„Sollte seine Identität herauskommen, wird seine Familie getötet“

Erstveröffentlicht: 
12.10.2016
Nach Festnahme des gesuchten IS-Terroristen: „Held von Leipzig“ fürchtet um Sicherheit seiner Angehörigen
VON FRANK DöRING

 

Leipzig. Er fürchtet Racheakte derTerrororganisation Islamischer Staat (IS) und hat Angst um die Sicherheit seiner Familie: Mohamed A. (36), der in der Nacht zum Montag mit Freunden den mutmaßlichen IS-Bombenbastler Dschaber al-Bakr (22) überwältigte und an die Polizei übergab, lebt nach Informationen von Freunden und Landsleuten in großer Angst. „Seine Eltern und Geschwister befinden sich in Syrien in einer Region, die vom IS beherrscht wird“, sagte gestern Ammar A. (26), der mit Mohamed A. bekannt ist, gegenüber der LVZ. Es war extrem mutig von ihm, den Terroristen an die Polizei zu übergeben.“

 

Rückblick: Am Samstagabend beobachtet Ammar, der seit August in Deutschland ist und einen Integrationskurs besucht, wie sein Nachbar mit Freunden in das Haus in der Hartriegelstraße im Leipziger Stadtteil Paunsdorf geht. „Ich hatte meinen Schlüssel aus Versehen an der Tür stecken lassen, da kam er zu mir und gab ihn mir zurück“, so Ammar. In Begleitung des Nachbarn: ein unbekannter Landsmann. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Der Fremde ist ein bundesweit gesuchter Terrorist, der nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes mit einem Sprengstoffgürtel einen Berliner Flughafen attackieren wollte. Weil die Fahndungsfotos der Polizei auch auf syrischen Online-Netzwerken verbreitet werden, erfahren später auch Mohamed A. und seine beiden Freunde davon. In der Nacht zum Montag überwältigen sie den Landsmann, fesseln ihn mit Kabeln und liefern ihn der Polizei aus.

 

Ammar bekommt von diesen dramatischen Ereignissen in der Wohnung seines Nachbarn nichts mit. Eigentlich war er eingeladen, gemeinsam mit seinen Landsleuten am Abend zu essen, doch er bleibt wegen einer Erkältung lieber daheim. Erst als die Polizei mit Spezialkräften und Hubschrauber anrückt, schreckt er aus dem Schlaf. Die Jagd nach dem wahrscheinlichen IS-Attentäter ist dank des Mutes von drei Flüchtlingen vorbei.

 

Die Tat wird von der syrischen Community gefeiert. „Alle finden gut, was er und seine Freunde gemacht haben, er ist ein Held“, so Ammar. Auch in den einschlägigen Netzwerken, wo das Handyfoto des gefesselten Terroristen die Runde macht, ist die Meinung einhellig. „Wir bedanken uns bei der Polizei und bei unserem Landsmann“, heißt es nach der Festnahme in einem syrischen Portal. „Wir sind vor dem Krieg geflohen und wissen ganz genau, was es bedeutet, in einer unsicheren Lage zu leben.“

 

Aber es gibt auch andere Stimmen. Die LVZ traf gestern drei junge Syrer mit akkurat gestutzten Bärten und zwei großen Rollkoffern dabei. Sie seien Flücht-linge, berichteten sie, würden aus einer Einrichtung in Chemnitz kommen und jetzt in Paunsdorf wohnen. Nein, von der Festnahme des syrischen Terroristen hätten sie nichts mitbekommen. Dass aus-gerechnet Syrer ihren Landsmann der Polizei ausgeliefert haben, „das ist komisch“, meinten sie ablehnend und zogen weiter.

