Auffällig viele fragwürdige Spuren: Haben sich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tatsächlich umgebracht? Warum stellt sich Beate Zschäpe nach dem Tod ihrer Neonazikumpanen den Behörden statt sich abzusetzen?
Von Wolf Wetzel
Wenn Hunderte von Akten im Zusammenhang mit dem NSU verschwinden, d.h.
vernichtet werden, wenn »heißen Spuren«, die es über dreizehn Jahre gab,
in keinem einzigen Fall nachgegangen wurde, wenn Behörden die Existenz
von V-Leuten verschweigen, die Kontakt zu den abgetauchten Mitgliedern
des »Thüringer Heimatschutzes« hatten, wenn bei allen neun Morden an
Menschen mit türkischer und griechischer Abstammung ein rassistischer
Hintergrund ausgeschlossen wurde, wenn all dies auf allen behördlichen
Ebenen, in allen darin verwickelten Verfolgungsbehörden geschieht, dann
darf man hinter diesen Unzulänglichkeiten, hinter dem »menschlichen
Versagen« einzelner, ein System vermuten – zumindest sollte man dies –
wie in jedem anderen Fall – nicht ausschließen.
Wenn dies aufgrund evidenter, erdrückender Fakten nicht auszuschließen
ist, dann muß man auch den schlimmsten Fall für möglich halten bzw. darf
ihn nicht von vornherein ausblenden. Dann stellt sich die Frage, ob die
zwei Mitglieder des NSU, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, am 4. November
2011, in ihrem Campingwagen tatsächlich Selbstmord begangen haben? Dann
muß man auch die offizielle Version, Beate Zschäpe habe sich nach vier
Tagen Flucht »freiwillig gestellt«, in Zweifel ziehen.
Gibt es gute Gründe, warum zwar das Vertrauen in die Geheimdienste
schwer erschüttert ist, aber gleichzeitig alle Erschütterten an der
Selbstmordthese keinen einzigen Zweifel äußern? Die Selbstmordthese ist
so evident wie die Behauptung, die NSU-Mitglieder seien spurlos
verschwunden. »Hat der Neonazi Mundlos wirklich seinen Kumpel und dann
sich selbst erschossen? Was, wenn alles ganz anders war?« Dieses kurze
Aufblitzen journalistischer Sorgfaltspflicht tauchte in der Frankfurter
Rundschau nicht auf den vorderen Politikseiten auf, sondern als letzter
Satz, auf Seite 40, gut verpackt in einem Artikel über einen
Krimiautoren (FR vom 30.12.2011). Bekanntlich darf man in Feuilletons
vieles sagen, was man im Politik- und Wirtschaftsteil derselben Zeitung
nicht darf.
Der Tod der beiden NSU-Mitglieder in Eisenach im November 2011 wird
unisono als Selbstmord »kommuniziert«. Diese Version wird in allen
Medien vertreten, obwohl dieselben Medien einräumen, daß sie sich
jahrelang an der Nase herumführen ließen, daß sie jahrelang die Körner
aufgepickt hatten, die ihnen die Ermittlungsbehörden vor die Füße
warfen, daß sie als Medien mitgeholfen haben, falsche Fährten
festzutreten. Allein die Tatsache, daß es für diesen Tathergang am 4.
November 2011 zwei gravierend voneinander abweichende Versionen gibt,
müßte stutzig machen.
Die erste Version entstand kurz nach Böhnhardts und Mundlos’
Banküberfall vom 4. November 2011 in Eisenach und wird von der Thüringer
Allgemeinen, die sich dabei auch auf Polizeiangaben stützte, so
beschrieben: Die Bankräuber benutzten bei ihrem Banküberfall einen
Caravan, dessen Spur Stunden später zu den NSU-Mitgliedern führte. Die
Beamten näherten sich dem verdächtigen Caravan. Dann hörten sie »aus dem
Innenraum zwei Knallgeräusche«. Kurz darauf brannte der Caravan
lichterloh, und dann war alles vorbei.
Die zweite Version ist über zwei Monate jünger, ganz frisch und stammt
von Polizeidirektor Michael Menzel, Leiter der SOKO in Thüringen, der
ebenfalls mit seinen Beamten am selben Tatort war: Dieses Mal benutzten
die Täter Fahrräder für ihren Banküberfall. Dieses Mal wurden diese ihr
Verhängnis. Als die Beamten auf den Caravan stießen, wurden sie mit
MPi-Salven empfangen: »Wir wußten, daß sie scharfe Waffen hatten. Sie
haben sofort auf uns geschossen«, sagt Menzel (Bild.de vom 26.11.2011).
