Anarchie: zivil oder subversiv?

Ich will hier (aus Mangel an Alternativen) eine Diskussion provozieren, über den Begriff „ziviler Anarchismus“ und in Analogie „zivile Anarchisten“. Zivil hier im Sinne, des zivilisierten, also domestizierten Staatsbürgers.

 

Ich habe einerseits hier ein paar Gedanken festgehalten, sowie das Vorwort der kürzlich von Dark Matter Publications und 325 veröffentlichten Broschüre Anarchy: Civil or Subversive übersetzt.

 

 

Keine sozialen Anarchisten, zivile Anarchisten!

 

Einleitend eine Begriffserklärung. Unter Citoyennisme/Citoyennismus versteht man die Ideologie der Staatsbürger (Citoyens). Definition: 1. Der Glaube, dass Demokratie (Also auch Basis-/Direkte/Radikale,...) dem Kapitalismus entgegenstellt werden kann, 2. die Raffinierung[1] des Staates (oder einer souveränen Struktur), damit diese Politik umgesetzt wird, 3. das Volk, also die Staatsbürger als die aktive Basis der Politik.

 

Also jene (Staats-)Bürger, die etwas gegen korrupte Politiker haben, aber den Staat eigentlich ganz nice finden oder sich ihm zumindest bedienen. Man kann Phänomene wie die Occupy-Bewegung oder die Indignados darunter fassen. Aber genauso z.b Antifas (die sich freuen, wenn der Staat Naziorganisationen verbietet oder Nazis wegsperrt), (Radikal-)Feministinnen (wenn sie vom Souverän das Recht auf Abtreibung einfordern), oder Antira-Aktivisten (wenn sie vom Souverän das Recht auf Bewegungsfreiheit fordern).

 

Ich bin immer noch unsicher, ob es schlauer ist, das englische „civil“ mit „zivil oder mit „(staats-)bürgerlich zu übersetzen. Beides hat für mich Vor- und Nachteile. „Zivil weist auf ihre Domestiziertheit hin, macht aber das Gegensatzpaar zivil/militärisch auf. „Bürgerlich“ schafft die falsche Assoziation mit der Bourgeoisie, um die es hier nicht geht, würde aber darauf hinweisen, dass sich jene Anarchisten wie (Staats-)Bürger verhalten. Ich habe mich fürs erste, für zivil entschieden.

 

Ich will hier all jenen, die sich als „soziale Anarchisten“ bezeichnen, um sich abzugrenzen und andere zu denunzieren, die offen von Revolte, Aufstand und gelebter Anarchie sprechen, den Begriff der „zivilen Anarchisten“ entgegenhalten.

 

  1. Sie sind nicht sozial. Ihre Form der Assoziierung ist keine freie, sondern eine politische. Genauso wie ihr Kampf ein politischer ist. Sie sind Protopolitiker und Protoparteimitglieder. (man lese z.B. regelmäßig die Berichte der FdA). Sie sprechen die Sprache der Macht, im Moment, die der Demokratie, ihrer derzeitigen Verwalterin: (Menschen-)Rechte, Gerechtigkeit, Legitimität, Partizipation, Delegation, Konsens, Veto, Protest, Widerstand, ...

    Genauso wie ihre Mittel demokratische sind: Angemeldete Demonstrationen, (politische) Forderungen, Dialog mit der Macht (z.B. mit Parteien, Gewerkschaften oder Medien), Klagen, Petitionen, ziviler Ungehorsam, ...

    Sie sind Gesellschaftsvertra(e)g-lich und wollen dies auch sein. (Man lese die Broschüre „Anarchismus – Eine Einführung“ des A-Netzes). Sie verachten autonom handelnde Individuen, weil sie sie nicht kontrollieren können (meist ziemlich subtil, indem autonom handelnde Individuen z.B. als „verantwortungslos“ bezeichnet werden). Sie sind die Meister des Schäfchenhütens (man lese regelmäßig Gai Dao) und des Reißbrettspielens. Des großen Was-Wäre-Wenn und des Wenn-Wir-Mehr-Wären-Dann. Also des Schritt-für-Schritt, der politischen Berechnung.

