Mit der Menschlichkeit am Ende

Die Menschenrechte scheinen das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt sind, wenn man sich den Umgang mit Geflüchteten in Berlin anschaut. Bei näherem Hinschauen drängt sich der Verdacht auf, dass in der deutschen Hauptstadt nun das sichtbar wird, was an den Grenzen Europas bereits längere Zeit Realität ist.

 

In einem Protestmarsch gehen sie zu Fuß von Würzburg bis nach Berlin. Für 18 Monate protestieren sie auf dem Oranienplatz in Kreuzberg. Trotz eisiger Kälte in den Zelten verbringen sie dort zwei Winter, ohne Duschen und mit einer einzigen funktionierenden Toilette für Hunderte Menschen. Überleben zwischen Ratten und essen, was ihnen gespendet wird. Im April 2014 verlassen sie den Platz, nachdem der Berliner Senat einen Teil der Gruppe gegen den anderen aufhetzt. In kolonialer Spaltungslogik gibt es das „Einigungspapier Oranienplatz“ als Zuckerbrot für die Einen und die Räumung als Peitsche für die Anderen.

Im Juli werden die rund 200 Bewohner*innen der Gerhart-Hauptmann Schule vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg aufgefordert, diese freiwillig zu räumen. Als Umzugshelfer*innen werden ihnen insgesamt 1700 Polizisten*innen, überwiegend in Kampfuniformen, zur Seite gestellt. Skeptisch aufgrund der Erfahrungen vom Oranienplatz, besetzt ein Teil von ihnen das Dach der Schule und droht damit, sich im Fall einer gewaltsamen Räumung vom Dach zu stürzen oder sich selbst anzuzünden.

Während  eines darauf folgenden und neun Tage andauernden Ausnahmezustandes entscheiden bewaffnete und gewaltbereite Banden, teilweise vermummt,  wer das zwei Blöcke umfassende Sperrgebiet betreten darf und wer nicht, wann Presse zugelassen ist und wann nicht, wer mit wem reden darf und mit wem nicht. Die Trennung der Exekutiven von der Legislativen scheint nicht nur auf der Strasse aufgehoben zu sein, wenn der Polizeipräsident Ultimaten an die politischen Entscheidungsträger stellt. Das die Räumung just in dem Zeitraum angesetzt wird, als etliche Bewohner*innen der Schule in Straßburg und Brüssel gegen die unmenschliche Asylpolitik der EU protestieren, erscheint nur noch als bittere Ironie des Ganzen.

Etwa zwei Monate später, am 25. August, wird ehemaligen Bewohner*innen des Oranienplatzes vom Landesamt für Gesundheit und Soziales mitgeteilt, dass sie am darauf folgenden Tag ihre Unterkünfte zu verlassen haben. Die in dem „Einigungspapier Oranienplatz“ vereinbarte Duldungsfrist von sechs Monaten ist zwar noch nicht um, aber „eine umfassende Prüfung der Einzelfallverfahren im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten“ sei negativ abgeschlossen worden. Wohlwollend, aber leider und ausnahmslos in allen Fällen.

Der daraufhin folgenden Besetzung des Daches der Unterkunft in der Gürtelstrasse 39 wird nicht mehr mit Zuckerbrot und Peitsche, sondern mit brachialer Gewalt begegnet. Um die Bilder von sich vom Dach stürzenden Menschen zu verhindern, wird auf eine gewaltsame Räumung zwar verzichtet, aber mit der Umsetzung einer Aushungerungstaktik der Tod von Menschen billigend in Kauf genommen.

Während das Verwaltungsgericht Berlin bei der Ausübung des Versammlungsrechtes sehr genau hinsieht und die Taktik des Senates und der Polizei billigt, scheint es bei der Auslegung des Grundgesetzes blind. Zum Beispiel „Artikel 1, (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Den folgenden Artikeln des Grundgesetzes scheint auch nur Hohn und Spott zu widerfahren. Menschenrechte? Die werden in der angeblich dort, wo es Ressourcen für unseren Reichtum oder andere geopolitische Interessen gibt, verteidigt.

Das Bild des geflüchteten Menschen ist eine Erinnerung an gesellschaftliche Missstände, an ein rassistisches System von Ausbeutung und Ausgrenzung. Es ist ein wandelndes Mahnmal einer Politik, die für Reichtum für Wenige und für Krieg, Verfolgung, Hunger, Armut, Diskriminierung, Ausbeutung und/oder Perspektivlosigkeit für Viele steht. Es ist der Ausdruck eines Innen und Außen, einer Exklusion, die an den Grenzen Europas jährlich tausende Menschenleben fordert. Es ist das Sinnbild barbarischer Zusammenhänge, die mit unseren Waffen und unserer Macht aufrecht erhalten werden.

In dem Augenblick, in dem Geflüchtete die ihnen zugewiesene Rolle des hilfebedürftigen Opfers und ihr Schweigen durchbrechen, lösen sie heftige Abwehrreflexe in unserer Gesellschaft aus. Diese versucht, die Unterdrückten wieder zu verstummen, an die ihnen zugewiesenen Plätze zu verbannen und abzuschieben. Mittels kolonialer Spaltungspolitik, mittels Aushungerungs- und Isolationspolitik, mittels Gewalt, mittels Suspendierung grundlegender Menschenrechte. Der Tabubruch, Folter als politisches Mittel einzusetzen, lässt die  offenkundig vorsätzliche Täuschung durch den Berliner Innensenator fast zu einer kleinen Randnotiz verblassen.