Dann soll die MPi geklemmt haben, worauf die Schützen sich selbst
umbrachten.
Beide Versionen werden von Polizeibeamten erzählt. Welche Polizisten
sind echt, welche Version ist echt? Aufgrund des Umstandes, daß beide
Versionen in entscheidenden Punkten signifikant voneinander abweichen,
sind nuancierte Wahrnehmungsunterschiede auszuschließen. Liegt zwischen
der ersten und zweiten Version kein gestörtes Erinnerungsvermögen,
sondern eine neue Aktenlage, die mit einem neuen Tathergang in Einklang
gebracht werden sollte?
Inszenierter Selbstmord?
Abgesehen von den deutlich voneinander abweichenden Tathergängen wird
als Motiv der schwer bewaffneten Neonazis ihre »aussichtslose Lage«
angeführt. Was war daran aussichtslos? Wenn irgend jemand über 13 Jahre
hinweg im »Untergrund« sicher war, dann war es der
»Nationalsozialistische Untergrund«! Was war an dieser staatlich
lizenzierten Erfolgsstory aussichtslos? Warum sollten oder konnten die
Neonazis nicht auch dieses Mal auf Hilfe »von oben« setzen? Warum sollte
eine klemmende Schußwaffe der Grund sein, sich selbst zu erschießen,
anstatt die anderen Waffen zu benutzen, von denen sich zahlreiche im
Campingwagen befanden?
Und wenn die Lage am 4. November 2011 für Böhnhardt und Mundlos
ausnahmsweise aussichtslos war: Warum bringen sich Neonazis um,
verbrennen gleichzeitig sich und den Campingwagen? Wer hat Beate Zschäpe
informiert, die wenig später auch ihre gemeinsame Wohnung in Brand
setzte? Welchen Grund sollte sie gehabt haben, sich den Behörden zu
stellen, wo sie vier Tage Zeit hatte, sich in Sicherheit zu bringen?
Das In-Brand-Setzen des Wohnmobils, das Abbrennen des Basislagers/Hauses
in Zwickau macht nur Sinn, wenn jemand nicht an den Tod denkt, sondern
an die Zeit danach. An Spuren, die über die Toten hinausweisen könnten.
Menschen, die sich in aussichtsloser Lage umbringen, kümmern sich nicht
um verräterische Spuren. Um die Beseitigung belastender Spuren sorgen
sich in aller Regel Lebende!
Der Brand des Hauses in Zwickau, das In-Brand-Stecken des Wohnwagens, in
dem sie sich umgebracht haben sollen, läßt andere Motive viel
plausibler erscheinen. Wurde hier etwa ein Selbstmord inszeniert, der
vor allem der Beseitigung von Spuren diente, an die Aussichtslose keine
Sekunde denken würden? Warum wird nicht der Möglichkeit nachgegangen,
daß sich die beiden NSU-Mitglieder nicht freiwillig das Leben nahmen?
Gibt es einen Grund, einen anderen Verlauf der tödlichen Ereignisse für
möglich zu halten?
Niemand bestreitet, daß der Mordanschlag auf zwei Polizisten, die in
ihrem Streifenwagen in Heilbronn 2006 ermordet bzw. schwer verletzt
wurden, aus der rassistischen Mordserie heraussticht. Dementsprechend
wild und verwirrend sind die Indizien, die diesen Mordanschlag erklären
sollen. Hatten die beiden Polizisten etwas mit Ku-Klux-Klan-Verbindungen
zu tun? War es eine private Abrechnung? In den Vordergrund wurde immer
wieder die dümmste aller Mutmaßungen geschoben: Der Mordanschlag hätte
dazu gedient, an die Dienstwaffen der Beamten zu kommen. Wenn man weiß,
daß der NSU mehr als genug Waffen hatte, dann darf man diese gestreute
Mutmaßung ganz als gezielte Desinformation werten. Es wird also viel
spekuliert, es werden viele falsche Spuren gelegt, so viele, daß man am
Ende den Überblick verliert und vor lauter Schwindel aufgibt. Daran
haben sicherlich viele Interesse.
Konflikt zwischen Polizei und VS?
