Die Bürgerwehr und die Krise des spätmodernen Subjekts

Auch immer wieder militant zum „Schutz der Heimat“ unterwegs: die Brigade Halle (hier bei der Demonstration der „Offensive für Deutschland“ in Leipzig, 26. September 2015).

Das Phänomen der nichtstaatlichen Bewaffnung von Zivilist*innen ist weltweit verbreitet. Neben Privatarmeen, religiös-fundamentalistischen Terrorgruppen, separatistischen Milizen und anderen Formen bewaffneter Dissidenz existiert auch das Phänomen der so genannten „Bürgerwehr“. Erst vor zwei Wochen hat eine bewaffnete Bürgerwehr das Hauptgebäude eines Nationalpark im US-Bundesstaat Oregon besetzt. Ihr Ziel war die private Zueignung von öffentlichem Land an lokale Landwirte.

Seit den Übergriffen der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof und ihrer rassistischen Verarbeitung in weiten Teilen von Öffentlichkeit und Politik scheint haben sich in Westdeutschland gleich drei Gruppierungen unter dem Label „Bürgerwehr“ gegründet. Genoss_innen berichteten auf Sechel.it (1,2,3,4). Auch vorher gab es prominente Beispiele wie die rechtsradikalen Bürgerwehren aus Freital, Sachsen oder Schwanewede, Niedersachsen. Was jedoch sind die gesellschaftlichen Triebkräfte des Phänomens? Warum sind es gerade Männer, die sich in solchen Vereinigungen engagieren und ist es Zufall, dass sich in vielen Fällen Verbindungen zur Neonazi- und Hooligan-Szene nachweisen lassen?

 

Im Einzelnen mag es viele Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppierungen geben, die sich als „Bürgerwehr“ labeln. Und dennoch lässt sich dieses Phänomen als Krisenerscheinung des spätmodernen Subjekts ausmachen. Damit ist die hegemoniale Subjektivität im Spätkapitalismus gemeint, die nach wie vor weiß und männlich verortet wird. Jedoch scheint sich für das weiße, männliche Herrschaftssubjekt einiges verändert zu haben.

 

Von Hochmut…


Der Kapitalismus war von Beginn an patriarchal strukturiert. Gewissermaßen hat er die Strukturen des vormodernen Patriarchats in sich aufgenommen und modernisiert. Anstelle einer imaginierten göttlichen Herrschaftslegitimation für ‚den Mann‘ trat die komplexe Struktur der modernen Warenproduktion. Alle Tätigkeiten, die nicht in der Form der Lohnarbeit aufgingen, aus denen sich also kein Mehrwert herausschlagen ließ und die nicht unter die abstrakte Zweckrationalität der Verwertung subsummiert werden konnten, wurden in eine eigenständige Sphäre abgespalten. So entstanden die männlich identifizierte Sphäre der Produktion, der Arbeit und der Öffentlichkeit und die weiblich identifizierte Sphäre der Reproduktion, wozu sich Tätigkeiten wie emotionale Unterstützung, Haushalt, das Erziehen von Kindern, Pflege u.v.m. subsummieren lassen. Diese Überlegungen legte erstmals die Wertkritikerin Roswitha Scholz in den 1990er Jahren dar. Während die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus hinter dem Rücken der Subjekte ihre Wirkung entfalten, bringt die Konkurrenz gleichzeitig diverse Formen männlicher Subjektivität hervor, die sich alle imaginieren „Schmied des eigenen Glückes“ zu sein. Während Warentausch und Arbeit als Natur erscheinen, liegt die Handlungsfähigkeit des kapitalistischen Subjekts darin, in der Konkurrenz Oberwasser zu behalten. Nicht die kollektive Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sondern die individuelle Aus-gestaltung des eigenen Lebens gehört in einer konformistischen Ideologie zu den Möglichkeiten des modernen Subjekts. Moderne kapitalistische Identitätsformen konstruierten sich entlang der Lebenswelten der Konkurrenzsubjekte. Haushalt, Fabrik oder Büro generierten stabile Lebenswelten, die eine positive Selbstkonstruktion ermöglichten. Für das männliche Subjekt stellten sich Frau und Kinder, Haus, Urlaube und Stellung im Betrieb als eigene Errungenschaften dar, auf die stolz zu sein angemessen war. Alles, was in der kapitalistischen Konkurrenz unterging oder von vornherein nicht mithalten konnte, wurde ideologisch exkommuniziert. Die Bewohner_innen der globalen Peripherie erschienen als „Naturvölker“, nicht neurotypische oder körperlich eingeschränkte Menschen als „abartig“ oder „behindert“. Dass gerade die eigene Subjektivität kein überhistorischer Normalfall, sondern ein historisch sehr labiles Konstrukt war, schien aus dieser Perspektive kaum denkbar.

