17. Oktober 1961: Die Pariser Polizei tötet über 200 Menschen, die an einer Demonstration in Solidarität mit dem algerischen Unabhängigkeitskampf teilnehmen wollten. Davor und danach kommt es zu massenhaften Internierungen, Folter und weiteren Ermordungen. Die genaue Zahl der "Verschwundenen" bleibt unbekannt. Eine Aufarbeitung der Ereignisse wird im Anschluss durch staatliche Zensur und institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus blockiert. Das Ereignis konnte somit aus dem kollektiven Gedächtnis westeuropäischer Nachkriegsgeschichte heraus gehalten werden. Im Folgenden ein paar Stichpunkte zum blutigen antimuslimischen Rassismus und Kolonialismus im Paris der frühen 1960er Jahre.
Am 17. Oktober 1961 wurde in Paris eine Demo zur Unterstützung des algerischen Unabhängigkeitskampfes durch die französische Polizei angegriffen, dabei wurden über 200 Demonstrierende umgebracht. Bis zu 12.000 Algerier*innen und französischen Muslime kamen im Laufe der Versammlungen und stadtweiter Polizeirazzien unter anderem in einem eigens dafür eröffneten Internierungslager in einem Sportstadion in Haft. Dort wie auch in weiteren Polizeikommissariaten und alten Internierungslagern aus Zeiten des Vichy-Regimes wurden die Inhaftierten zum Teil zu Tode gefoltert. Die staatlich verhängte Zensur hielt das Ereignis aus den großen Medien heraus, Publikationen und Filme dazu wurden hergestellt, durften aber nicht veröffentlicht werden. Im Anschluss sprach die Polizei von 3 Toten. Diese Zahl war bis in die 1990er Jahre die offiziell anerkannte, bis eine staatliche Untersuchungskommission von 32 Toten sprach. Unabhängige Historiker*innen schätzen die Zahl auf mindestens 200 Tote am Tag der Demonstration selbst. Bereits in den Wochen vor der Demonstration wie auch danach gab es massenhaft weitere sogenannte Verschwundene. Manche wurden nach Algerien abgeschoben, andere als Leichen im Fluss Seine gefunden. Im Pariser Herbst 1961 starben mehrere Hundert Menschen durch polizeiliche Aktionen.
Die Gewalt gegen Algerier*innen am 17. Oktober 1961 folgte nicht zuletzt einem relativ unmissverständlichen Tötungsaufruf des Polizeichefs Maurice Papon. Als Reaktion auf Attentate des FLN (Nationale Befreiungsfront) gegen Bullen im französischen Kernland ende August 1961, sagte Papon auf einer Beerdigung: "Für einen Schlag, der uns zugefügt wird, werden wir zehn Schläge versetzen". In einem Brief anfang September befahl er: "Die Mitglieder der (algerischen) Kommandos sind an Ort und Stelle abzuschießen." Auch habe er auf dem Hauptkommissariat, laut Aussagen anwesender Polizisten, versprochen: "Sie müssen auch subversiv sein in diesem Krieg, der sie gegen andere aufbringt. Sie werden gedeckt werden, dafür gebe ich ihnen mein Wort." Diese auf eine ganze Gruppe zielende kollektive Gewalt hatte Papon bereits ab 1956 in Algerien selbst normalisiert, bevor er 1958 den Posten des Pariser Polizeipräfekten übernahm.
Die Ermordungen durch Polizisten begannen bereits ab September und kulminierten am 17. Oktober, als ca. 30.000 Leute einem durch den damals geltenden Ausnahmezustand begründeten Demo-Verbot trotzten. Die FLN hatte dazu aufgerufen, unbewaffnet zur Demo zu kommen und selbst Ttaschen der teilnehmenden nach messern etc. durchsucht. Die Morde fanden an unterschiedlichen Stellen der friedlichen Demo und auf unterschiedliche Weise statt; die Leute wurden erschossen, tot geprügelt, erhängt, gefesselt oder verletzt in den Fluss geworfen.
