Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen — KZ-Wächter angeklagt

Erstveröffentlicht: 
14.10.2014

Die Staatsanwaltschaft Hannover erhebt Anklage gegen 93-Jährigen wegen Beihilfe zum Mord in Auschwitz in 300.000 Fällen. Der Mann war Freiwilliger der Waffen-SS. Ob er im Prozess aussagt, ist offen.
Von Ludger Fertmann und Carolin George


Lüneburg. Am 17. September 1945 begann in Lüneburg der erste Kriegsverbrecherprozess auf deutschem Boden nach dem Ende der Nazi-Herrschaft. Jetzt spricht vieles dafür, dass in dieser Stadt auch einer der letzten Prozesse um NS-Verbrechen stattfindet. Die Staatsanwaltschaft Hannover hat Anklage erhoben gegen einen 93-jährigen Mann aus der Nordheide wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zwischen Mai und Juli 1944 im Konzentrationslager Auschwitz.

Das britische Militärgericht verurteilte 1945 insgesamt elf Männer und Frauen zum Tode, die meisten von ihnen waren SS-Mitglieder und gehörten zur Lagerverwaltung im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie wurden in Hameln durch den Strang gerichtet.

Schwurgerichtskammer am Landgericht Lüneburg entscheidet über Zulassung

Ausgangspunkt der späten Anklage gegen den Mann aus der Nordheide ist das Urteil gegen den KZ-Wächter John Demjanjuk. Den hat das Landgericht München im Jahr 2011 wegen Beihilfe zum Mord auch ohne den Nachweis einer konkreten Tatbeteiligung verurteilt. Während des Revisionsverfahrens ist Demjanjuk gestorben, es gibt zum aufsehenerregenden Urteil des Landgerichts München noch keine Entscheidung des Bundesgerichtshofs.

Ganz unabhängig davon aber hat die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg in Baden-Württemberg den Staatsanwaltschaften quer durch die Bundesrepublik Ermittlungsakten von circa 30 ähnlich gelagerten Fällen übergeben. Die dafür in Niedersachsen zuständige Staatsanwaltschaft Hannover hat vier solcher Akten erhalten. Ein Beschuldigter ist inzwischen gestorben, zwei sind verhandlungsunfähig.

So blieb nur die Anklage gegen den jetzt 93-Jährigen. Er ist auf freiem Fuß, hat mit der Staatsanwaltschaft gesprochen. Ob er im Prozess aussagt, ist offen. Als Freiwilliger der Waffen-SS hat er nach Überzeugung der Anklagebehörde geholfen, das Gepäck von Hunderttausenden von Juden, die aus Ungarn deportiert wurden, direkt auf der Rampe von Auschwitz wegzuschaffen, um die Spuren der Massentötung für nachfolgende Häftlinge zu verwischen.

Die Staatsanwaltschaft ist sich sicher: "Dem Angeschuldigten ist bewusst gewesen, dass die im Rahmen der Selektion als nicht arbeitsfähig eingestuften überwiegend jüdischen Häftlinge unmittelbar nach ihrer Ankunft in eigens dafür errichteten Gaskammern ermordet wurden. Durch seine Tätigkeit hat er dem NS-Regime wirtschaftliche Vorteile verschafft und das systematische Tötungsgeschehen unterstützt." Zudem war er zuständig für die Zählung von Banknoten, die aus dem Gepäck der Deportierten stammten. Gegen den Mann aus der Nordheide ist bereits vor knapp 30 Jahren ermittelt worden, das Verfahren wurde aber am 6. März 1985 mangels Beweisen eingestellt.

Nun entscheidet die Schwurgerichtskammer am Landgericht Lüneburg über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung. Der Kammer liegen bereits mindestens 16 Anträge von Überlebenden und Angehörigen von Opfern auf Zulassung zur Nebenklage vor. Entscheiden muss die Kammer über die Zulassung zur Hauptverhandlung unter ihrem Vorsitzenden Franz Kompisch, einem erfahrenen Strafrichter, der als souverän in der Verhandlungsführung gilt. Der 46-Jährige stammt aus Hamburg, hat dort auch Jura studiert und ist seit 2000 Richter auf Lebenszeit in Lüneburg mit Stationen an Strafsenaten in Celle und Stade. Chef des Schwurgerichts ist er seit 2010.

Das Landgericht Lüneburg hat für den Fall, dass die Anklage zur Hauptverhandlung kommt, bereits ein Akkreditierungsverfahren für Journalisten angekündigt. Eben weil es der vielleicht letzte Prozess dieser Art ist – knapp 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Herrschaft. Auch 1945 hat es große öffentliche Aufmerksamkeit gegeben für den ersten Kriegsverbrecherprozess auf deutschem Boden.

Damals meldeten sich etwa 200 Journalisten und Prozessbeobachter aus aller Welt an. Neben den elf Todesurteilen gab es am 17. November zum Abschluss des Verfahrens eine Verurteilung zu lebenslanger Haft und 15 meist langjährige Haftstrafen. 15 Angeklagte wurden freigesprochen. Fast alle Haftstrafen wurden später verkürzt.