Lassen wir die Motive einmal beiseite und gehen davon aus, daß die NSU-Mitglieder nie wirklich im Untergrund waren, sondern sowohl von Polizei als auch von den Geheimdiensten »begleitet« wurden – mit all den unterschiedlichen Gründen, sie zu schützen bzw. mögliche Festnahmen zu unterbinden. Spätestens mit dem Mord auf der Polizistin Michèle Kiesewetter 2006 und der schweren Verletzung ihres Kollegen war diese Allianz aus Verschweigen und Stillhalten, aus Kooperation und Konkurrenz unterschiedlicher Dienststellen vorbei. Spätestens mit dem Mordanschlag auf zwei Beamte dürfte der Burgfrieden zwischen Polizei- und Geheimdienststellen zerbrochen sein. Denn wenn Polizeikollegen »geopfert‹« werden, weil die Kollegen vom Verfassungsschutz »höhere« Interessen geltend machen, hört der Spaß bzw. die Duldsamkeit in höheren Polizeidienststellen auf. Spätestens dann fängt der ansonsten eingehaltene Dienstweg, die Hierarchie der Dienstanweisungen, an, holperig zu werden.
Gehen wir also von einem jetzt offen zutage getretenen Konflikt zwischen
Innenministerien, Verfassungsschutzämtern und Polizeidienststellen
aus, dann finden sich auch Antworten auf Fragen, die tunlichst nicht
gestellt werden: Warum endete mit dem Mordanschlag auf die Polizisten
die rassistische Mordserie des NSU? Warum hielten die Mitglieder des NSU
über vier Jahre die Füße still? War es nicht im höchsten Interesse
derer, die den Kontakt zum NSU nie verloren hatten, daß dieser nie mehr
in Erscheinung tritt, daß unter allen Umständen verhindert werden mußte,
daß die Existenz eines »Nationalsozialistischen Untergrundes«
öffentlich wird? Hatten die Mitglieder des NSU mit dem Banküberfall in
Eisenach am 4. November 2011 eine »imaginäre« Grenze überschritten?
Wer diese Fragen für begründet hält, wer die bislang veröffentlichten
Fakten auf verschiedene Annahmen verteilt, wird viele Fakten auch
folgendem Tatablauf zuordnen können: Mit dem Mord an der Polizistin
Michèle Kiesewetter 2006 wuchs der Ermittlungsdruck gewaltig. Die damit
befaßten Polizeidienststellen waren bereit, jetzt alles zu unternehmen,
um den Mordanschlag aufzuklären, und die Verfassungsschutzämter mußten
befürchten, daß die Ermittlungen nicht nur zum NSU, sondern auch zu
ihnen selbst führen könnten. Um genau dies zu verhindern, mußte dem NSU
signalisiert werden, daß er verschwinden muß, daß nichts mehr passieren
darf, was auf seine verleugnete Existenz verweisen könnte. Um diese
»Botschaft« zu transportieren, bediente man sich der zahlreichen V-Leute
im Umfeld des NSU. Tatsache ist, daß das Bekennervideo, das die
Mordserie in Verbindung mit dem NSU bringen sollte, nicht verbreitet
wurde. Tatsache ist auch, daß es zu keinen weiteren rassistischen
Mordanschlägen kam. Sogar die Banküberfälle wurden eingestellt. Anstatt
sich jedoch ins Ausland abzusetzen, trafen sie 2011 den Entschluß, eine
weitere Bank zu überfallen. Damit überschritten sie im wahrsten Sinne
des Wortes die »Deadline«.
Zschäpe vier Tage allein?
Wenn man diesen Tatverlauf ebenfalls für möglich hält, dann dürfte die
Nachricht vom Tod der beiden »Kameraden« für Beate Zschäpe ein Schock
gewesen sein. Sie mußte um ihr Leben fürchten. Um zu verhindern, daß ihr
Ähnliches geschieht, tat sie etwas scheinbar Irrsinniges. Sie packte
die NSU-Videos ein und verschickte sie an Adressen, wo sie sicher sein
konnte, daß damit die Existenz des NSU nicht mehr zu leugnen war. Was
auf den ersten Blick wie eine Selbstanzeige wirkt, war für sie in ihrer
Situation eine Art Lebensversicherung.
Der Berliner Kurier vom 29. Mai 2012 rekonstruiert die Ereignisse, kurz
nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wie folgt: »Etwas mehr
als [eine?] Stunde, nachdem sie ihre Wohnung in der Frühlingsstraße 26
in die Luft jagte, versuchte jemand, Zschäpe anzurufen. Das Pikante: Die
anrufende Nummer ist im Sächsischen Staatsministerium des Inneren
registriert. Wer aus der Behörde in Dresden wollte Zschäpe sprechen –
und vor allem warum?« Das sächsische Innenministerium reagierte auf
diese Indiskretion hektisch: Man habe nach dem Brand nach der Person
gesucht, die die Wohnung angemeldet habe, um die Wohnungseigentümerin
über die Ereignisse zu informieren. Es hätte sich bei den Anrufen also
um ganz normale Ermittlungstätigkeiten von Polizeidienststellen
gehandelt, die mit der Brandaufklärung zu tun hatten. Warum waren dann
aber die Diensthandys nicht mehr erreichbar, nachdem die Handynummern in
die Öffentlichkeit gelangten und Journalisten versuchten, diese Version
zu überprüfen? Woher hatte die Polizeidienststelle die Handynummer von
Beate Zschäpe, die mit Sicherheit ein Handy benutzt hatte, das weder auf
ihren Namen noch auf den Namen der Wohnungsanmieterin registriert war?