  2. Sie sind zivil. Sie sind domestizierte Staatsbürger, können und wollen gar nicht mit dem Bestehenden brechen, geschweige denn es zerstören. Sie wollen es verbessern und/oder verändern (zeigt sich vor allem auch an ihrer Sprache, wenn sie von „abschaffen oder „überwinden labern). Das heißt nicht, dass sie anti-revolutionär wären. Revolution, heißt hier jedoch nur politische Revolution und nicht soziale. Egal wie oft „Für die soziale Revolution“ auf Plakaten, Stickern oder Transpis zu lesen ist, alleine aus politischem Pragmatismus, können sie sich nur eine politische/autoritäre Revolution vorstellen.

  3. Mit dem Ziel, das Elend der techno-industriellen Gesellschaft (samt ihrer total neutralen Produktionsmittel und Technologien), auf FdA-deusch: bedarfsorientiert und umweltverträglich, selbst zu verwalten.

     

  4. Sie verachten die Barbaren: die Ausgeschlossen und Ausgebeuteten. Die die Sprache der Macht gar nicht mehr begreifen. Jene Wilden, die keine politischen Subjekte sind und sein können, der Alptraum der Linken und der zivilen Anarchisten, die ihr Gesicht auf den Straßen Frankreichs, Englands und Schwedens gezeigt haben. Die, die sie nicht organisieren, also nicht kontrollieren können.

    Das einzige, was die zivilen Anarchisten können, wenn es zu generalisierten Brüchen mit dem Bestehenden kommt, ist zu mediieren und/oder danach zu analysieren, was da gerade passiert ist, aber eben nur in der Sprache und der Logik des Bestehenden (Gabriel Kuhn hörst du mich).

  5. Ihr Revier ist die Akademie (z.B. die Systempunktbande). Es ist für sie eine akademische Belustigung Krawalle, Aufruhr, Angriffe (Propaganda durch die Tat) oder Expropriationen zu analysieren und/oder zu kommentieren, aber bitte nur wenn sie nicht vor der eigenen Haustüre passieren (weil, dort unten haben sie eine andere Tradition), es lange vergangene Ereignisse sind (dann ist es Geschichte, an der man sich ergötzen kann), die Protagonisten tot sind (dann kann man sie zu Märtyrern stilisieren) oder sogar Amnesty International die Protagonisten als „politische Gefangene“ anerkannt hat.

 

Auch wenn ich als Individuum revoltiere, sind Aufstände etwas soziales, sind Unruhen etwas soziales, in denen ich mit anderen gemeinsam fighte. Mein Kampf ist ein antipolitischer, antisozial, im Sinne, dass er die bestehende Gesellschaft zerstören will und sozial im Sinne, dass dies nur in einem kollektiven Prozess und durch die Transformation der sozialen Beziehungen geht.

 

Lasst uns den zivilen Anarchisten, das Adjektiv „sozial“ entreißen! Lasst uns die anarchistischen Politiker und Bosse, im Dienste des sozialen Friedens, als solche benennen und als solche zu behandeln wissen!


 

[1] Durch eine sehr interessante Dynamik, z.B. auf der einen Seite, durch das Fordern nach mehr (Bürger-)Rechten, weniger (Polizei-)Gewalt (also gentle-policing), etc. Auf der anderen Seite das Fordern nach einer Verschärfung der Gesetzte, meist anhand eines PC-Moralismus: gegen Homophobie, Sexismus, Rassismus (raus aus den Institutionen, Frauenquote, ...). Das kann z.B. bedeuten, dass manche Linke schwarze, lesbische Polizistinnen gutheißen – zwecks Chancengleichheit – ohne zu sehen, dass das „Diversity Management“ den Staat ungemein stärkt.

 

 


 

 

Anarchie: zivil oder subversiv

 

Einleitung..

Im Frühling 2012 publizierte ich ein ein Pamphlet mit dem Titel „August 2011 Revolt: Anarchy in the UK“ [Broschüre, hier. Vorwort auf deutsch, hier ] über die jüngsten Krawalle.