 

…und Fall des weiß-männlich-kapitalistischen Herrschaftssubjekts


Aus der Perspektive der Gegenwart lassen sich all diese Strukturen durchaus noch erkennen und dennoch hat sich die Wirklichkeit grundlegend gewandelt. Die Verbreitung der Mikroelektronik hat nicht nur die Produktivkräfte verschnellert und dynamisiert, sondern auch die Lebenswelten der Konkurrenzsubjekte. Das weiß-männliche Subjekt, ohnehin schon angeschlagen durch Schwarze Bürgerrechtsbewegungen, antikoloniale Befreiungskämpfe und feministische Massenmobilisierung, erhielt durch die soziale Dynamik einen weiteren Schlag. Die strukturelle Massenarbeitslosigkeit des 21. Jahrhunderts hat die scheinbar stabilen Arbeitsplatzlebenswelten des 20. Jahrhunderts zerstört. Identität kann nicht mehr auf stabilen Koordinaten gegründet werden, da diese sich permanent verschieben. Um in der Konkurrenz nicht unterzugehen, muss sich das kapitalistische Subjekt permanent neu erfinden und auch nach außen darstellen. Wenn dies dennoch nicht hinreichend ist, um den sozialen Anforderungen gerecht zu werden, wird dies als individuelles Versagen aufgefasst. Die biologistische Ideologie der Minderwertigkeit ist in einer Ideologie der Flexibilisierung und Selbstwirksamkeit aufgegangen. Was früher rassische Veranlagung war, sind heute „Kulturstandards“. Das perfide an dieser Logik ist, dass es objektiv immer mehr Menschen gibt, deren Arbeitskraft nicht mehr benötigt wird und die keine Chance haben, die „Kulturstandards“ (vgl. Übersicht Kulturalismus, Kategorie „Kultur als Standard“) von Fleiß, Selbstwirksamkeit und Flexibilität hinreichend zu erfüllen. Mit Ökonomie und Subjekt ist auch der kapitalistische Nationalstaat in die Krise geraten. Immer mehr Staaten gehen auf eine Staatspleite zu und/oder werden ökonomisch von internationalen Krediten abhängig. Behördenapparate werden in Folge dessen flexibilisiert, Sozialleistungen gestrichen, Grundrechte (wie z.B. das auf Asyl) eingeschränkt. In Folge von sozialer Perspektivlosigkeit und struktureller Identitätskrise wenden sich immer mehr Menschen auf der ganzen Welt vom Staat als Souverän ab und kreieren ganz nach dem d.i.y.-Prinzip ihre eigene autoritäre Lebenswelt. An Stellen, an denen der Staat sich finanziell keinen ausreichenden Sicherheitsapparat mehr leisten kann, setzt er bisweilen sogar auf Kooperation mit den selbstorganisierten Bürgerwehren. Nicht nur in Lateinamerika oder den USA, auch in Sachsen scheint der Staat in manchen Fällen die autoritären Charaktere aufgrund seiner eigenen Überforderung lieber integrieren als verstoßen zu wollen.