Fakt ist jedenfalls, daß auch V-Leute von den jeweiligen Dienststellen
Handys bekommen, um sie so auch an der elektronischen Leine führen zu
können.
Doch es gibt noch einen anderen Beleg dafür, daß die Verfolgungsbehörden
auf dem laufenden blieben, was Beate Zschäpes Flucht anbelangt. Am 4.
November 2011, kurz nach dem In-Brand-Setzen der Wohnung in Zwickau,
wurde sie nicht nur von einer »Polizeidienststelle« angerufen. Sie hatte
auch telefonischen Kontakt mit André E. Um 15.29 Uhr sprachen sie eine
Minute und 27 Sekunden miteinander, dann tippte André E. eine SMS an
seine Frau Susann. André E. zählt zu den führenden Neonazikadern, eine
Schlüsselfigur in der sächsischen Neonaziszene. Er ist Mitbegründer der
»Weißen Bruderschaft Erzgebirge«. Seine Ehefrau Susann E. stand ihrem
Mann an neonazistischer Tatkraft in nichts nach. André E. war der
Polizei und den Verfassungsschutzbehörden seit langem bekannt.
Aus einem Schreiben des sächsischen Verfassungsschutzes geht hervor, daß
die Behörde im März 2003 ein »Informationsgespräch« mit André E.
geführt habe, was nur mühsam umschreibt, daß er als V-Mann angeworben
werden sollte. Angeblich habe er abgelehnt, da er keinen Kontakt mehr zu
neonazistischen Szene habe. Das wußten die Anwerber besser: Noch im
November 2006 gingen Verfassungsschutzämter davon aus, daß er eine
»herausgehobene Position« (Spiegel online vom 10.12.2012) innehabe.
Stand der Ermittlungen ist, daß das Ehepaar E. dem NSU sowohl im
Untergrund als auch bei Anschlägen geholfen hat. So besorgte André E. im
Mai 2009 für Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe Bahncards, welche auf
seinen und den Namen seiner Frau ausgestellt waren. Jenseits der Frage,
ob die fehlgeschlagene Anwerbung des Neonazis André E. eine Legende ist,
kann man festhalten, daß ihre Überwachung direkt zu den Mitgliedern des
NSU geführt hatte/hätte. Wie eng, wie vertrauensvoll der Kontakt
zwischen den NSU-Mitgliedern und André E. war, beweist auch das
Telefonat, das Beate Zschäpe kurz nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt
geführt hat.
Auf welche Weise also die Verfolgungsbehörden über André E. an den NSU
angeschlossen waren, könnte zweifelsfrei die Auswertung des Handys
ergeben, das bei seiner Festnahme am 24. November 2011 beschlagnahmt
worden ist. Das Handy wurde zur Auswertung ans BKA geschickt. Obwohl der
interne Speicher gelöscht war, konnte das BKA die gelöschten Datensätze
wiederherstellen. Doch nun passierte das, was schon in vielen Fällen
zuvor der Fall war: Die Rekonstruktion weist auffällige Lücken auf, die
man technisch am allerwenigsten erklären kann: »So tauchen etwa
Telefonverbindungen erst ab dem Datum 8. November 2011 wieder auf; bei
den SMS reicht die Lücke vom 6. November bis zum 14. November 2011« (FR
vom 28.1.2013).
Handydaten gelöscht
Um ganz sicher zu gehen, daß nichts gefunden wird, was nicht gefunden
werden soll, wies das BKA die zuständige Bundespolizeidienststelle an,
die Sicherungskopie zu löschen. Kein Versehen, sondern eine Anweisung,
gegen die üblichen Dienstvorschriften zu verstoßen: »Diese Anweisung
habe der üblichen Vorgehensweisen widersprochen, wie der
Bundespolizeidirektor Heinz-Dieter Meier in seiner Vernehmung (…) sagte
(…): ›Wenn Handys ausgewertet werden, sieht das Standardverfahren vor,
daß die Daten archiviert werden‹, sagte Meier laut Aussageprotokoll vom
23. Februar 2012« (ebd.). Für den Vorsatz der Verschleierung statt
Aufklärung hat der Bundespolizeidirektor eine professionelle Erklärung:
»Er deutete an, daß das BKA mit seinem Vorgehen möglicherweise einen
Informanten decken wollte, auf den E.’s Handydaten hinweisen könnten«
(ebd.).
