Verschiedene antifaschistische Gruppen rufen seit 1990, so auch in diesem Jahr, am 9. November zu einer Gedenkveranstaltung in Berlin-Moabit auf. Denn die Gewalt der Novemberpogrome vom 7. -13. November 1938 fand am 9. November ihren vorläufigen Höhepunkt. Überall in Deutschland und Österreich brannten die Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden überfallen, demoliert und geplündert. Jüdinnen*Juden wurden von den Nazis gedemütigt und geschlagen, vergewaltigt und ermordet. Der NS-Antisemitismus wurde nach den Novemberpogromen immer gewalttätiger und gipfelte letztlich in dem Versuch, alle Jüdinnen*Juden Europas gezielt und umfassend zu ermorden. Bis 1945 ermordeten die Nazis sechs Millionen Jüdinnen*Juden.
Der vollständige Aufruf des Vorbereitungsbündnisses ist hier abrufbar.
Gedenkkundgebung am Mahnmal in der Levetzowstraße
Die Gedenkkundgebung begann um kurz nach 14:00 am Mahnmal in der Levetzowstraße. Dort befand sich ehemals eine der größten Synagogen Berlins, bevor diese nach dem 9. November 1938 von den Nazis als Sammellager missbraucht wurde. Unverschämt waren auch in diesem Jahr die Vorkontrollen der Berliner Polizei, die insbesondere an einer Gedenkveranstaltung eine vollkommen deplatzierte Machtdemonstration darstellen.
Die Gedenkkundgebung wurde von Hans Coppi von der Berliner VVN-BdA eröffnet, der vor allem die Überlagerung des Gedenkens an die Novemberpogrome durch die staatsoffiziellen Mauerfall-Feierlichkeiten kritisierte. So äußerte sich bereits vor vierzehn Jahren der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel eindeutig: „Es darf aber niemals das Gedenken an den 9. November 1938 - an den staatlich organisierten Pogrom - verdrängen und schon gar nicht zu einem „Feiertag 9. November” führen. Denn Volksfeststimmung mit Würstchenbuden und Bierzelten, die der Freude über die Niederreissung der Mauer angemessen sind, taugen nicht zum Gedenken an die Millionen von Toten des Naziterrors.”
Nach einem einleitenden Beitrag der Organisator*innen zum historischen Ort am Mahnmal Levetzowstraße folgte die Rede der Überlebenden Vera Friedländer (* 27. Februar 1928). Sie schilderte einerseits die Verfolgung ihrer Familie durch die Nazis, andererseits hob sie aber auch den aktuellen Antisemitismus hervor. So wurde sie beispielsweise bei einer Podiumsdiskussion vor kurzer Zeit mit den Worten vorgestellt, dass ihre Mutter jüdisch, ihr Vater deutsch gewesen sei. Auf ihren Einspruch, dass auch ihre Mutter Deutsche gewesen sei, reagierte der Moderator verständnislos. Auch heute noch ist das antisemitische Denkmuster verbreitet, Jüdinnen*Juden das Deutschsein abzusprechen. Vera Friedländer schloss ihren Redebeitrag mit der Aufforderung insbesondere an die Jugend, gemeinsam gegen Rassismus und Antisemitismus zu kämpfen.
Andrée Leusink (* 14. Mai 1938 in Frankreich) erzählte eindringlich, wie sie als verstecktes Kind den Holocaust in Frankreich und der Schweiz überlebte. Schon in den 50er Jahren wurde sie mit antisemitischen Aussagen konfrontiert, wie etwa das „Auschwitz eine Lüge sei.” Bis heute ist sie aktiv in der antifaschistischen Bewegung, darunter den „Child Survivors Deutschland - Überlebende Kinder der Shoah“ und der VVN-BdA Berlin-Pankow. Andrée Leusink betonte die reale Bedrohung für Jüdinnen*Juden heute: In der Ukraine brannten während der Krise Synagogen, ein dort lebender jüdischer Freund von ihr wurde von Unbekannten erschlagen. In diesem Moment kam bei ihr wieder die Angst hoch, es bereitete ihr schlaflose Nächte. Zum Schluss ihres Beitrages unterstrich sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen Fluchterfahrung, wie wichtig das Grundrecht auf Asyl sei und das Flüchtlinge hier willkommen sind.
Erfreulicherweise beteiligten sich an der Kundgebung auch die Bewohner*innen des nahe gelegenen Flüchtlingsheimes. Musikalisch begleitet wurden die Beiträge von Zhetva. Zum Abschluss der Gedenkkundgebung legten die Anwesenden Rosen am Mahnmal nieder.