 

Große Anerkennung gab es hingegen aus der Politik. „Ich bedanke mich ausdrücklich bei denjenigen Syrern, die mit ihrem beherzten persönlichen Eingreifen entscheidend dazu beigetragen haben, den Terrorverdächtigen aus Chemnitz in Paunsdorf zu überwältigen und dingfest zu machen“, so Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD). „Dies ist ein immenser Erfolg gegen den Terrorismus und zeigt, dass unter den hier lebenden Ausländern und Asylsuchenden eine große Mehrheit mit dieser Form des radikalen Islamismus nichts zu tun haben will.“ Der Linken-Politiker André Hahn hat für die Syrer, die zur Festnahme des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr in Leipzig beigetragen haben, ein Aufenthaltsrecht in Deutschland gefordert. „Das wäre ein ganz wichtiges Signal an alle hilfebedürftigen und ehrlichen Flüchtlinge, die in ihrer absoluten Mehrheit weder mit dem selbst ernannten Islamischen Staat noch mit irgendwelchen Terroraktivitäten zu tun haben“ so Hahn gestern im Bayerischen Rundfunk. Sachsens SPD-Generalsekretärin Daniela Kolbe bezeichnete die drei Männer als „Helden“, die den Ermittlern mit ihrem „mutigen Einsatz“ entscheidend geholfen hätten. „Ich bin erleichtert, dass der Terrorverdächtige verhaftet wurde und niemand zu Schaden gekommen ist.“

 

Gebannt ist die Gefahr aber nicht, zumindest nicht für Mohamed und seine Familie. Neben seinen Eltern und Geschwistern leben auch noch Ehefrau und Kinder in der alten Heimat, weiß sein Nachbar. „Sollte seine Identität herauskommen, wird seine Familie in Syrien getötet.“ Auch für den Flüchtling selbst und seine Freunde schätzen die Behörden die Bedrohungslage als hoch ein. Sollte sich der Zusammenhang Dschaber al-Bakr mit dem IS bestätigen, meint etwa das sächsische Landeskriminalamt, würden die Männer in Lebensgefahr schweben. „Er hat große Angst und traut sich nicht mehr in seine Wohnung“, glaubt Ammar, der seinen Nachbarn seit der Festnahme des Terrorverdächtigen nicht gesehen hat. Mehrfach klopfte er gestern an die Tür des Landsmanns und sprach ihn auf arabisch an – keine Reaktion. „Wahrscheinlich“, so hofft Ammar, „hält er sich bei Freunden versteckt.“


 

Wie Dschaber al-Bakr zwei Mal entkam


42 Stunden dauerte die Jagd nach dem Terrorverdächtigen, bis er in Leipzig festgenommen wurde
VON LUCAS GROTHE

Leipzig. Es ist 0.42 Uhr in der Nacht zu Montag, als die 42-Stunden-Jagd nach dem Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr ihr Ende findet. Zwei Mal ist er seinen Verfolgern entkommen. Versuch einer Rekonstruktion der Ereignisse:

 

Im Chemnitzer Wohngebiet „Fritz Heckert“ entkommt Dschaber al-Bakr der Polizei am Samstag kurz nach 7 Uhr vermutlich das erste Mal. Die Behörden sind mit Spezialeinsatzkräften vor Ort und wollen in der Straße Usti Nad Labem zugreifen. Laut Jörg Michaelis, Präsident des Landeskriminalamtes, bereiten die Polizisten gerade den Einsatz vor, als ein Mann aus dem observierten Plattenbau kommt. Mehrere Beamte bemerken die Person und fordern sie auf, stehen zu bleiben. Doch der Mann flüchtet und stoppt auch nicht nach einem Warnschuss. Eine Verfolgung misslingt. Ob die entkommene Person wirklich al-Bakr war, ist immer noch unklar. Kurz darauf wird die Wohnung gestürmt, dort finden die Beamten eine Bombenwerkstatt: 1,5 Kilo des hoch gefährlichen Sprengstoffs Triacetontri-peroxid (TATP).

 

Nach dem Polizeieinsatz verliert sich al-Bakrs Spur. Bei der Durchsuchung des Viertels wird er nicht gefunden. Um 10.41 Uhr setzt die Polizei den ersten Tweet zum Einsatz ab, im ganzen Fritz-Heckert-Gebiet suchen da schon Bewaffnete nach dem 22-Jährigen. Rund vier Stunden später wird die Öffentlichkeitsfahndung inklusive Foto gestartet – doch zunächst nur in deutscher und englischer Sprache.