 

Das postmoderne Subjekt zwischen totalitärem Größenwahn und Selbstvernichtung


Der im postmodernen Subjekt bereits strukturell angelegte narzisstische Charakter bricht in der globalen Krise des 21. Jahrhunderts hervor. Die größenwahnsinnige Vorstellung, die äußere Welt sei nur eine Verlängerung der eigenen Subjektivität und könne als ganzes dem eigenen Willen unterworfen werden, wurde durch die Ausbreitung der Wertform in die tiefsten Poren der menschlichen Lebensrealität und die (vom Europäischen Ausgangspunkt) entferntesten Winkel der Erde zunächst scheinbar bestätigt. Die krasseste Form dieses Wahns zeigte sich im nationalsozialistischen „heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!“, das zum Zeitpunkt der ausweglos bevorstehenden Niederlage in eine „Operation Verbrannte Erde“ umschlug, die die Selbstvernichtung der Unterwerfung unter den „Feind“ vorzog. Doch im Gegensatz zum Nationalsozialismus, der – neben imaginierten Bedrohungen wie dem „Weltjudentum“ – in den Alliierten tatsächlich einen äußeren Feind hatte, hat der globale Kapitalismus des 21. Jahrhunderts keinen solchen mehr. Nicht einmal das alternative Regulationsmodell der Planwirtschaft konnte den Wettstreit mit dem freien Markt überleben und so lassen sich die offensichtlichen Krisen der herrschenden Vergesellschaftungsweise nur noch auf vorgestellte äußere Feinde projizieren. Jihadismus und antimuslimischer Rassismus sind gleicher Maßen Ausdrucksform einer narzisstischen Weltverachtung. Das spätmoderne Subjekt hat die Kontrolle über die Verhältnisse verloren und sein einstmaliger Hochmut schlägt nun in Verachtung der äußeren Welt um. Erstgenannte Ideologie ermöglicht die Projektion des postmodernen Kontrollverlusts auf die moralische Verkommenheit der Welt und die Perspektive auf ein vollkommenes Jenseits. Letztere will ein vermeintlich zerstörerisches, kulturfremdes Kollektivsubjekt aus der eigenen – eben nicht mehr – heilen Welt exkommunizieren und erhofft sich auf diese Weise die Wiedererlangung von Kontrolle, sozialem Frieden und Machtanspruch. Die auf *GIDA-Demonstrationen immer wieder geäußerte Forderung nach Schließung der Grenzen beinhaltet den Glauben, dass es einfach eines autoritären Durchgreifens bedarf, um die soziale Krise zu beenden. Daran dass die Krise mitunter in der eigenen Subjektform angelegt ist, scheinen die selbstbewussten Deutschen nicht ahnen zu wollen. Je gründlicher die Kontrollillusion des kapitalistischen Subjekts durch die realen Ereignisse zerstört wird, desto brutaler offenbart sich seine narzisstische Prägung. Die Jagd auf Geflüchtete und People of Color und die größenwahnsinnige Parole „Wir sind das Volk“, gerufen von einigen tausend Rassist_innen sind noch Ausdruck des Verlangens nach totalitärer Kontrolle. Einen Schritt weiter sind da bereits junge Erwachsene aus Dinslaken, Bochum oder Sachsen, die sich freiwillig in der Hoffnung auf das Paradies als Kanonenfutter in Syrien anbieten. Auch ein gewisser Germanwings-Pilot aus Düsseldorf ließe sich an dieser Stelle als Beispiel anführen. Bei den genannten Personen ist der gescheiterte Kontrollanspruch in das Verlangen zur Selbstvernichtung umgeschlagen.

 

Wenn du denkst, es geht nichts mehr, gründe eine Bürgerwehr!