Wenn dieser konstatiert, „Ein Zwei-Klassen-Recht lehne ich unverändert ab“, lässt sich diese Aussage dialektisch  lesen. Die beabsichtigte Lesart zielt darauf ab, den existenziellen und verzweifelten Kampf von Geflüchteten zu delegitimieren, die um nichts anderes als ihr nacktes Überleben kämpfen. Einzelne als „Asylerpresser“ zu brandmarken, die auf eigene Vorteile bedacht seien und gegen Andere, „hilfsbedürftige Opfer“, auszuspielen, in deren Rücken sie fallen würden. Es ist die Logik des Schreibtischtäters.

Auf der anderen Seite markiert die Äußerung die Manifestation eines rassistischen Zwei-Klassen-Rechts. Während die Einen als Bittsteller um grundlegende Rechte betteln sollen, nimmt sich die ach so zivilisatorische „Erste Welt“ das Recht auf Bewegungsfreiheit von Menschen und Waren und fordert, dass sich das bestehende Privilegien- und Ausbeutungsverhältnis konserviert. Und versucht, dieses mit Waffengewalt und sonstigen herrschaftssichernden Mitteln durchzusetzen. Es ist die rassistische und menschenverachtende Logik der kapitalistischen Produktionsweise.

Wenn Idji am Ende der Dokumentation „The fight of the refugees“ mahnt, „Wir können uns nicht hinter einer Regierung verstecken, die wir gewählt haben oder ablehnen, denn das ist, was in der Vergangenheit passiert ist. Erinnert euch daran. Wir sind verantwortlich für das, was passiert“, stellt sich die Frage, wo der vehemente Widerstand für eine andere, gerechtere Welt bleibt. Oder sind wir bereits so unmenschlich geworden, dass die Sichtbarwerdung der Barbarei uns nicht mehr stört und aufrüttelt?

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Danke für die Zeilen!

Die von Dir angesprochene "Sichtbarkeit der Barbarei" und das mitunter "Versagen im Handeln " unsererseits, zeigt uns einmal mehr die alltägliche Ohnmacht gegenüber eines durchstrukturierten,repressiven Staates in der wir alle unser Leben leben,aber kein Gespür mehr haben für kollektive ! Kämpfe....

Dort anzusetzen ist auch ein wichtiger und richtiger Schritt,um diese Lethargie zudurchbrechen.

Leider hat der Verfasser wieder einmal den Unterschied zwischen guter Öffentlichkeitsarbeit und Analyse vermischt. Begriffe, die mobilisieren sollen, wie "entscheiden bewaffnete und gewaltbereite Banden" und andere Textstellen gehören nicht in Analyse und umgekehrt. Was soll dann der Ursprungstext?  Die Leute auf Indy wollen hören, was Ihr wie machen wollt. Sie sind Euch allen wohlgesonnen und sympathisieren.

Wenn dann ständig Mord-Und-Totschlags-Dinger in analytischen Texten auftauchen, muss man sich nicht wundern, wenn die Soli und der Support sich in Grenzen halten. Wie bei den letzten versuchten Gegen-Aktionen in der Gürtelstrasse oder auf dem O-Platz.

Im Prinzip ist der Refugee-Zusammenhang bei den Widerstandsformen immer noch am Anfang. Die Repressionsorgane haben sich auf das Muster eingestellt und diese entfalten gar keine oder nur sehr wenig spektrenübergreifende Attraktivität. Kein Ansatz da, den Grundwiderspruch zwischen den kleinbürgerlichen Ansprüchen der "Refugees" und dem Refugee-Zusammenhang zu bearbeiten oder zu lösen. Oder habt ihr bei der O-Platz Räumung was anderes gesehen als ich? Dazu noch der hysterische/belehrende Ton, der ständig gesetzte Begriffe falsch gebraucht....

Macht doch mal grundsätzlich Inventur eurer Schwächen und Stärken. Vielleicht überrascht ihr dann den Staat und die Repressionsorgane!

Eins ist sicher: so bleibt nur Frust - bei allen Beteiligten.

Zeitaufwand, um die korrekte Übersetzung von "refugees" zu etablieren gegen Zeitaufwand, um im konkreten Fall dieser refugees den Menschenrechten manifest Geltung zu verschaffen, auf dem schnellsten und humansten irgendwie gangbaren Weg.

 

"Geflüchtet" im Sinne einer abgeschlossenen Flucht sind sie ohnehin nicht. Die fliehen noch, und nach dem was sie gesehen und durchgestanden haben, werden sie auch nicht einfach so aufhören. Sondern fliehen, bis sie einen Ort erreicht haben, wo sie sich niederlassen und in ganz elementaren Sinne Mensch sein können, und wieder ein Leben haben, das diese Bezeichung verdient.

 

Darum "Menschenrechte". Grundvoraussetzungen, ohne die kein Mensch ein vollumfängliches menschliches Leben leben kann. Keine Garantien für ein solches, aber notwendige Bedingungen. Die Umsetzung bleibt am Ende den individuellen Refugees, die einen träumen "kleinbürgerlich", die anderen revolutionär; das wissen sie selbst wohl am besten. Grundgebot und Grundmotiv kann gegenüber solchen Menschen aber zunächst mal nur ein elementar humanitäres sein.

 

Und wenn es nicht möglich ist, diesen Christen dort und ihrer Kirche das begreiflich zu machen - daß es um grundlegende Menschlichkeit geht -, haben nicht nur diese Christen als Christen fundamental versagt, sondern auch die, die es ihnen begreiflich machen wollten.

 


"Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." (Mt 25:40)

"An injury to one is an injury to all" (IWW)