[Charkov/Ukraine] Hausbesetzung in Zeiten des Krieges

SKZ Avtonomia Charkov

Die politische Krise seit Beginn des Euromaidan und der Bürgerkrieg seit dessen Ende haben die Handlungsspielräume für die ukrainische Linke, ob sie sich nun als anarchistisch oder kommunistisch bezeichnet, tendenziell verkleinert. Die Bedrohung durch ukrainische und russische Nazis nimmt seit Jahren zu, hat aber 2014 einen neuen Höhepunkt gefunden. Die Krise hat aber auch eine positive Seite: Eine Schwächung der staatlichen Repressionsbehörden besonders im Osten des Landes. Diese Schwäche haben die Genoss*innen in Charkov genutzt, um sich und Geflüchteten aus dem Donbass einen Wohn- und Lebensraum zu erkämpfen.

 

 

Einer der Besetzer*innen sieht sogar einen direkten Zusammenhang zwischen der Hausbesetzung im Rudnev-Platz 30 und der zunehmenden Anzahl innerukrainischer Geflüchteter. Ein verfallenes Gebäude für Geflüchtete zu besetzen gelte als vollkommen legitim. Rein aus praktischen Erwägungen seien im letzten Jahr zahlreiche leerstehende Gebäude auf eigene Faust bezogen worden. Das Avtonomia ist davon inzwischen mindestens die zweite politische Besetzung. Eine Besetzung in Sevastopol auf der Krim wurde im Sommer von der russischen Armee geräumt, gerüchteweise habe ich gehört, dass es eine weitere in Lviv geben soll.

 

Die Mehrheit der Leute im Avtonomia kommt aus Donetsk und Umgebung, ebenso wie zigtausend andere vor dem Bürgerkrieg geflohen. Ende September waren in Charkov bereits knapp 90.000 Menschen als Geflüchtete aus dem Donbass registriert. Die Gesamtzahl der Geflüchteten in der Ukraine dürfte inzwischen an die Million betragen, laut UNHCR ist etwa ein Drittel davon in die Russische Föderation geflohen. Von 100 Journalismus-Student*innen eines Jahrgangs an der staatlichen Universität Donetsk sind gerade sieben in Donetsk geblieben. Insbesondere für junge Menschen ist es fast unmöglich eine vernünftige bezahlbare Unterkunft zu finden. Etwas zu besetzen ist somit eine mögliche Lösung.

 

Das SKZ hat in seiner Geschichte sehr verschiedene Einrichtungen beherbergt. In ihm befanden sich u.a. ein Abschiebeknast, eine Polizeiwache, eine Entzugsklinik für Alkoholikerinnen, außerdem eine Bäckerei und ein Sanitärhersteller. Einige Teile des Gebäudes werden schon seit über zehn Jahren nicht mehr genutzt, die jetzt besetzten Gebäudeflügel standen bis zur Besetzung im April 2014 sieben Jahre lang leer. Nun wohnen hier zwischen zehn und zwanzig Geflüchtete aus dem Donbass, die meisten übergangsweise. Ein harter Kern von ca. zehn Leuten hat sich aber an das Projekt gebunden und wohnt entweder hier oder in anderen Teilen Charkovs.

 

Langfristig sollen hier andere Projekte ihren Platz finden. Im jetzigen Wohnbereich soll ein Krisenzentrum für Frauen entstehen. Im Prinzip ein Frauenhaus, da es die in der Ukraine noch kaum gibt dennoch revolutionär. Ebenso geplant sind eine selbstorganisierte Fahrradwerkstatt, ein Tattoo-Studio und für eine Motorradwerkstatt wären ebenfalls Räumlichkeiten vorhanden. Der einzige Raum, der seine bisherige Funktion behalten soll, ist der Konzertraum. Bis dahin ist aber noch viel Arbeit zu erledigen. Etwa zwei Drittel des Gebäudes sind noch nicht einmal richtig erschlossen, es gibt kein fließendes Wasser und geheizt wird mit kleinen Elektroheizungen. Das ist möglich, weil der Strom von einer direkt am Gebäude verlaufenden Stromleitungen abgezapft wird.

 

Doch wie das so ist mit großen Zukunftsplänen ergeben sich in der Zwischenzeit neue Projekte. So öffnete am 18. Februar 2015 die Libertäre Bibliothek mit einem Vortrag des linksradikalen ukrainischen Autor Serhij Zadan. Zum inzwischen vierten Mal fand ein Umsonstmarkt im SKZ statt, außerdem Punk- und andere Konzerte linker und alternativer Bands (Juggernaut u.a.). Dazu kommen Diskussionsveranstaltungen und monatliche Kinoabende. Auf diese Weise hat das SKZ insbesondere bei jungen Menschen einen gewissen Ruf erlangt. Das direkte Umfeld des SKZ erstreckt sich auf mehr als hundert Personen, für die zersplitterte und extrem kleine ukrainische Linke durchaus nicht wenig.