 

In diesem Pamphlet schrieb ich über die fundamentale Kluft zwischen jenen, die wussten, dass der Moment unserer war und jenen, die ihn gruselig und schrecklich fanden oder zumindest problematisch. Ich schrieb darüber, dass ich meine nicht-poltischen Freunde aufbegehren und randalieren sah : All unser Hin und Her über „Anarchismus“ schien bedeutungslos, da ich weiß, dass meine Freunde die wirkliche Anarchie viel mehr lieben, als viele der politischen „Anarchisten“, die ich getroffen habe und die nicht den Anschein machen, als ob sie auch nur einen Tropfen des Geistes der Revolte und der Anarchie in sich haben. Für mich zeigte sich hier die gezähmte Belanglosigkeit der Aktivisten und ihres Politzirkusses. Es passierte wirklich, war menschlich und nicht durch Repräsentation und Politik verkrüppelt „

 

Ich fuhr fort: „Tatsächlich brachte der Augustaufstand zum Vorschein, dass die Mehrheit der britischen „Anarchisten“ und „Revolutionäre“ feige Staatsbürger sind, die, auch wenn sie gerne jammern und sich über die „Übel“ der Welt beklagen, im Grunde als passive Sklaven zufrieden sind. Momentan scheinen die meisten der britischen „Anarchisten“ einfach bitterfroh zu sein, hinter den Staatssozialisten und Liberalen herzulaufen, als das impotente „gute Gewissen“ und/oder als schwarzgekleidete und Kraftausdrücke benutzende Krawallmacher am Rand. Das ist erbärmlich. Sie sprechen die Sprache der Politik, davon, ein vernünftiges und programmatisches anarchistisches Projekt aufzubauen, und das Ergebnis ist ein Anarchismus, der weder Fisch noch Fleisch ist. Sowohl als politische Pragmatiker wie als anarchistische Aufrührer scheiternd, hinkt der zivile Anarchismus traurig hinterher.

 

Seit damals haben andere Anarcho-Insurrektionalisten im UK den Müll weiter kritisiert, den wir als „zivilen Anarchismus“ benannt haben, der wie gute (Staats-)Bürger spricht und den Weg des Gehorsams gegenüber dem Staat und den reaktionären Sitten der Gesellschaft geht.

 

Der Liberalismus und die Schwäche der außerparlamentarischen antikapitalistischen/antistaatlichen sozialen Bewegungen und politischen Tendenzen im UK und die der Individuen, die dieses Spektrum ausmachen, kann nicht untersucht werden, ohne sich hier den sozialen/Klassenkontext anzusehen. Während die aufständische Strömung im UK niemals verschwand, ist es klar, dass nach der bewaffneten und verschwörerischen Erhebung der „Ludditen“ im frühen 19ten Jahrhundert gegen die Industrialisierung, der Antagonismus der Ausgebeuteten durch eine Kombination aus staatlichem Terrorismus und rekuperativem Einfluss der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie gebändigt wurde.[1]

 

Die Legalisierung der Gewerkschaften, parallel zur Ausdehnung des Wahlrechts und der Inklusion der Arbeiterklasse in die Demokratie durch die Labour Party war ein wichtiger Faktor in der Domestizierung des Proletariats, das einst die Reichen und die Mittelklassegesellschaft terrorisiert hatte. Die Tatsache, dass der Umbruch von einem ländlichem Feudalismus und einem primitiveren Merkantilismus zum industriellen Kapitalismus ohne eine blutige Revolution, so wie in Frankreich, eingeführt wurde, bedeutet, dass die herrschende Klasse des UK und das Staatssystem eine Kontinuität und Stabilität haben, wie nur in wenigen anderen Teilen der Welt. Der ekelhafte klassenübergreifende Gesellschaftsvertrag, basierend auf dem Schutt eines imperialistischen Empire, vergiftet die Köpfe und Geister der Menschen im UK. Die widerlichen Herdeninstinkte des Gehorsams gegenüber dem Gesetz, Angst vor den „Antisozialen“ und den Unbeliebten, Hass auf die „Anderen“, institutionelle Mediation und sozialer Dialog zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückern sind tief verwurzelt in großen Teilen der Bevölkerung durch das demokratische/sozialdemokratische System und die Allmacht des Gesetzes, seiner Bullen, Gerichte und Gefängnisse. Wir finden uns jetzt in einer trostlosen und desolaten Landschaft des gesetzestreuen Citoyennismus, Geist verarmenden demokratischen Protesten, populistischer Demagogie, die die kleinen Egos der ausverkauften Massen beruhigt und feigem sozialen Kannibalismus.