Bei „Operation Verbrannte Erde“ sind viele Deutsche jedoch noch lange nicht angekommen. Als relative Krisengewinnler und vermeintliche „Zahlmeister Europas“ hält sich bei ihnen die Illusion einer möglichen Wiedererlangung der Kontrolle über die Welt noch hartnäckig. Das Problem sind in ihren Augen, wie bereits ausgeführt, Geflüchtete, „kulturfremde“ Migrant_innen und in manchen Fällen auch allgemein Kriminelle. Teils ist die in jenen Kreisen verbreitete Vorstellung, Europa befände sich kurz vor einen „Bürgerkrieg“, ideologische Projektion der eigenen Angst vor Beschleunigung und Entwurzelung. Teils speist sie sich jedoch auch aus der Kenntnisnahme des fortschreitenden sozialen Zerfalls an den Rändern Europas. Die Vereinigung in Bürgerwehren ist vor diesem Hintergrund als eine Art regressives Empowerment des angeschlagenen weiß-männlichen Herrschaftssubjekts zu verstehen. Die jüngst entstandenen Bürgerwehren beziehen sich thematisch vor allem auf die Übergriffe im Kölner Hauptbahnhof zu Silvester. Ziel dieser Vereinigungen ist nicht die sexuelle Selbstbestimmung und die Durchsetzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit von Frauen. Allein die Idee, dass Männer sich vereinigen, um „unsere Frauen“ zu „schützen“ macht den patriarchal-sexistischen Besitzanspruch auf Frauen deutlich, der in diesen Kreisen hegemonial ist. Das Entgleiten der Kontrolle, die narzisstischen Ohnmachtsängste der spätmodernen Subjekts, schlagen in entgrenzten patriarchalen Größenwahn um. Wieder wichtig werden, auf der Straße aufräumen, Recht und Ordnung wieder herstellen und zeigen, dass die deutschen Frauen eben deutschen Männer gehören und niemandem sonst. Eine große Gefahr dabei ist die ideologische Flexibilität der neuen Bürgerwehren. Unter oberflächlichen Bekenntnissen dazu „unpolitisch“ zu sein, organisieren sich Rassist_innen und Sexist_innen, denen in vielen Fällen der politische Gehalt ihres Handelns nicht einmal bewusst ist. Umso leichter fällt es organisierten Nazi-Kadern, sich in diesen Bürgerwehren zu betätigen und ihre politische Agenda dort voranzubringen.

 

Zwischen Bedrohung und Paranoia: die Bürgerwehr als Selbsthilfe


Tatsächlich hat die Krise des kapitalistischen Nationalstaats, der globalen Marktwirtschaft und des modernen Subjekts auch andere Formen des Selbstbehelfs hervorgerufen. Diese sind nicht unter den Begriff der „Bürgerwehr“ zu subsummieren, weisen jedoch trotz ihrer politisch vollkommen unterschiedlichen Zielrichtung manche Ähnlichkeit auf. Beispielsweise in den kurdischen und anderen Selbstverteidigungseinheiten ethnischer Minderheiten innerhalb des syrischen Bürgerkrieges. Dort hat die Krise der spezifisch männlichen kapitalistischen Subjektivität gar dazu geführt, dass ein großer Teil derjenigen, die dort bewaffnet um eine ansatzweise vernünftige Vergesellschaftungsform kämpfen, Frauen sind. Auch die „Legitimen Autodefensas“ aus dem mexikanischen Michoacán sind eine Reaktion auf die den regressiven Staatszerfall. Ihr Ziel ist es dem Terror von Staat und Mafia „lokale, regionale und landesweite Kongresse mit Bürgern“ zu organisieren, um als „Menschheit […] eine Art der Regierung [zu] erfinden, welche dem Wohle aller dient“ [1]. Freilich haben auch derartige Selbsthilfeprojekte, die in realen (und nicht im ängstlichen Wahn selbsternannter Herrenmenschen fantasierten) Bürgerkriegssituationen das Potenzial in reaktionär-autoritäre Formen umzuschlagen. Insbesondere die Idee einem widerspruchslosen „Allgemeinwohl“ gegen von außen kommende „Interessen“ zu dienen, hat durchaus reaktionäre Implikationen. Umgekehrt allerdings haben die weißen Bürgerwehren aus der BRD und den USA – genauso wie die aus allen Ländern und ethnischen Gruppen zusammengesetzten jihadistischen Milizen – keinerlei Potenzial, sich in eine emanzipatorische Richtung zu wenden. In ihnen organisiert sich der narzisstische Wahn, sich entweder die Welt unterwerfen (und dabei das „Fremde“ vernichten) zu wollen oder wie im Falle des Jihadismus gleich zur spektakulär inszenierten Selbstvernichtung überzugehen.

 

Literatur

 

[1]: Vázquez Valencia, Jorge: Eine Art der Regierung finden, die dem Wohle aller dient, In: Tierra y Libertad. Zeitschrift für Solidarität und Rebellion, Nummer 75, 2015.

 

Der vorliegende Text wurde eben falls auf dem rethnologie blog veröffentlicht.

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Bitte mehr von Euch auf linksunten !

 

Abseits von Krawall und Schikane einfach mal wieder Horizonterweiterung.

 

rote Grüße !