Die Demonstration selbst richtete sich gegen eine rassistische Ausgangssperre für alle - so die wortwahl Papons - "französische Muslime aus Algerien", "französische Muslime" und "algerische muslimische Arbeiter". Im racial profiling der Polizei damals bedeutete dies ein vorgehen gegen alle "arabisch/nordafrikanisch" aussehenden bzw. nicht-weißen Personen. Diese auf eine bestimmte Personengruppe bezogene Ausgangssperre war durch den zuvor verhängten Ausnahmezustand möglich. Er war durch ein neues Gesetz von 1955 geregelt, geschrieben explizit angesichts des algerischen Aufstands.
Das Polizei-Massaker in Paris war Ausdruck des rassistischen und kolonialistischen Krieges, den Frankreich gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung führte. Systematische Folter und Massenmord gehörten auf der algerischen seite Frankreichs zur Normalität. Eine halbe Millionen Algerier*innen wurde umgebracht gegenüber ca. 60.000 für die französische Regierung kämpfenden Soldaten. Teil der Brutalität waren Netzwerke von französischen Generälen, die eine algerische Unabhängigkeit um jeden Preis vermeiden wollten und unter anderem die Terrorgruppe OAS ("Organisation der geheimen Armee") gründeten, um gegen eine weichere französische Kolonialpolitik zu putschen. Übrigens war der gründer des Front National, Le Pen, persönlich an Folterungen in Algerien beteiligt.
Geöffnet wurde dieser Gewaltraum im Herbst '61 durch das Zusammenspiel mindestens dreier, die Ermordungen deckender Faktoren: das Schutzversprechen Papons (der selbst wiederum durch höhergestellte Minister gedeckt wurde), die gesteigerte Sorglosigkeit der Bullen durch die Sondergesetze des Ausnahmezustands und den anscheinend hegemonialen antimuslimischen Rassismus der Mehrheitsgesellschaft. Die Morde vom 17. Oktober 1961 wurden von der weiß-französischen Gesellschaft verdrängt und unter den Teppich gekehrt.
Seit den 1990er Jahren werden die Ereignisse von linker politischer Seite aus stärker benannt, Angehörige der Opfer werden zunehmend gehört, es gibt Zeitungsartikel und mittlerweile sogar eine sehr kleine Gedenktafel an einem der Orte des Massakers. Das Thema ist aber immernoch sehr tabuisiert, Konservative/Republikaner leugnen die Existenz dieses Massakers. Juristische Konsequenzen gab und gibt es nicht, da der Staat in den 1960er Jahren Amnestien über alle im Zusammenhang mit dem algerischen Unabhängigkeitskrieg stehenden Verbrechen aussprach. So gestand der Staat zwar seit 1998 40 Todesopfer am Demonstrationstag ein. Amnestien, Zensur, Aktenvernichtung und -verschluss sowie andauernder institutioneller Rassismus verhinderten aber effektiv eine Auseinandersetzung mit den Staatsverbrechen. Der während der Massaker verantwortliche Polizeipräfekt Papon wurde beispielsweise 1997 für seine Mitarbeit am Holocaust verurteilt. In diesem Gerichtsprozess wurde auch auf die Ereignisse am 17. Oktober 1961 hingewiesen, sie waren aber nicht der Streitpunkt. Das Gericht sah es hier einerseits als zulässig an, ihm eine tragende Mitverantwortung an den Polizeimorden zuzuschreiben. Andererseits durfte ein Prozess aufgrund der Amnestie schizophrenerweise nicht mehr geführt werden, obwohl Hauptverantwortliche und Täter wie Papon noch lebten.