 

Soviel zur alten Arbeiterklasse – jedoch sucht ein Alptraum den sozialen Frieden des Kapitals heim: die Unterklasse, ausgeschlossen von der Produktion, respektlos gegenüber dem Gesetz und hungrig nach dem unmöglichen Traum eines modernen konsumistischen Lebensstils. Die ghettoisierten Ausgeschlossenen sind eine große Minorität der Bevölkerung, mehrheitlich ohne Beteiligung an institutioneller Mediation oder einer Stimme in der demokratischen Arena, sind sie „der Feind im Inneren“, den der Staat fürchtet, während er ihn als Sündenbock gebraucht (Immigranten, Arbeitslose, Gesetzesbrecher, Drogenuser, etc.). Wie Alfredo Bonanno prognostizierte (Vom Krawall zum Aufstand, 1988), haben die Ausgeschlossenen die gemeinsame Sprache mit den Teilhabenden,die die Basis des alten Reformismus und des Gesellschaftsvertrags geformt hat, verloren.[2]

 

Das Fehlen von großer politischer Gewalt und revolutionärem Kampf und sporadischen und unorganisierten Aufständen (in Zeit und im Bewusstsein) bedeutet, dass während das UK eine sehr starke demokratisch soziale klassenübergreifende Tradition hat, es an einer konfliktreichen Tradition wie in anderen europäischen Ländern fehlt. Das ist die politische Landschaft des UK, in der die anarchistische-radikale Linke sicher situiert ist.

 

Das „zivil anarchistische“ Phänomen ist nicht auf die wokerist*-Szene von Internetforen und Pubzusammenkünften beschränkt, sondern inkludiert ebenfalls das schwammige Camp der Ökoaktivisten. Diese zwei Pole der offiziellen Bewegung sind auf der einen Seite um die formelle anarchistische Föderation (AFed-IFA), die Solidarity Federation (SolFed-IWA) und das Netzkollektiv Libcom verortet; auf der anderen Seite um Earth First!, respektive mit lokalen Gruppen und Szenen, die sich zwischen diesen nationalen Tendenzen bewegen.

 

Die Workerists sind nicht mehr als ein Anhängsel der Linksradikalen, ziemlich unsichtbar für eine weitere Bevölkerung, funktionell dienen sie dazu junge Leute (hauptsächlich von Punkrock und linker Politik), die an einer anti-staatlichen revolutionären Perspektive interessiert sind, in die Sackgasse des theoretischen Dogmatismus und den Lebensstil eines “normalen Arbeiters” (Pub, TV, Bier) zu ziehen, während sie die grobe “Arbeiterklassenorganisierung“ machen; vom Verteilen langweiliger Bulletins mit Information über Gewerkschaftsaktionen des öffentlichen Sektors und ökonomischen Statistiken, vielleicht gemeinsam mit zur Mieterversammlung gehen oder Gewerkschaftsvertreter werden oder ähnliches. Diese letzteren Aktionen mögen wertvolle Aktivitäten für Revolutionäre sein, wären sie Teil einer revolutionären Projektualität, basierend darauf wirklichen autonomen Widerstand zu schaffen, aber die Führung des linken Anarchismus des UK (ja, natürlich gibt es Führung von alten langweiligen Kerlen), die vorsichtig alle gefährlichen Elemente der anarcho-kommunistischen Praxis entfernt haben und es einfach genießen weiterhin in ihrem “Dungeons and Dragons”**-Stil Revolutionäre zu spielen. Folglich ihr Hass auf die ausgestorbene Tendenz Class War, welche - trotz ihrer Fehler – tatsächlich in Richtung eines revolutionären Konflikts orientiert war. Folglich die Tatsache, dass die zivil anarchistischen Anführer ihr bestes taten, dass keine der sozial aufständischen Theorien und Praktiken, die sich speziell in Spanien, Griechenland [und Italien A.Ü.] entwickelten, jemals die Ohren ihrer Mitglieder erreichten – die, wie die meisten englischen Leute, einen engen Insel-basierenden Blick haben und nur schlecht oder gar keine (wie ich persönlich) Fremdsprache beherrschen. Fälle wie der libertärkommunistische Genosse, der für die Polizei Crowd-Control erforscht und von den UK Anarcho-Workerists verteidigt wurde[3], bestätigen das Bild. Oder die “anarcho-kommunistische revolutionäre Organisation”, die an der Seite ihrer Schwesterngruppe in Osteuropa mit Nazis gegen einen Antifaschisten stand[4]. Oder die “Denunzierung” von revolutionären Attacken auf die Top Steuereintreiber, Bankiers und hohen Tiere der Nuklear-Industrie.[5]