Ausflüge in fremde Gedanken-Welten sind ja immer eine interessante Angelegenheit. Man liest diesen Text und wundert sich. Aber egal, eine ernstgemeinte Frage hätte ich doch:

 

Ihr kämpft ja nun seit Ewigkeiten gegen Polizei, Justiz, den Repressions-Apparat und überhaupt das "Schweine-System". Jetzt mal ein kleines Gedanken-Experiment: nehmen wir mal an, es gelänge Euch, die Polizei in nennenswertem Umfang so zu schwächen, dass - nennen wir es mal so - polizeibefreite Räume entstehen.

 

Frage: wer füllt diese Frei-Räume dann aus?? Links-Autonome Sicherheitspatrouillen? Und wenn ja: mit welcher Begründung wollt Ihr einer beliebigen anderen Gruppe das Recht absprechen, genau das Gleiche zu tun?

 

Und jetzt bitte nicht das Argument bringen "wenn die Bullen erstmal weg sind, bricht der globale Frieden aus". Daran glaubt seit Köln niemand mehr.

Für unsere Stadt wäre die Antwort auf meine Frage übrigens klar: es gibt gleich 2 Rockerbanden (Bandidos und Hells Angels), die nur darauf warten, ihre Reviere entsprechend zu erweitern.

Liebe*r Reisende*r in fremde Gedankenwelten,

 

du stellst eine wichtige und kluge Frage. Um dir eine ernst gemeinte Antwort zu geben, wird ein kurzer Satz nicht ausreichen. Hier folgt mal ein Antwort-Versuch, der zugleich ein Aufruf an die radikale Linke sein soll, sich dieser Frage zu stellen.

 

1. Daran, dass ohne die Bullen der globale Frieden ausbrachen, kann niemand im Ernst glauben. Dem müsste die Annahme, die Bullen seien die Ursache der gewaltförmigen Vergesellschaftung, zu Grunde liegen. Eine Annahme, die nicht nur oberflächlich, sondern auch vollkommen falsch ist. Die Bullen, also der gesamte Exekutivapparat, sind aber Ausdruck einer strukturell gewaltförmigen Art- und Weise der Vergesellschaftung, des Kapitalismus. Der Staat setzt dieser strukturellen Gewalt Grenzen, damit diese nicht die kapitalistisch-nationalstaatliche Ordnung im Chaos versinken lässt. Er geht dabei aber nicht die Grundlagen der Gewalt an, sondern bekämpft seinerseits sehr gewaltförmig Oberflächenphänomene.

2. Du hast Recht: würden sich die Cops aus bestimmten Gegenden zurückziehen (was z.T. ja in Folge der Krise der Staatshaushalte passiert), würden kriminelle Banden wie die Hells Angela die Macht auf der Straße übernehmen. Für diese würde dann nicht die rational-blinde Gewalt des "Rechtsstaats" gelten, sondern ein partikularinteressengeleitetes Faustrecht. Dies würde gewissermaßen eine Barbarisierung der so oder so bestehenden kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse bedeuten. Diese ist de facto in manchen Gegenden Europas und in vielen Gegenden der Welt so zu beobachten. Als emanzipatorische Link müssen wir die abschiebende, Arme verdrängende Staatsgewalt ebenso bekämpfen wie autoritäre Mafia-Banden oder religiöse Fundamentalist_innen.

3. Autonome Projekte sind eine tolle Sache. Selbstverwaltete Häuser, Zeitungs-, Küchen-, Kunst-, Fahrrad- und andere Kollektive zeigen, dass eine vernünftige und solidarische Organisation von Menschen möglich ist. Auch ein antifaschistischer Selbstschutz, der linke Projekte gegen Nazi-Banden verteidigt ist heutzutage mehr als notwendig, wie wir zuletzt in Connewitz gesehen haben. Aber du hast Recht: deshalb "autonome Bürgerwehren" zu gründen, die die Macht auf allen Straßen über nehmen und gleichzeitig anderen dies absprechen ist kein Lösungsansatz. Er wäre zum Einen nicht umzusetzen und würde zum Anderen eine Barbarisierung der eigenen Politik bedeuten.

