Zonen ohne Sicherheit

Erstveröffentlicht: 
24.10.2015

Hätten die Verletzten bei den Demonstrationen rund um das einjährige Bestehen von Pegida verhindert werden können? Eine Nachbetrachtung.

 

Bildunterschrift: Zweifeln erlaubt: Sind die Sicherheitskräfte bei den Zusammenstößen rund um die Demonstrationen am vergangenen Montag immer in die richtige Richtung gelaufen?

 

Mit einem erstaunten Lächeln im Gesicht nimmt Sabine Friedel an diesem Montagabend zur Kenntnis, was ihr die Polizistin erklärt. „Die Auflagen der Stadt sehen vor, dass für 50 Teilnehmer an Ihrer Demonstration je ein Ordner abgestellt werden muss“, sagt die Beamtin. „Das wusste ich nicht“, antwortet die SPD-Landtagsabgeordnete. „Wir waren von einem Ordner je 100 ausgegangen. Aber das kriegen wir hin, das mit den 50.“

Sabine Friedel hat eine der Demonstrationen angemeldet, die sich für „Herz statt Hetze“ stark machen will. Ihr Gegenpart ist die Pegida-Bewegung, deren Anhänger sich zu Tausenden am Theaterplatz versammeln werden. Es wird ein Abend werden, der in Dresden zu den schlimmsten Krawallen seit den Ausschreitungen im Februar 2011 führen wird. Und dennoch wird die Polizei spät abends mitteilen, dass der Protesttag rund um das einjährige Bestehen von Pegida „im Wesentlichen friedlich“ verlaufen sei. Diese Erklärung hat Empörung verursacht: bei den „Herz-statt-Hetze“- Veranstaltern ebenso wie bei vielen Pegida-Anhängern. Erst zwei Tage später revidierte die Polizei ihre Einschätzung etwas. Die Liste der Vorkommnisse ist damit aber immer noch nicht komplett.

Bereits am vergangenen Wochenende waren auf einschlägigen Internetseiten versteckte Gewaltaufrufe zu entdecken. Etwa dieser der Antifa: „Wir mobilisieren am 19.10. zum Bahnhof-Mitte. 17:30 geht es los! Lasst uns die Party gemeinsam crashen!“ Der Bahnhof Mitte ist an jenem Abend der Startpunkt der Demonstration von Sabine Friedel. Tatsächlich sammeln sich ganz in Schwarz gekleidete, überwiegend junge und teils vermummte Menschen an einer Unterführung.

Polizisten aus Nordrhein-Westfalen sichern den Protestzug ab. Der setzt sich gegen 18 Uhr mit rund 2 000 Menschen in Bewegung. An der Spitze skandieren rund 200 Leute lautstark „Hoch die internationale Solidarität!“ Als die Demonstration am Haus der Presse stoppt, springt ein junger Mann auf den Lautsprecher-Lastwagen. Er stellt sich als Vertreter der kurdischen Jugend vor, eine Organisation, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Der Redner geißelt die SPD, weil sie dem verschärften Asylrecht zugestimmt hat. Er schreit, er geifert, er hetzt – und ruft zur Bildung „militant-revolutionärer Jugendgruppen“ auf.

An der Polizei ist das – trotz mitgeführter Kameras – offensichtlich vorbeigegangen. Auf Anfrage teilt sie mit: „Der Sachverhalt ist uns nicht bekannt.“ Und Frau Friedel? Sie sagt, vielleicht sei ihr etwas entgangen, „aber ich habe einen schwarzen Block Antifa nicht gesehen“. Hinter dem Fronttransparent seien rund 20 Leute von der kurdischen Jugend gelaufen, die „übliche Demogesänge“ angestimmt hätten.