 

Die Ökoaktivisten auf der anderen Seite, sind ein anderes Paar Schuhe, hervorgegangen aus der Anti-Roadsbewegung der 1990er und der Squatkultur. Sie sind zahlreicher und genießen größere soziale Unterstützung, spielen eine wichtigere Rolle in der britischen Politik durch meist wiederholende spektakuläre politische Stunts, die die Sprache und Symbolik des zivil-demokratischen Dissens nutzen, füttern sie das Bild der Debatte und der Partizipation. Dahinter [dem Dissens A.Ü.] versteckt der moderne Totalitarismus seine hässliche faschistische Fratze um seine Legitimität zu bewahren.

 

Tatsächlich ist die Essenz dessen, was ich als “zivilen Anarchismus” verstehe, was wir horizontalen Citoyennismus nennen könnten, der die Sprache der Demokratie spricht (Rechte, Gesetze, soziale Inklusion, Konsens, Protest). Die Zivilgesellschaft sind die NGOs der Demokratie und ein Schlüsselstück des Spektakels der Volkssouveränität. Abseits von der Erhaltung des demokratischen Bildes des Dialogs und erlaubten Dissens, ist die Zivilgesellschaft auch ein rekuperativer Mediator und nimmt mühelos Dienste für den Staat und die Wirtschaft auf, zügelt ein paar ihrer Exzesse, um ein Funktionieren des Systems zu erlauben. Viele anarchistische (oder eher libertäre) Aktivisten arbeiten für NGOs, Gewerkschaften und die parasitären Höhlen der Akademie. Dort gibt es eine direkte Feedbackschleife durch die Akademie, die Aktivisten und die soziale Bürokratie über die bizarren Sprachcodes und die Identitätspolitik der political correctness.

 

Schön, hier ist also ein bisschen Theorie oder ein paar Beobachtungen. Die Rekuperateure der Anarchie herauszufordern ist ein Vergnügen. Scheiß auf sie und ihr dummes Spiel.

Gefolgt von “Subversive Disassociation”, der unsere Kritik in groben Zügen skizziert, geht diese kleine Sammlung individual-anarchistischer Essays gegen den “zivilen Anarchismus” und für die totale Befreiung weiter mit drei Texten, publiziert 2011 in der 325 #9. Da gibt es eine anarcho-nihilistische Kritik des spektakulären und konformistischen “Anarchismus” und ihrem moralischen Elitismus, der sich durch ihre Reaktion auf die Krawalle, die das Land gerüttelt haben, demonstriert hat, gemeinsam mit mehr in die Tiefe gehenden Notizen über die antikapitalistische Bewegung im UK. Danach kommen ein paar Texte („Scandalous Thoughts“, „Violence“) über die Denunzierungen und den politischen Bullshit, der vom zivilen Anarchismus 2012 dem Knieschuss eines Nuklear-CEO folgte, durch die antizivilisatorische anarchistische Gruppe Olga Nucleus/FAI-IRF. Andere Essays breiten ein paar individualistische rebellische Gefühle, Gedanken, Positionen aus. Manche wurden zuvor publiziert in Dark Nights, 325 #10 („Disreputable Mavericks“, „Illegality“) und Wolfi Landstreichers My Own*** („Into the Abyss – Chaos“, „Fragment: The She-Wolf“). Andere sind brandneu. Themen, die untersucht werden sind, sich selbst treu bleiben anstatt der Herde zu folgen (sogar Freunden), mit Gewissheiten des Lebens brechen und aufbegehren gegen das System.