4. Eine vernünftige Sicherheitspolitik ist nur auf Basis einer vernünftigen, solidarischen Vergesellschaftung möglich. So lange der Alltag durch Konkurrenz, Patriarchat und Klassenunterdrûckung geprägt ist, kann es keine gesamtgesellschaftlich gültige Sicherheitsstruktur alternativ zur Polizei geben. Die Polizei ist deshalb keinesfalls unser Verbündeter, denn sie schützt die gewaltförmigen Verhältnisse vor ihren Kritiker_innen, aber auch vor sich selbst. Unsere Politik muss in erster Instanz darauf abzielen, emanzipatorische und solidarische Organisierungen aufzubauen, die unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung Menschen in den Kampf für eine befreite Gesellschaft einbindet. Die Frage der Sicherheit kann sich derzeit nur auf Mindeststandards wie den antifaschistischen und antisexistischen Selbstschutz beschränken. Umfassend beantwortet werden kann sie von links erst dann, wenn wir bei der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse weiter gekommen sind.

Hey Rethnologie-Institut,
ich habe ein paar Kritikpunkte und Fragen, und wollte mal sehen, ob ihr die beantworten könnt.

Erstmal zu deinen Kommentarpunkten:

1) Du schreibst, dass der Staat eine Art der Bewältigung der strukturellen Gewalt des Kapitalismus ist.  Damit greife er die Grundlagen der Gewalt jedoch nicht an und bekämpfe heftig ihre Oberflächenphänomene. Hier stellen sich die Frage:

Was meinst du genau mit Gewalt? Meinst du, wenn das Wort alleine dasteht, konkrete Gewalt, strukturelle oder beides? Wenn du die strukturelle Gewalt meinst, so heißt das nichts weiter, dass er nicht die Marktwirtschaft bekämpft (warum sollte er auch?) Wenn du konkrete Gewalt mitunter meinst, halte ich es für sehr verkürzt zu meinen, der Kapitalismus, das moderne bürgerliche Subjekt, der Staat etc. seien daran Schuld. Dazu unten noch mehr.

4) Sind deine Ausführungen zur Sicherheitspolitik sehr ungenau, gehen von fragwürdigen Prämissen aus und meiner Meinung nach auch eher ein Ausweichmanöver. Du schreibst, eine vernünftige (was heißt das?) Sicherheitspolitik sei nur in einer vernünftigen (und was heißt das?), solidarischen Gesellschaft möglich, in der mit- statt gegeneinander, Geschlechtergleichheit statt Patriarchat und Klassenlosigkeit vorzufinden sind. Aber das selbst wenn das alles geschieht, sehe ich nicht, sind die fundamentalen Probleme, wie die Sicherheit einzelner Personen und Personnengruppen zu gewährleisten ist, doch trotzdem die selben. Menschen wollen nicht von Seiten anderer Schmerz erleiden, sie wollen nicht, dass ihr Besitz gestohlen, verbrannt, etc. wird, sie wollen nicht vergewaltigt werden, nicht ermordet werden, ihre Meinung unterdrückt sehen, aus ihrer Wohnung gewalttätig vertrieben werden, etc.. Ich denke, dass in Hinsicht einer kapitalistischen wie in einer sozialistischen Gesellschaft diese allgemeinen Bedürfnisse anerkannt werden können.
Du schreibst nun, über eine Sicherheitspolitik liesse sich erst reden, wenn man bei der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse weiter gekommen ist. Welcher genauer Punkt soll das sein? Und wieso können wir nicht jetzt darüber reden, wenn die Grundprobleme eh schon seit eh und je bekannt sind? Ich verstehe auch nicht, wie eine Sicherheitsstruktur gesamtgesellschaftlich sein kann. Heißt das, dass jeder Mensch einzeln zustimmen soll, dass Gewalt, Hetze, etc. gegen verschiedene Gruppen von Sicherheitskräften bekämpft werden? Dann gibt es keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch verschiedene Gesellschaften mit eigenen Sicherheits-Kodizen. Überhaupt ist mir nicht klar, dass eine Gesellschaft als Einheit eigentlich noch bedeuten soll, wenn der Staat wohl abgeschafft werden soll. Ich weiß auch nicht genau worauf du hinauswillst, wenn du schreibst, dass die Polizei kein Verbündeter ist, weil sie die gewalttätigen Verhältnisse vor sich selber schützt. Muss nicht auch eine libertäre Gesellschaft gewalttätig sein, wenn sie gegen Elemente vorgeht, die aggressiv gegen die etablierte Moral vorgeht? Inwiefern ist ihre Sicherheitsstruktur dann schlechter als die bürgerliche?