Über den Redner ist die Landtagsabgeordnete nicht glücklich. „Ich hatte nicht die Aufgabe, mich darum zu kümmern.“ Der Inhalt der Rede sei ihr vorher nicht bekannt gewesen, sie habe sich dann aber „enorm geärgert“. Von der Bühne holen wollte sie den jungen Mann auch nicht, „weil das auf einer Demonstration für Toleranz und Vielfalt ein Armutszeugnis gewesen wäre“. Eine Hetzrede sei die Ansprache nicht gewesen, zu Gewalt und Systemsturz sei nicht aufgerufen worden.

Dennoch stürmen wie auf Kommando während der Rede rund 100 Leute los. Sie rennen in Richtung Landtag, dahin, wo Pegida-Anhänger auf dem Weg zu ihrer einjährigen Geburtstagsfeier sind. Es geht rasend schnell, die wenigen Polizisten kommen gar nicht dazu, irgendwie zu reagieren. Obwohl die Klientel eindeutig zuzuordnen ist, hat die Einsatzleitung diesen Moment offensichtlich verpasst.

Damit konfrontiert antwortet die Polizei im Nachhinein: „Der Schwarze Block steht nicht unter Beobachtung, und seine bloße Anwesenheit hat keine polizeiliche Reaktion zur Folge.“ Im Übrigen stelle ein „Ausbruch“ keinen Rechtsverstoß dar. Auch Sabine Friedel hat nach eigenen Angaben nicht mitbekommen, wie die Leute die Demo verlassen hätten. „Dabei stand ich doch neben dem Lastwagen.“

Kurz nach dem Ausbruch explodieren Böller nahe dem Hotel „Maritim“. Verängstigt rennen Pegida-Anhänger in Richtung Schlossplatz. Im Polizeibericht von Montagnacht heißt es: „An der Devrientstraße ist ein Mann, der nach eigenen Angaben auf dem Weg zur Pegida-Versammlung war, von einem Unbekannten geschlagen worden. Der Geschädigte erlitt schwere Verletzungen.“

Fast drei Stunden später. In Scharen verlassen Teilnehmer die Pegida-Kundgebung. Es ist kalt, und die Reden nehmen kein Ende. Unter denen, die sich auf den Heimweg machen, ist auch eine Gruppe von rund 400 jungen Männern. Viele tragen Markenklamotten, die bei Rechtsextremen und Hooligans beliebt sind; einige sind vermummt. Man mischt sich in den Strom der Pegida-Anhänger. Die Polizei hat den Platz am Landtag abgesperrt, Pegida-Sympathisanten applaudieren, einige rufen: „Danke Polizei.“

Der Tross zieht in Richtung Marienbrücke. Kaum ist das Kongresszentrum passiert, skandieren einige der jungen Männer: „Widerstand! Widerstand!“ Wie zuvor bei der Demonstration der SPD rennen auch sie plötzlich los, über die Wiese in Richtung Haus der Presse. Dort randalieren sie an einer Baustelle der Verkehrsbetriebe auf Höhe der Auffahrt zur Marienbrücke, einige stopfen Steine in die Taschen ihrer Bomberjacken. „Macht nicht so’n Krach“, brüllt einer. „Wollt ihr, dass die Bullen kommen.“ Von Polizei ist in der Tat weit und breit nichts zu sehen. Das erklärt, warum im Einsatzbericht jener Nacht davon nichts zu finden ist. Es heißt lediglich, Pegida-Gegner hätten „auf der Ostra-Allee Verkehrsschilder und Gitter auf die Straße“ geworfen. Diese Szene aber spielte an einer anderen Baustelle auf der Ostra-Allee.

Die Hooligans ziehen unbehelligt weiter in die bereits für den Verkehr freigegebene Könneritzstraße. Sie nehmen fast die gesamte Breite der Straße in Beschlag. Autos stoppen, Straßenbahnen bremsen. Plötzlich Lärm, Grölen, Aufruhr. Zwei Männer rennen so schnell sie können durch das Meer der Bomberjacken. Es sind Nordafrikaner. Einer hat eine Plastiktüte in der Hand. Der andere stolpert in der Straßenmitte, fasst sich benommen an den Kopf. Vier, fünf Männer hetzen ihn.