Antifaschistische Demonstration zum Mahnmal an der Putlitzbrücke
Im Anschluss an die Gedenkkundgebung fand eine antifaschistische Demonstration statt. Sie orientiert sich dabei an dem Weg, den die Jüdinnen*Juden vom Sammellager in der Levetzowstraße zum Deportationsbahnhof an der Putlitzbrücke gehen mussten - am helllichten Tag und unter aller Augen.
Mehrere kurze Redebeiträge entlang der gesamten Route thematisierten Orte von NS-Verfolgung und Widerstand gegen die Nazis. An einer kurzen Zwischenkundgebung Alt-Moabit Ecke Elberfelder Straße vor dem dortigen Flüchtlingsheim schilderte eine Aktivist*in der Initiative Moabit hilft, wie sie die dort lebenden Geflüchteten praktisch unterstützen, indem sie Begleitung bei Behördengängen oder Deutschkurse anbieten. Sie weist die immer wieder versuchte Spaltung der antirassistischen Bewegung in nette, harmlose Willkommensinitiativen und Linksradikale, welche die Geflüchteten angeblich instrumentalisieren, entschieden zurück. Verschiedene Menschen mit verschiedenen Hintergründen beteiligen sich am antirassistischen Kampf auf unterschiedlichen Ebenen, betonte sie.
Der darauffolgende Redebeitrag einer ehemaligen Bewohner*in der Gerhard-Hauptmann-Schule in der Ohlauer Straße gab den Zuhörer*innen einen Eindruck davon, wie der deutsche Staat mit Geflüchteten umgeht. Bei dem ersten Räumungsversuch wurde sie nach Spandau gebracht, wodurch ihre Familie auseinander gerissen wurde. Die Versorgung ist dürftig oder fehlt ganz, Arbeiten ist ihr und ihrer Familie verboten, sie werden ständig von Polizei und Ordnungsamt drangsaliert: kurz, ein normales Leben hier in Berlin zu führen wird ihnen verweigert. Mehrere Bewohner*innen des Flüchtlingsheimes winkten während der Zwischenkundgebung aus den Fenstern und grüßten die Demonstration.
Ein Redebeitrag der Antifaschistischen Initiative Moabit [AIM] während der zweiten Zwischenkundgebung an der Turmstr. 21 berichtete von der schrittweisen Ausgrenzung des jüdischen Personals nach 1933 im dort gelegenen ehemaligen Krankenhaus.
Flyer in deutscher, türkischer und arabischer Sprache sowie ein mehrfach verlesener Kurzaufruf informierten Passant*innen über das Anliegen der Demonstration.
Den Weg ab Beginn der Putlitzbrücke laufen die Demonstrationsteilnehmer*innen traditionell schweigend. Zum Abschluss der Demonstration am Mahnmal auf der Putlitzbrücke am heutigen S-Bhf Westhafen legten die Teilnehmenden erneut Rosen nieder. In diesem Jahr jähren sich die ersten Deportationen aus Berlin zum 73. Mal. Am 18. Oktober 1941 verließ vom Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald der erste Deportationszug Berlin in Richtung des Ghettos Litzmannstadt/Lodz. Knapp ein Jahr später, ab August 1942, wurden diese vom Bahnhof an der Putlitzbrücke in Moabit fortgesetzt.
Ca. 400 Teilnehmer*innen nahmen an der
Gedenkkundgebung, ca. 600 Menschen an der anschließenden Demonstration teil. Unsere
Veranstaltung und die Zeitung sind ein kleiner, aber entschiedener Gegenpart zu
den deutschen Zuständen. Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus gehören in
Deutschland keineswegs der Vergangenheit an. Den Betroffenen damals und heute
gilt unsere Solidarität.
Die Zeitung zum 9.November
Die Zeitung zum 9.November enthält ein Interview mit Andrej Hermlin über aktuellen Antisemitismus, einen historischen Beitrag über das ehemalige Sammellager in der Levetzowstraße, Artikel über die sogenannte Alternative für Deutschland, den NSU und Rassismus in staatlichen Institutionen bzw. in der Gesellschaft, über den aktuellen Antisemitismus „made in Germany”, der Initiative zur Aufklärung der Ermordung von Burak und schließlich den Abdruck einer Rede von Cornelia Kerth über den grassierenden Antiziganismus.
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Vorbereitungsbündnis
Antifaschistische Initiative Moabit [AIM], Berliner VVN-BdA, Autonome
Neuköllner Antifa [ANA], Andere Zustände ermöglichen
[aze], Autonome Antifa Berlin [A2B],
Antifa Friedrichshain [AFH]
Das war...
... eine wichtige und gute Veranstaltung und eine schöne Demo.