Ich bin auch mit dem Artikel allgemein recht unzufrieden, da er meiner Meinung nach überhaupt keine Erklärung liefert, warum es nun zu solchen regessiven Phänomenen kommt. Er läuft auf die Aussage hinaus, dass das kapitalistische Subjekt, der Staat und die Marktwirtschaft die Grundlage bieten für Bürgerwehren, Rassismus, Jihadismus, etc. Das ist etwas trivial bzw. tautologisch, da es heute kaum noch Weltgegenden gibt, die nicht in kapitalistische Strukturen eingebettet und nationalstaatlich verwaltet ist. Wie viele bzw. welche Menschen nicht die moderne Subjektform angenommen haben weiß ich auch nicht, da der Begriff sehr schwammig ist. Ich denke eine bessere Analyse würde sich die Frage stellen, warum welche Menschen sich in Bürgerwehren organisieren, zu Pegida-Demos gehen etc. Sicherlich sind es mehrheitlich Männer und im Kapitalismus eingebettet, doch das erklärt nicht, wieso es Millionen von Männern gibt, die die Meinungen der Leute dort nicht teilen und nicht hingehen. Das Narrativ vom krisenbehafteten Kapitalismus und seinen dementsprechenden regressiven Folgen stimmt wie ich denke im Großen und Ganzen, trifft aber eben nicht auf Deutschland zu, das sich weltweit wohl noch mit am besten hält.  Ich denke man muss deutlich mehr Dimensionen einbeziehen um verstehen zu können, wieso gerade in Sachsen rechte Bewegungen so stark sind, warum Länder wie Deutschland und Schweden eine positivere Haltung zu Flüchtlingen haben als osteuropäische Länder und allgemein wieso einige Länder mehr Gewaltpotenzial haben andere (Deutschland gehört hier nach Statistiken zu den friedlichsten Gesellschaften der Welt, weshalb wohl auch so viele hier her kommen wollen) Monokausal alles auf den Kapitalismus abzuwälzen ist einfach undifferenziert und simpel. Statt dessen sollte man sich die Frage stellen: Welche Aspekte unserer Gesellschaft sorgen konkret für Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, etc. Ich denke das würde auch viel Aufschluss darüber geben, wie eine zukünftige Gesellschaft aussehen soll.

lg Chris

vorab: besten Dank für die ernstgemeinte Antwort auf eine ernstgemeinte Frage!

 

Mir scheint, wir beide sind uns einig, dass wir keine "Barbarisierung" der Verhältnisse bzw. des öffentlichen Raumes sehen möchten. Weder durch Rocker, noch durch Nazis, dubiose Bürgerwehren oder wen auch immer (auch nicht durch Autonome!). Eine Grundlage, auf der man weiter diskutieren kann.

 

Ich fasse Deine Antwort für mich so zusammen: ihr bekämpft die Polizei nicht deshalb, weil sie uniformierte Ordnungshüter sind, sondern weil sie die "falsche" Ordnung (=kapitalistische Verhältnisse) verteidigen bzw. durchzusetzen versuchen. Der Umkehrschluss lautet für mich dann, dass Ihr eine Polizei akzeptieren würdet, die für eine "richtige" Ordnung arbeitet. Korrekt?

 

Mit der "Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse" habt Ihr Euch - wie Ihr zweifelsohne selbst wisst - ein ziemlich dickes Brett vorgenommen. Das muss ich Euch kaum erklären. Mir geht es um etwas anderes:

 