Markant an den Lücken ist, daß sie einen ganz wichtigen Zeitraum
umfassen: Von Beate Zschäpes Flucht bis zu dem Tag, als sie sich den
Behörden gestellt hatte! Warum soll unter allen Umständen alles
vernichtet werden, was die Zeit zwischen dem 4. und 8. November 2011
aufhellen könnte? Geht man also von der offiziellen Version aus, die
Verfolgungsbehörden hätten keinen Kontakt zu den NSU-Mitgliedern gehabt,
dann sind vier Tage sehr viel Zeit, um abzutauchen. Warum hat Beate
Zschäpe diese Zeit nicht dazu genutzt? Warum hat sie die zahlreichen
Verbindungen ins Ausland nicht verwendet, um sich abzusetzen? Warum
fühlte sich Beate Zschäpe ab dem 4. November 2011 nicht mehr sicher, wo
sie doch die Erfahrung gemacht hatte, daß man in Deutschland selbst nach
neun rassistisch motivierten Morden »sicher« in Zwickau wohnen konnte?
Zweifellos könnten die Telefondaten, die Verbindungsdaten von André E.
eine Antwort darauf geben. Würden sie belegen, daß die
Verfolgungsbehörden keine Spur zu Beate Zschäpe hatten, wären sie heute
noch existent. Daß sie gelöscht wurden, daß man die Sicherungskopie
ebenfalls beseitigte, berechtigt zu der Annahme, daß alles stimmt – nur
nicht die offizielle Version.
Die Vernichtung der Handydaten, die Anweisung des BKA, auch die
Sicherungskopie verschwinden zu lassen, kann man als gründliche Arbeit
verstehen – fast. Wenn es welchen Aufklärern auch immer wirklich um
Aufklärung und nicht um koordinierte Vertuschung ginge, wäre dieser Fall
von Vernichtung von Beweismitteln nicht das Ende gewesen: Denn die
Verbindungsdaten werden nicht nur auf dem Handy gespeichert, sondern
auch beim Provider! Wenn es wirklich um Aufklärung ginge, wäre der
nächste Schritt ein ganz einfacher gewesen: Man hätte alle notwendigen
Daten beim Provider abrufen können: Im September 2011 löste die Berliner
Zeitung einigen Wirbel aus, nachdem sie veröffentlicht hatte, daß
»große Anbieter wie T-Mobile, Vodafone und E-Plus (…) mindestens einen,
maximal sechs Monate lang (speichern), welcher Mobilfunkkunde wann aus
welcher Funkzelle wie lange mit wem telefoniert hat« (6.9.2011).
Was Datenschützer als klaren Verstoß kritisierten, verstanden alle
Anbieter als »eine seit langem gängige Praxis«, an der sie auch nichts
ändern wollten. Es gab also noch genug Zeit, an die Verbindungsdaten zu
kommen! Warum wurde dieser Schritt nicht unternommen? Warum beteiligen
sich auch »Aufklärer« an der Vertuschung? Wurde Beate Zschäpe über
André E. signalisiert, daß sie keine Chance habe zu fliehen? Welche
Kontakte zur Polizei, zu Verfassungsschutzbehörden hatte André E., um
einen Deal einzufädeln? Wer von höchster Stelle die Beseitigung von
Beweismitteln anordnet, die auf diese Fragen Auskunft geben könnten,
räumt diese Möglichkeit nicht aus, sondern läßt sie als wahrscheinlich
erscheinen. Für Beate Zschäpe ging es darum, ihr Leben zu retten, für
die involvierten Verfassungsschutzämter ging es darum, mit ihr einen
Deal zu machen, der ihre »Gewährungsleistungen« bzw. »Führungsrolle«
vertuscht. Nachdem dieser Deal unter Dach und Fach war, stellte sich
Beate Zschäpe »freiwillig«.
Daß dieser oder ein anderer Ablauf der Ereignisse – noch – nicht
bewiesen werden kann, liegt nicht an den Kritikern, sondern an jenen,
die seit 2011 vor allem mit einem beschäftigt sind: mit der Vernichtung
von Beweisen, die der offiziellen Version den Boden unter den Füßen
wegziehen würde.
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