 

Doch nicht nur als Veranstaltungsort der anarchistisch orientierten Charkover Linken kann sich das SKZ bewähren. Für viele ist es ein Rückzugsort ohne patriarchale Familienverhältnisse. Das SKZ hat den Anspruch vor Sexismus, Homophobie und Rassismus zu schützen. Zumindest was Sexismus und Homophobie anbelangt erfüllt das SKZ seine Ansprüche. Haben junge Frauen und Queers ihre autoritären und/oder gewaltvollen Familien satt, lässt sich im SKZ sicherlich ein Pennplatz auftreiben.

 

Ideologisch ist das SKZ nicht ganz einfach einzuordnen. Initiiert von der ukrainischen anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft AST sind sich während des Einzugs und der Renovierungen Antifas, Anarchist*innen, Queerfeminist*innen begegnet. Das Selbstverständnis ist tendenziell anarchistisch, die Distanzierung von russischen und ukrainischen Nazis eindeutig und die Distanzierung von kommunistischen Gruppen wie Borot'ba ebenfalls ziemlich unumstritten.

 

Insbesondere die ukrainischen Nazis machen derzeit Probleme. Bereits 2012 versuchten Nazis den anarchistischen 1. Mai in Charkov anzugreifen, u.a. mit der Begründung dort würden „Lesben“ und „Pädophile“ teilnehmen. Diese homophobe Ausrichtung der charkover Nazis hat sich erst mit dem Euromaidan zu einer ukrainisch-nationalistischen gewandelt. Nun wird das SKZ als „antifaschistisch“ und damit separatistisch angegriffen. Die letzten Angriffe gab es rund um Neujahr 2015, als knapp zwanzig Nazis das Gebäude mit Böllern bewarfen.

 

Die Probleme mit der Polizei hingegen halten sich in Grenzen. Wahrscheinlich, weil jene durch Übertritte auf die Seite der Separatisten zahlenmäßig geschwächt ist, vielleicht, weil die ukrainische Polizei generell wenig einsatzfreudig ist. Anfang September, als es im Hof des SKZ zu Auseinandersetzungen mit ukrainischen Nazis kam, schritt die Polizei ein, drang auch in das Gebäude ein und entwendete einige Möbel. Alle Anwesenden Besetzer*innen wurden in Gewahrsam genommen und die Personalien festgestellt. Seitdem gab es keinen unangenehmen Besuch dieser Art mehr. Stattdessen steht das SKZ nun auf der UN-Liste der Anlaufpunkte für Geflüchtete aus dem Donbass und genießt dadurch eine Art Bestandsschutz.

 

Wie lange dieser bestehen bleibt steht momentan in den Sternen. Ein Ende des Bürgerkrieges scheint nicht in Sicht. Das SKZ soll nach Ermessen der Bewohner*innen jedenfalls bestehen bleiben. Am 25. April 2015 wird der erste Geburtstag gefeiert. Und die zunehmende Eroberung des riesigen Gebäudes durch die Besetzer*innen macht eines klar: So schnell einschüchtern lässt sich hier niemand.

 

Zu Dokumentationszwecken noch die Gründungserklärung des SKZ Avtonomia in Charkov:

 

 

Erklärung der AST Kharkov über die Gründung des Sozio-kulturellen Zentrums

 

 

25. April 2014

Revolutionäre Grüße an alle solidarischen Genoss*innen weltweit!

 

Wir, die Arbeiter*innen der Ukraine, aktive Teilnehmer*innen der größten und radikalsten sozialen Proteste der letzten Jahrzehnte, setzten die Entwicklung einer Autonomen Arbeiter*innenbewegung fort.

 

Der im Oktober letzten Jahres begonnene Aufstand gegen die Regierung wandelte sich zu einem internationalen Krieg gegen die Arbeiter*innenklasse. Wie zu erwarten war, gelang es den herrschenden Klassen in Russland und der Ukraine ohne besondere Probleme der breiten Masser der Arbeiter*innen die Werte des Patriotismus und Hasses zu vermitteln.

 

Sogar unter dem Umstand der weiterhin bestehenden sozialen Ungleichheit gibt die Erfahrung des erfolgreichen Kampfes gegen das staatlich-politische Regime die Möglichkeit zur Entwicklung einer revolutionären Bewegung.

 

Im Bewusstsein der schwierigen Situation haben wir die Wahl zugunsten des entschiedenen Kampfes für ein Aufbau einer libertären (klassenlosen, selbstverwalteten) kommunistischen Gesellschaft getroffen.

 

Angesichts der beträchtlichen Verschlechterung des Lebens von Millionen Arbeiter*innen der Ukraine, hervorgerufen durch das Chaos des Krieges, rufen wir alle unterdrückten Gruppen auf, ihren eigenen Weg der Solidarität und gegenseitigen Hilfe zu gehen.