 

Am 30. Oktober, 2013, wurden die anarchistischen Kameraden Alfredo Cospito und Nicola Gai vor das Gericht in Genua gebracht, wo sie Stellungnahmen [I|II] verlesen haben, in denen sie die politische Verantwortung übernommen haben für die Schüsse auf den Ansaldo Nucleare CEO. Wir inkludieren diese Stellungnahmen im Anhang dieser Broschüre (Seite 57) um die Willensstärke und Courage dieser zwei Kameraden zu zeigen. Ihre Worte stehen als Beispiel anarchistischer Bestimmtheit und Kohärenz im Vergleich mit der befriedeten Scheinheiligkeit der Mehrheitsgesellschaft und seiner zahmen und zivilen Loyalopposition.

 

Lang lebe die Anarchie!!!

- Darko Matthers, DMP

 

1. Siehe “Outside and against the Trade Unions” von Wildcat (Treason Press) und “Die Industrielle Domestizierung” von Leopold Roc.

 

2. „Dadurch z.B., dass der Nutzen des schriftlichen Wortes maßgeblich verringert wird, dass Bücher und Zeitungen durch Bilder, Farbe und Musik ersetzt werden, könnten die Machtstrukturen von morgen eine Sprache erschaffen, die ausschließlich für die Ausgeschlossenen existiert.

Sie wiederum können andere, sogar kreative, Mittel der sprachlichen Reproduktion schaffen, aber immer mit dem eigenen Code, der von jeglichem Kontakt mit dem Code der Teilhabenden abgeschnitten ist. Vom Nichtverstehen zur Gleichgültigkeit und geistiger Abkapselung ist es nur ein kleiner Schritt.

Der Reformismus ist zum Tode verdammt. Forderungen zu stellen, wird nicht länger möglich sein, denn niemand wird wissen, was er/sie von einer Welt einfordern soll, die für uns von keinem Belang mehr ist und die uns nichts verständliches mehr vermitteln kann.“ Vom Krawall zum Aufstand. Alfredo Bonanno

 

3. Für mehr Infos über den sogenannten „Aufhebengate“ und die Libcops checkt: http://dialectical-delinquents.com/?page_id=9

 

4. Siehe das Statement der “Anarchist Solidarity” (http://anarchistsolidarity.wordpress.com/2011/06/26/which-side-are-you-on/) über die feige Antwort der UK AFed: ihre bulgarische Schwestergruppe, auf-dem-Papier-Organisation “Die Internationale anarchistische Föderationen”, die kumpelhaft mit Neo-Nazis ist und den anarchistischen Gefährten Jock Palfreeman, eingesperrt von diesem Land weil er einen ihrer Kumpel gemessert hat, verachtet. Wenn du einen guten Magen hast, wirf einen Blick auf die Reaktion der hohen Tiere der AFed UK zur “Anarchist Solidarity”-Stellungnahme (libcom.org/forums/anarchist-federation/maybe-af-shouldreply-27062011 [leider scheint der Link defekt]) unehrliche Gesichts wahrende Doppelzüngigkeit gleich jedem bezahlten Politiker.

 

5. Siehe AFed-Stellungnahme [libcom.org/library/anarchist-federationstatement- kneecapping-nuclear-executive-informal-anarchistfederation]. Vergleiche dies mit dem FAI-IRF Kommuniqué für die Schüsse auf den Nuklear-CEO – auf Englisch (325.nostate.net/?p=5278) oder die Stellungnahme zur Verantwortung der Gefährten Alfredo Cospito und Nicola Gai nach dem sie nach ihrer Aktion geschnappt wurden [diese Stellungnahme wurde von ihnen erst bei Gerichtsprozess, nachdem sie bereits ein Jahr inhaftiert waren, verlesen, A.Ü.] (siehe Anhang, Seite 57).

 

* Ich verwende hier „Workerist“ wie im Original, aus Mangel einer treffenden Übersetzung.

 

** “Dungeons and Dragons” ist ein Pen-and-Paper Rollenspiel.

 

*** My Own: Ein anarchistisches, individualistisches, egoistisches Blättchen, das es leider nicht online gibt, kann unter littleblackcart.com bezogen werden.

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"Sie verachten autonom handelnde Individuen, weil sie sie nicht kontrollieren können (meist ziemlich subtil, indem autonom handelnde Individuen z.B. als „verantwortungslos“ bezeichnet werden)."

