internationale Solidarität aufbauen!
Arbeitskreis Internationalismus Stuttgart
Semantische Tricks und Legitimation
Das Referendum in der Türkei ist eine sehr gute Möglichkeit des hiesigen Politikbetriebs sich als Gegenpart darzustellen, eine plurale, gerechte Parlamentsdemokratie. Die Bundestagswahlen im September können für die radikale Linke auch in Deutschland eine Chance sein, Selbstverwaltungsstrukturen einzufordern und auf die Agenda zu setzen.
informativ
zu lesen und auch gute einordnung der letzten entwicklungen
Guter Artikel!
Sehr informativ
Treffend
Endlich mal eine trefende Darstellung der Zusammenhaenge
top...
weiter so! rote grüße