 

Ein erster Schritt in diese Richtung ist Hilfe für die Arbeiter*innen der Krim und der Ostukraine, welche nun Flüchtlinge und Auswanderer sind und gezwungen sind, sich vor politischen Repressionen und kriegerischen Handlungen, die die Wohnviertel vieler Städte und Dörfer der Ostukraine fest im Griff haben, zu verstecken.

 

Zur Organisation dieser Hilfe für die Geflüchteten der Krim und der Ostukraine haben wir, die Mitglieder der Autonomen Arbeiter*innenunion (AST), ukrainische Anarchist*innen und Antifaschist*innen, eine Enteignung eines verfallenen Verwaltungsgebäudes vorgenommen.

 

Auf Basis dieses Gebäudes soll ein Sozio-kulturelles Zentrum zum Wohnen und als Freizeitzentrum für diejenigen Arbeiter*innen entstehen, welche unter den Folgen des internationalen Krieges und anderer Formen der Unterdrückung leiden.

 

Die Kollektive der AST-Kharkov und des Kharkover Sozio-kulturellen Zentrums

Friede den Hütten, Krieg den Palästen!

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Es klang ja alles so gut. Hausbesetzung, Hilfe für Flüchtlinge... Und dann das: "Ein erster Schritt in diese Richtung ist Hilfe für die Arbeiter*innen der Krim und der Ostukraine, welche nun Flüchtlinge und Auswanderer sind und gezwungen sind, sich vor politischen Repressionen und kriegerischen Handlungen, die die Wohnviertel vieler Städte und Dörfer der Ostukraine fest im Griff haben, zu verstecken."

Oh ja, so wird es sein, nur in den Aufandsgebieten der Ostukraine un den ehemals ukrainischen Gebieten, die sich per Abstimmimmung beeindruckend eindeutig wie beängstigend "beschützt" der Russischen Föderation angeschlossen haben gibt es politische Verfolgung. Und nicht etwa in den nationalistischen Hochburgen im Westen der Ukraine? Haben die Gewährspersonen der Jungle World das damals nur geträumt, mit den Nazis und dem Maidan? Und im Krieg?

 

http://jungle-world.com/artikel/2014/02/49128.html

http://jungle-world.com/artikel/2014/25/50069.html

 

Ach sorry, es tut mir ja leid, nicht hilfreicher sein zu können, aber ausgesetzt dem ganzen brainwash hier (nur EIN Beispiel: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/amerika/world-russia-forum-pu...) ... ist es vielleicht einfach erstmal das wichtigste, einen klaren Kopf zu behalten.

Also vor dem Hintergrund der irren nationalistischen Propaganda in UA zeigen die BesetzerInnen sehr viel klaren Kopf.

 

Lies doch mal, was die softcorenationalistInnen ihrem Fußvolk "versprechen": Das Polen, Schweden und die Baltic States bals gemeinsam mit ihnen in den Krieg gegen Russland ziehen. Irre! Verglichen damit sind einseitige Squatter doch voll gold.

http://euromaidanpress.com/2015/04/03/sweden/

http://euromaidanpress.com/2015/04/03/the-baltic-states/

http://euromaidanpress.com/2015/04/03/the-baltic-states/

von Russland besetzten Gebieten gibt es sehr viel, von ernst zu nehmenden Organisationen wie AI, HRW. Zu politischen Verfolgungen in der "nationalistischen" Westukraine gibt es bei denen wenig. Oder schaust Du einfach zu viel RT an?

von einem der Besetzer*innen zu einer Frage über Repression und Nazis im Westen: "Die Nazigewalt nimmt sei drei Jahren stetig zu und hat durch den Euromaidan neuen Auftrieb bekommen. In Charkov haben sich die ukrainischen Nazis erst sehr spät versucht dem Euromaidan anzuschließen und sind dann von dort vertrieben worden, deshalb haben sie bis heute in Charkov Mobilisierungsprobleme." In Charkov findest du momentan mehr Antifa- und Anarch@-Streetart als Fascho-Kram. Und der Fascho-Kram den ich gesehen habe ist selten unkommentiert.

 

Zu Repressionen im Donbass empfiehlt sich der letzte Artikel von Ulrich Heyden in der ak und Ute Weinmann berichtet in deinem zweiten Jungle-World-Link ja nun auch von Auseinandersetzungen innerhalb der "Volksrepubliken".

 

Jezt noch zu dem (als persönlich aufgenommenen) Vorwurf der Gehirnwäsche: Der FAZ-Artikel ist so schlecht, jeder Mensch, der sich nur ein klitzekleines bischen mit dem Thema beschäftigt erkennt das. Ich behaupte gerne in der ganzen Debatte einen klaren Kopf zu behalten und das beanspruche ich auch jetzt. Da du die Referenden im Donbass als frei und fair darstellst, bin ich eher geneigt den Vorwurf zu erwidern.