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 Prozess gegen einstigen SS-Wachmann

Anklage nach 70 Jahren

 

26.10.2014, Andreas Speit

 

Beihilfe zu 300.000 Morden: Das Landgericht Lüneburg befasst sich bald mit Vorwürfen gegen einen einstigen SS-Wachmann im KZ Auschwitz. Dass das Verfahren zustande kommt, ist nicht selbstverständlich. Gegen weiteres Lager-Personal wird ermittelt

 

LÜNEBURG  taz | Er war er für das Gepäck der verschleppten Menschen auf der Bahnrampe von Auschwitz-Birkenau mit zuständig, verbuchte das Bargeld, das die Neuankömmlinge dabei hatten. 70 Jahre später muss sich Oskar G. nun in Lüneburg vor dem Landgericht verantworten: wegen „Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen“. Durch Tätigkeiten wie die des heute 93-Jährigen „sollten die Spuren der Massentötung für nachfolgende Häftlinge verwischt werden“, erklärt die Staatsanwaltschaft Hannover.

 

Eile tut Not

 

Einen genauen Termin habe die 4. Große Strafkammer noch nicht festgelegt, sagt die Lüneburger Gerichtssprecherin Frauke Albers der taz. Sie selbst erwarte aber eine rasche Eröffnung des Verfahrens – schon wegen des hohen Alters von Oskar G.

 

Insgesamt wirft die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg bundesweit 30 mutmaßlichen Aufseherinnen und Aufsehern aus Auschwitz-Birkenau „Beihilfe zum Mord“ vor (siehe Kasten). In Hamburg und Schleswig-Holstein laufen etwa Ermittlungen gegen mehrere Frauen, die zur Wachmannschaft oder dem sonstigen Personal gehört haben sollen.

 

Im Falle G.s sah die Staatsanwaltschaft Hannover genügend Indizien für eine Anklage. Gegen drei weitere Beschuldigte seien die Ermittlungen dagegen eingestellt worden, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Klinge – wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit oder zwischenzeitlich eingetretenen Todes.

 

Gut zwei Jahre lang, von 28. September 1942 bis zum 16. Oktober 1944, soll G. der Anklage zufolge seinen Dienst in der sogenannten Häftlingsgeldverwaltung von Birkenau versehen haben. Der ehemalige Waffen-SS-Freiwillige soll das Bargeld von einem Häftlingskommando erhalten haben, welches Gepäck und Kleidung der Ermordeten durchsuchte.

 

Allein zwischen dem 16. Juni und dem 17. Juli 1944 trafen mindestens 137 Züge aus Ungarn in Auschwitz-Birkenau ein, brachten rund 425.000 Menschen in dass Lager. Aus Sicht der hannoverschen Staatsanwaltschaft muss Oskar G. davon gewusst haben: Wer nicht für die Zwangsarbeit ausgewählt wurde, den erwartete ein qualvoller Tod – unter Vorspiegelung, es gehe zum Duschen oder Baden.

 

Den Anklägern zufolge wurden bei der „Ungarn-Aktion“ mindestens 300.000 Menschen in den Gaskammern ermordet. Der Angeklagte selbst hat wiederholt angegeben, an der Rampe lediglich „Koffer bewacht“ zu haben.

 

Laufende Ermittlungen

 

Noch keine Anklage erhoben hat in einem verwandten Fall die Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig: Dort laufen derzeit Ermittlungen gegen eine Frau, die 1944 zwar nicht zum Wachpersonal gehört, aber in Auschwitz gearbeitet haben soll. Ob ein Verfahren gegen die ebenfalls über 90 Jahre alte Frau eröffnet wird, ist ungewiss. Über den Stand der Ermittlungen dürfe wegen der laufenden Ermittlungen nichts gesagt werden, heißt es bei der Generalstaatsanwaltschaft.

 

In Hamburg sind die Ermittlungen gegen eine ehemalige Angehörige des SS-Wachpersonals von Birkenau dieser Tage teilweise eingestellt worden: Ein britisches Militärgericht habe die heute 93-jährige Frau schon 1946 zu sieben Jahren Haft verurteilt, sagt Nana Frombach, Sprecherin der Hamburger Anklage – und es dürfe niemand für die gleiche Tat zwei Mal bestraft werden. Allerdings stehe die Frau weiter „im Verdacht, auch zur SS-Wachmannschaft im Konzentrationslager Majdanek gehört zu haben“, so Frombach.

 

Für das Verfahren in Lüneburg haben 16 Überlebende und Angehörige von Ermordeten ihre Zulassung für die Nebenklage beantragt. Acht Nebenklagen wurden schon zugelassen.

 

http://www.taz.de/!148396/

http://www.cjnews.com/index.php?q=node/132571

 

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Known as “the Bookkeeper of Auschwitz,” Gröning was in charge of collecting the valuables and other possessions of Hungarian Jews between May 15 and July 12, 1944. In that time, 437,000 Jews from Hungary and neighbouring territories arrived by train at Auschwitz, and 300,000 were sent to the gas chambers right away.

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