Auf der einen Seite gibt es im Moment eine Politisierung der Bevölkerung, wie ich sie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt habe (ich verfolge die Politik immerhin seit Pershing-2-Zeiten...). Verbunden mit Zweifeln an der Funktionsfähigkeit unseres politischen Systemes und der Wirtschaft, die ich in diesem Ausmaße ebenfalls noch nicht erlebt habe. Kleines Beispiel aus einem Milieu, das Euch eher fremd sein dürfte: ich habe Kontakte zu erzkonservativen Militärs (nein, bin selbst keiner), die seit der NSA/BND-Affäre völlig fassungslos sind, wie "unsere Regierung" mit dieser Affäre umgegangen ist. Die gleichen Kreise äußern sich hinter verschlossenen Türen entsetzt über die Planlosigkeit, mit der ein Bundeswehr-Auslands-Einsatz nach dem anderen gestartet wird (völlig unbelastet von Fragen nach dem Ziel, den verfügbaren Mitteln etc). Die in allen Kreisen verbreitete  Skepsis gegenüber Euro, Bankenrettung, Globalisierung, TTIP etc. brauche ich wohl gar nicht weiter zu erläutern. Die offen erkennbare Planlosigkeit der Regierung im Umgang mit der Flüchtlings-Krise und ihren absehbaren Folgen hinterlässt seit Monaten tiefe Spuren. Die aktuellen Abschätzungen der noch zu erwartenden Migrations-Bewegungen aus Afrika/Nahem Osten bringen selbst dem letzten Spießbürger das Gruseln bei.

 

Ich formuliere es mal so: nie waren neue Politik-Ideen gefragter als im Moment, und nie war die Bevölkerung offener für neue Ansätze als jetzt (wobei diese Offenheit in vielen Fällen nicht in die klassischen Rechts/Links-Muster der Politik passt. Es gibt altgediente NATO-Offiziere, deren USA- und Regierungs-Skepsis nach diversen Einsätzen größer sein dürfte als die von manchem Autonomen). Also eigentlich eine gigantische Marktlücke für Euch, sozusagen.

 

Auf der anderen Seite rutscht Ihr in der öffentlichen Wahrnehmung durch öffentlich zelebrierte Gewalt-Aktionen in die gleiche Ecke wie randalierende Nazis, grapschende/klauende Nordafrikaner, Rocker etc. In der aktuellen Krisenstimmung hat schlicht niemand Bock auf unnötige "Stress-Macher", die die Polizei noch zusätzlich beschäftigen. Und so entsteht in der Öffentlichkeit die schlichte Wahrnehmung:

- 250 Nazis in Connewitz eingekesselt und abgeführt => Gut so, mehr davon

- Razzia im Marokkaner-Viertel in Düsseldorf => Gut so, mehr davon

- Razzia in der Rigaer Straße => Gut so, mehr davon

 

Selbstverteidigung gegen angreifende Nazis: OK, darüber muss man nicht diskutieren, das fällt unter den Notwehr-Paragraphen. Gegen-Angriffe auf diese Idioten: sowas kommt beim Publikum eher als kindische Aktionen an, so wie die Auseinandersetzungen zwischen Kinder-Banden und Fussball-Hooligans. Freude am Prügeln auf beiden Seiten, wohl bekomm's.

 

Lange Rede kurzer Sinn: mag sein, dass in Eurer Szene der eine oder andere Spass daran hat, die Polizei herauszufordern und zu bekämpfen. In der öffentlichen Wahrnehmung sieht es im Moment jedoch so aus: "jeder Polizist, der sich mit Autonomen rumprügeln muss, fehlt bei der Bewältigung der Flüchtlings-Krise (der Bekämpfung reisender Einbrecher-Banden, Rocker etc...)". In der Folge wird Eure gesamte Szene als überflüssige Krawall-Brüder (meinetwegen auch -Schwestern) wahrgenommen, die schnellstmöglich zu entsorgen sind. Für den theoretischen Überbau (also Deine oben formulierten Gedanken) wird sich dann niemand mehr interessieren.

 

Wollt Ihr das wirklich?

 

Und alle guten Ideen

... autoritäre Führung scheint ein Grundbedürfniss bei den meisten Menschen zu sein, und Krieg und Gewalt sind die Folge von Verteilungskämpfen, da sich Menschen immer in Gruppen organisieren, und diese sich gegenüber anderen abgrenzen, das kann die "Rasse" sein, die Religion, oder einfach nur der Fussball-Verein.... Breit gefächerter Wohlstand federt das aber erheblich ab, wie man die letzten 70 Jahre in Europa sehen konnte. 

 

Oder liege ich falsch? Unterschätze ich die Menschen? Ich denke nicht... und darum werden diese schönen theoretischen Überlegungen immer an der Wirklichkeit zerbrechen, leider!