 

Wie al-Bakr Chemnitz schließlich verlassen kann, hat die Polizei bisher nicht bekannt gegeben. Erste Möglichkeit: mit dem Zug. Eine Stunde brauchen Regionalbahnen bis Leipzig, mit Umstieg in Zwickau sind es 2,5 Stunden. Kaum vorstellbar, dass die Polizei nicht sofort den Bahnhof in Chemnitz und die abfahrenden Züge kontrollierte. Zumal für Bahnhöfe und Flughäfen am Wochenende bereits eine erhöhte Terrorwarnstufe galt. Zudem wird der Chemnitzer Bahnhof am Nachmittag für mehrere Stunden gesperrt. Zweite Möglichkeit: ein Auto. Ob er selbst eins besessen hat oder nutzen konnte, ist bisher nicht bekannt. Ebenso wenig, ob ihn eine weitere Person gefahren haben könnte. Per Wagen hätte er den Beamten allerdings am leichtesten entwischen können. Dritte Möglichkeit: per Fernbus. Mehrere Male täglich verlässt einer Chemnitz in Richtung Leipzig. Doch auch dafür gilt: Kaum vorstellbar, dass die Polizei nicht kontrollierte.

 

Um 22.20 Uhr klingelt al-Bakr an einem Mehrfamilienhaus in der Bergstraße 72 in Eilenburg. Dort lebte er im Jahr 2015 für einige Monate als anerkannter Flüchtling mit Aufenthaltsstatus. Kurz zuvor hatten sich am Samstag Polizisten per Telefon bei einem der Hausbewohner gemeldet und empfohlen, nicht aufzumachen, wenn es klingelt. Überwacht wurde das Haus aber offenbar nicht. Al-Bakr klingelt bei einer Mieterin, die redet mit ihm über die Gegensprechanlage, macht aber nicht auf. „Sie müssen“, so erinnert sie sich, „mindestens zu zweit gewesen sein, wir haben es wispern gehört.“

 

Hatte al-Bakr zu dem Zeitpunkt also einen Helfer bei sich? Jemand, der ihn vielleicht mit dem Auto gefahren hat? Als wenig später die Polizei auftaucht, ist er vermutlich auf dem Weg nach Leipzig. In der Nacht zu Sonntag taucht al-Bakr dann am Leipziger Hauptbahnhof auf. Er meldet sich zuvor in einem Online-Netzwerk syrischer Flüchtlinge und sucht nach einem Schlafplatz. Am Bahnhof trifft er sich mit Landsmännern. Warum der22-Jährige nicht von Polizisten am Bahnhof erkannt wird, ist unklar.

 

Al-Bakr kommt schließlich bei Syrern in der Leipziger Hartriegelstraße unter. Erst am Sonntag um 21 Uhr veröffentlichen die Behörden schließlich einen Fahndungsaufruf in arabischer Sprache. Den lesen später auch die Syrer aus Leipzig-Paunsdorf, die al-Bakr beherbergen. Sie überwältigen den Mann und übergeben ihn später der Polizei.


 

Gravierendes Versagen der Polizei und mutiger Syrer

Der mutmaßliche Terrorist wurde gefasst. In Leipzig-Paunsdorf. Die Syrer – nachdem sie ihn erkannten – fesselten ihren Landsmann (!!!) und übergaben ihn der Polizei. So weit der offensichtliche, weil verlautbarte Tatbestand, und so gut. Danach stellt sich Sachsens Innenminister vor die Presse und lobt die Polizeikräfte über den grünen Klee. Im Prinzip richtig, aber schon von Unverhältnismäßigkeit geprägt. Statt nun die Chance zu ergreifen und hinsichtlich der entscheidenden und damit wichtigsten Wegbereiter des Erfolges Ross und Reiter zu benennen, schwafelt er ein derart wirres Zeug vom Dank an „zivile Helfer“, dass einem schlecht werden kann. Provinzieller und ignoranter, leider auch typischer geht es nicht, Herr Innenminister.