 

Quellen?? (auch für andere Parts wären Quellen ganz interessant)

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Auch wenn so mancher der Kritikpunkte wohl durchaus ins Schwarze trifft - das große Problem insurrektionistischer Theorie bleibt die Verklärung der Revolte als Moment der Systemüberwindung und die Ausblendung der Verinnerlichung kapitalistisch-bürgerlicher Kategorien auch durch "Rioters" wie in den Englischen oder Schwedischen Vorstädten. Diese Revolten bleiben ein kurzes Aufflammen an Gewalt, während dessen die erfahrene Gewalt willkürlich nach aussen abgelassen wird und im Moment der Enthemmung wird das kapitalistische Subjekt eben nicht durch einen magischen Moment urplötzlich revolutionär - dafür bedürfte es nämlich eines zumindest rudimentären Verständnisses der totalität der kapitalistischen Gesellschaft jenseits von Herrschern und Beherrschten - sondern es beginnt die verinnerlichten Gewaltkategorien an seiner Umwelt zu exerzieren.

 

Das Bild der Anarchie als gewalttätiges Chaos, in dem geplündert, gemordet und vergewaltigt wird ist eben kein reines diffamierendes Zerrbild, sondern eben genau das was passiert, wenn Menschen, die kapitalistische Kategorien verinnerlicht haben, plötzlich nicht mehr der bürgerlichen Menschenverwaltung unterworfen sind. In den Londoner Vorstädten schien keine Vorahnung einer befreiten Gesellschaft auf, die Menschen holten sich viel mehr mit Gewalt ihre gesellschaftliche Partizipation: sie plünderten die Geschäfte und holten sich vornehmlich Statussymbole wie teure Elektronik oder Markenklamotten. In diesem Sinne wäre das, was aktuell der ständigen Revolte, die Insurrektionisten anstreben, am nächsten kommt, wohl der beständige Krieg von untereinander konkurrierenden Rackets wie man ihn in Syrien oder Somalia beobachten kann.

die frage wäre erst einmal, ob es überhaupt so etwas wie eine insurrektionistische theorie gibt. Bis jetzt hat sicherlich keine der zahlreichen revolten eine systemüberwindung einleiten können, aber das es ohne gewaltsame auseinandersetzungen ablaufen wird, ist doch sehr unwahrscheinlich. die geschichte zeigt doch recht gut wie schnell die bürgerliche gesellschaft und der staat ihre klauen ausfahren, wenn es mal ernst wird.

es liegt wohl an leuten wie dir und anderen, dass die anstehenden revolten eben nicht nur ein kurzes aufflammen von gewalt bleiben, sondern ein ausdruck kritischer theorie und deren praktischer umsetzung werden.

in einem aufstand kann sich ein fenster öffnen, welches dieser dialektik zuträglich sein kann.

man kann in einer plünderung auch die rudimentäre infragestellung der ware  oder die zerstörung einer architektur erkennen, welche der reklame und der polizeilichen konditionierung dient. die radikalisierung ist in england und schweden vielleicht ausgeblieben, weil es an gruppen fehlt, die das aufständische verhalten verstehen und es bewusst machen und kritisch zu spitzen können.... Deine gleichsetzung ist  unangebracht, denke ich und irgendwie passt der racketbegriff nicht so recht auf die dortigen verhältnisse.

.. zu denken, Einfluss und gesellschaftliche Relevanz der anarchistischen Polit-Subkultur seien inzwischen gross genug, um mal wieder eine richtig schöne Spaltungsdebatte führen zu müssen. Ich glaube kaum, dass sich meine anarchistischen Genoss_innen selbst auf eine dieser zwei black/white Kategorien festlegen würden.

is das nachgewiesen mit dem loot? also das wirklich bevorzugt teures geplündert wurde? oder macht das den größten schadensanteil aus? ich habs auch in der bürgerlichen presse gelesen, aber ich hab gehört dass die nich immer unbedingt objektiv berichten bei allem was auch nur ansatzweise revolutionär riecht ;)

Vorab zu den Übersetzungsschwierigkeiten, ich hätte "Civil" stehen gelasen, da wird am ehesten klar, was gemeint ist.

Aber Hi erstmal.

Dazu danke für den ideologischen Lesestoff.