In der Untersuchung der Ereignisse wird oft auf verschwundene Dokumente, Vertuschung des Staates und eine daher schwierige Rekonstruktion der genauen Zahlen verwiesen. Der Staat hält die meisten Akten nach wie vor verschlossen, zum Algerienkrieg an sich gibt es Dokumente, die erst im Jahr 2060 geöffnet werden dürfen. Eine Protestkundgebung am heutigen Jahrestag in Paris hat als zentrale Forderungen somit noch immer die Öffnung der Archive, eine unabhängige Untersuchungskommission und eine angemessene Anerkennung und Gedenken an das crime d'état (Staatsverbrechen).
Rassistische Polizeimorde sind auch heute noch in Frankreich keine Seltenheit, ebenso wie das Zusammengehen von Ausrufung des Ausnahmezustands und rassistischer Sicherheitspolitik bis hin zu enthemmter Repression. Der Ausnahmezustand erlaubt es Demos zu verbieten (zuletzt vor zwei Wochen in Calais gegen die drohende Räumung), Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss und zu jeder Zeit, Ausgangssperren und Hausarreste zu erteilen, öffentliche Orte des Zusammenkommens (Kino, Theater etc.) zu schließen und Presse und Medien staatlich zu kontrollieren. 2005 wurde der Ausnahmezustand in einigen Banlieus verhängt, um die Aufstände der jugendlichen Nachkommen arabischer Einwanderer*innen härter zu bekämpfen. Seit den Anschlägen in Paris vom 13. November 2015 gilt der mittlerweile als Normalität zu betrachtende Ausnahmezustand weiterhin für das gesamte Staatsgebiet und wurde vom Innenminister unter anderem dazu benutzt, leichter abzuschieben. Je nach Handlungswunsch der Regierung lassen sich also die durch das Sondergesetz legalisierten Staatsaktionen recht beliebig ausdehnen - praktisch zum Beispiel für die Räumung des nicht-staatlichen Teils des Refugee-Camps in Calais, die Präsident Hollande ursprünglich für den 17. Oktober angekündigt hatte.
Die Zitate stammen aus den ersten beiden Links, die weiteren Infos aus den zusätzlichen Angaben:
http://www.hagalil.com/2011/10/ratonnade/
https://en.wikipedia.org/wiki/Paris_massacre_of_1961
https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Paris_1961
https://www.wsws.org/de/articles/2001/03/alge-m28.html
hier gibt es ein hörbuch eines romans, der um das massaker in paris geht (soll wohl gut sein): https://www.youtube.com/watch?v=y33pDVUcSv0
aufruf zur kundgebung heute in paris: https://linksunten.indymedia.org/en/node/193743 (auf frz.)
Bei Erinnerung Mord
Diedier Daeninckx ist ein bekannter Autor des so genannten „Roman Noir“ oder auch „polar noir“ in Frankreich. Zu dieser speziellen und sehr linken Sparte des französischen Krimimetiers gehören u.a. Jean-Patrick Manchette , Daniel Pennac , Jean-Bernard Pouy, Dominique Manotti , und viele mehr.
2006 sagte Diedier Daeninckx: „Der Roman noir stellt ein ideales Terrain dar, um die soziale und politische Realität zu erhellen, die die französische Literatur, die sich in formalistischen Experimenten gefällt, häufig links liegenlässt. Es geht darum, die Wunden zu untersuchen und das Nichtgesagte aufzubrechen, die eine Nation zu einer kranken und krank machenden Verdrängung verdammen“
So hat Daeninckx die Ereignisse des Massenmordes an den DemonstrantInnen in Paris 1961 in dem Roman „Bei Erinnerung Mord“ verarbeitet. Sehr lesenswert. Ebenso wie sein Roman „Nazis in der Metro“ von 1996, der von der rot-schwarzen Liaision französischer Linker und Rechter der 80er, 90er Jahre handelt.
Für audio-affine Menschen hier „Bei Erinnerung Mord“ als Hörstück.
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Falls mehr Interesse am „polar noir“ existiert:
http://www.polar-noir.de
https://www.facebook.com/Polar.Noir.Hamburg