Bernhard Kobus, 04435 Schkeuditz


Welch ein Versagen der sächsischen Polizei: Sie lässt in Chemnitz vor aller Augen – bei einem geplanten Einsatz mit Großaufgebot von Spezialeinsatzkräften – einen mutmaßlichen IS-Terroristen entkommen. Doch nicht genug: Der Mann kann daraufhin offenbar unbehelligt mit dem Zug nach Leipzig fahren. Selbst auf dem Leipziger Hauptbahnhof konnte er sich offensichtlich frei bewegen und nach einer Übernachtungsmöglichkeit herumfragen. Die sächsische Polizei musste davon ausgehen, dass er eventuell noch weitere Mengen des hochgefährlichen Sprengstoffs bei seiner Flucht bei sich trug. Erst einem beherzten und äußerst mutigen syrischen Mitbürger haben wir letztlich die Festnahme des IS-Terroristen zu verdanken. Die Frage dürfte hier sicher erlaubt sein: In welcher Form übernimmt der Einsatzstab des sächsischen Innenministeriums und der Polizei die Verantwortung für dieses gravierende Versagen und die daraus resultierende Gefährdung der Öffentlichkeit?

Andreas Reith, Zinnowitz/Usedom


 

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Die sogenannte Jedermann-Festnahme

Das Festnehmen von Straftätern ist Sache der Polizei. Dennoch sieht das Gesetz Ausnahmen vor, die das Festhalten von Verdächtigen durch Privatleute zulassen – wie in Leipzig bei dem Terrorverdächtigen geschehen.

 

In Paragraf 127 der Strafprozessordnung (StPO) heißt es in Absatz 1 Satz 1: „Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen.“

Juristen nennen so etwas eine Jedermann-Festnahme. Der Verdächtige darf dabei gefesselt oder eingesperrt werden, wenn die Situation das erfordert. Auch kleinere Körperverletzungen - etwa Blutergüsse durch hartes Zupacken – sind von der Rechtsprechung gedeckt. Niemals gerechtfertigt ist es, den Verdächtigen schwer zu verletzen oder zu töten.dpa


 

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Der explosive Sprengstoff TATP

TATP (Triacetontriperoxid), im Nahen Osten auch bekannt als „Mutter des Satans“, wurde bei den Terroranschlägen in London 2005 und in Paris 2015 benutzt. Auch bei den mutmaßlichen Attentätern von Brüssel fanden ihn Ermittler dieses Jahr. Die Substanz wurde laut Landeskriminalamt auch in der Chemnitzer Wohnung des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr entdeckt.

 

Sprengstoffe auf der Basis von Peroxid sind sogar für den Attentäter hochgefährlich. Ohne Fachwissen und Vorsichtsmaßnahmen kann das Mischen in einer tödlichen Explosion enden. Der fertige Sprengstoff kann zudem beim Umfüllenin ein Gefäß seinem Hersteller um die Ohren fliegen. Sowohl Erschütterung als auch hohe Temperaturen oder Reibung können eine schwere Detonation aus-lösen.

 

Deutsche Chemiker erkannten bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Sprengkraft von TATP – ein Zufallsfund. Wegen der Risiken bei der Handhabung erlangte der Stoff aber jahrzehntelang keine nennenswerte Bedeutung als Waffe, obwohl er 80 Prozent der Zerstörungskraft von TNT (Trinitrotoluol) besitzt und preisgünstig in der Herstellung ist. Der erste dokumentierte Einsatz ist ein Anschlag auf eine Studentengruppe im israelischen Hebron durch die Terrororganisation PLO 1980.dpa


 

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Bundespolizei an deutschen Flughäfen

Brüssel, Istanbul – und nun vielleicht Berlin-Tegel oder Berlin-Schönefeld? Flughäfen gehören wie Bahnhöfe zu den bevorzugten Zielen von Terroristen. Auch der in Leipzig festgenommene Syrer Dschaber al-Bakr soll laut Verfassungsschutz entsprechende Pläne verfolgt haben. Das wirft erneut Fragen zur Sicherheit der Infrastruktur auf.

 

Die Bundespolizei sichert in Deutschland 14 Flughäfen, darunter Frankfurt/Main, Berlin, München und Hamburg. Zum Schutz vor Angriffen kontrollieren die Beamten unter anderem Fluggäste und Gepäck und überwachen das gesamte Flugplatzgelände. Je nach Hinweisen und Lage wird die Präsenz angepasst. Nicht alle Maßnahmen an den Flughäfen sind sichtbar, die Polizisten sind auch verdeckt im Einsatz. An 21 weiteren, meist kleineren Flughäfen, ist der Schutz der Luftsicherheit Ländersache.

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