 

Wenn ich den Text jezt so lese (2x gelesen, Stichpunkte gemacht), fallen mir ein paar Sachen auf.

Hauptsächlich kritisiert der Text ja "ideologische Anarchisten" (sog. "Zivilen Anarchisten"/ selbsternannte "Soziale Anarchisten"), welche in Ihrer Denkweise zu sehr in den "kapitalistischen Strukturen" festgefahren sind und denen es im Vergleich zu den Riot-Kids von den Londoner "lootern" an Mut zur Aktion fehlt(e).

 

Dazu hab ich direkt eine Meinung.

Erstens ist jezt die Frage, wie genau die Riots entstanden. War da der Unmut über soziale Strukturen im allgemeinen der Auslöser und Zerstörung die Folge als Zeichen des Protests?

Oder war es eher so wie in den Medien dargestellt (inkl. Bilder v. Kameras), dass die "nicht ideologischen" Kids in Banden ihren Unmut abgelassen haben um sich selbstgerecht das zu nehmen was sie sich nicht leisten können?

In dem Fall wäre ich persöhnlich auch eher abgeschreckt gewesen an den Riots teilzunehmen, da es keine Verbesserung für irgendwen mit sich bringt, wenn man sich dann einfach die Kinderarbeit-Billig-Produziert Markenshirts einfach unter den Nagel reißt.

 

Und was diese alten Klassenkämpfer mit ihren großen Gewerkschaften angeht, so kann ich nur sagen, dass die nix groß am System ändern ist ja wohl klar.

Kleine Anarchistische Gewerkschaften als Vernetzungs, Austausch und Organisationsgruppen zu nutzen, die eh keinen Tarifkampf führen, kommt mir trotzdem nicht falsch vor.

 

Und was ideologische Attentate angeht, darüber kann Mensch mMn Nachdenken, wenn man im Untergrund ist, und schon verfolgt wird und entweder erschossen oder weggesperrt wird.

Allerdings sehe ich in dieser RAF-mäßigen Millitanz eher eine (noch?) kontraproduktive Methode einen Kampf in einem Ausmaß heraufzubeshwören, der dafür sorgt, dass der große STAAT einer kleineren Gruppe Anarchisten ganz schnell eine runterhaut.

 

Auch wird der Gesellschaftsvertrag / die Loyalität gegenüber dem Staat angesprochen.

Wer sowass nach dem Motto von Hobbes oder ähnlichen Staatstheoretikern als wichtig ansieht, hat kein Recht sich als Anarchisten zu bezeichnen.

 

Ich persöhnlich finden am besten die Ausführungen Hannah Arendts in der "Vita Actia", wo singemäß festgestellt wird, das wir alle in jedem Bereich unseres Lebens in bestehende Verhältnisse hineingeboren werden, jedoch von Grund an, jeder von und das Recht hat, diese zu verändern.

 

Mit den Texten wird mMn jedoch nicht eine radikalisierung im Sinne der Loslösung von Staatsdenken erreicht, eher wird im Vergleich mit sih bildenden Utopischen Anarchos der wilde Sturm dessen gefeiert, was Karl Marx seinerzeit als "Lumpenproletariat" bezeichnete.

Generell denke ich, das der Weg der Anarchisten der zivile Ungehorsam & die Sabotage zu präsenten & akuten Themen sein sollte (Von Bank bis Weihnachtskonsumfest).

Wenn wir wieder zu den Waffen greifen, ohne dass wir vorher am Rande unseres Lebens stehen, sit das nicht sehr glaubwürdig.

Und auch wenn das auf die Riot-Kids von London zutrifft, ohne Idee, kein Umsturz.

Und Konsensgemeinschaft ("Basisdemokratie") ist nich konterrevolutionär! Das einzige was nicht hilft, ist Leute die sich Gedanken machen & doch irgendwie für Abstimmungen sind (da nur der kategorische Imperativ nicht funktioniert, zumindest nicht ohne Kommunikation) als Personen zu bezeichnen, die dem System verfallen sind & nix ändern.

 

 

Das soll alles nicht nur Kritik an den Texten sein, allerdings hielt ich es für Notwendig soviel nochmal in eigenen Worten zu schreiben, da das so auch wesentlich anders verstanden werden kann...