An dieser Stelle muss ich in die Ich-Form wechseln. Ich verlasse meine Position als Beobachter, weil ich in das Geschehen eingreife. Ich renne in die Straßenmitte. Ich lege dem Mann meinen Arm um die Schulter. Vielleicht waren es meine fast zwei Meter und 91 Kilogramm sowie das Schreien von Kraftausdrücken, die nicht in die Zeitung gehören: Die jungen Männer sind offensichtlich so verblüfft, dass sie von ihrem Opfer ablassen. Ich führe den benommenen Mann auf den Bürgersteig am Bahndamm. Langsam lässt er sich mit meiner Hilfe auf den Boden sinken. Die Augen sind weit aufgerissen, Todesangst. Ich spreche ihn an, erst auf Englisch, dann mit allen Fremdsprachenbrocken, die ich kann. Spanisch, Portugiesisch, Französisch. „Oui, je suis de Maroc“, sagt er leise. „Ja, ich bin aus Marokko.“ Zwei Passanten bieten ihre Hilfe an, doch, völlig aus der Contenance geraten, blaffe ich nur zurück: „Das kommt von eurer Pegida-Hetzerei!“ Glücklicherweise kommt ein Sanitäter angeradelt, der mich ebenso beruhigt wie den verletzten Mann. Er erkundigt sich, wo wir hier seien, da er aus Chemnitz stamme. Er müsse dem Krankenwagenfahrer sagen, wohin er fahren solle. Ich denke, nun ist der Marokkaner gut aufgehoben, und gebe den Vorfall an die Redaktion durch. Der Polizei ist dieses Vorkommnis bis zum Freitag offiziell nicht bekannt gewesen. Eine Anzeige eines marokkanischen Staatsbürgers liege ihr nicht vor, heißt es.

Als schließlich die ersten Polizisten in der Könneritzstraße auftauchen, ist die Hooligan-Gruppe bereits auf der Schweriner Straße in Richtung Postplatz unterwegs. Noch einmal Sabine Friedel: „Ab 21 Uhr liefen immer wieder größere Gruppen am Postplatz vorbei.“ Die Polizei habe erst eingegriffen, „als 300 bis 400 gewaltbereite Hooligans die Versammlung angreifen wollten“. Die liefern sich Scharmützel mit Sicherheitskräften, schreien herum: „Ihr schützt nur die linken Zecken!“ Die Polizei teilt dazu lediglich mit, man führe ein Ermittlungsverfahren „mit Tatort Postplatz zum Nachteil einer Polizeibeamtin“.

All das hat auch der für den WDR tätige Reporter Raphael Thelen beobachtet. „Ich habe schon viele Demonstrationen erlebt“, sagt er. „Aber dass eine so große Gruppe vermummter Hooligans quasi unbehelligt quer durch das Zentrum einer Großstadt marodieren kann, das ist neu für mich.“

Nach den Streitereien mit der Polizei am Postplatz zerfällt die Gruppe. Der größere Teil von ihr zieht weiter bis zum Straßburger Platz. Dort ist „Ackis Sportsbar“, der Treffpunkt der harten Dynamo-Fans, dicht umlagert. Das Bier fließt. Auch noch um 23.15 Uhr, eine Viertelstunde nach dem offiziellen Tresenschluss.

Fünf Mannschaftswagen der Polizei stehen noch dort. Zu tun bekommen ihre Insassen nichts. „Der Gruppe an Ackis Sportsbar können keine konkreten Straftaten vorgeworfen werden“, teilt der Polizeisprecher mit. Er betont jedoch, dass die Einsatzkräfte aus mehreren Bundesländern ihre „eigenen Sachverhalte erst in ihrer Heimatdienstelle“ aufarbeiten würden.

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