Urteilsbegründung im Fall Tim H.: "Er wollte die Menschenmenge aufwiegeln"

Erstveröffentlicht: 
05.03.2013

Der Anti-Neonazi-Demonstrant Tim H. soll bei der Protestaktion in Dresden 500 Personen gegen eine Polizeisperre gehetzt haben, das Amtsgericht verurteilte ihn zu knapp zwei Jahren Haft. Nun liegt die schriftliche Urteilsbegründung vor - und lässt eine Frage offen: Warum war es besonders schwerer Landfriedensbruch?

 

Von Julia Jüttner

 

Tim H. ist auffallend groß. Das wird dem Industriemechaniker und Vater einer kleinen Tochter nun offensichtlich zum Verhängnis. Er wurde verurteilt, weil er am 19. Februar 2011 bei der traditionellen Anti-Nazi-Demonstration in Dresden Hunderte Protestler auf eine Polizeisperre gehetzt haben soll. Ein Jahr und zehn Monate soll er ins Gefängnis - wegen eines "besonders schweren Falles" des Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung.

 

Seit Jahren marschieren Neonazis in der sächsischen Landeshauptstadt auf - anlässlich der Bombardierung Dresdens 1945. Doch bei der Kundgebung 2011 eskalierte die Gewalt mehr denn je zuvor. 3000 Rechtsextreme kollidierten laut Polizei mit 12.000 Gegnern, der Gewerkschaftsbund sprach gar von 21.000 Menschen, die sich den Rechten in den Weg stellten.

 

Tim H. soll nach Ansicht des Gerichts an jenem Tag 500 Personen auf die Sperre von 14 Polizeibeamten gehetzt haben. 100 von ihnen - teilweise vermummt - sollen die Barrikade in mehreren "Angriffswellen" attackiert haben, einige benutzten dabei Pyrotechnik, Steine, Latten und Flaschen als Wurfgeschosse. Tim H. soll die Durchbruchsversuche per Megafon koordiniert und "Countdowns" laut vorgezählt haben, einen Polizeibeamten soll er als "Nazischwein" beschimpft haben.

 

Der Richter im Verfahren gegen Tim H. wollte mit dem Urteil auch eine abschreckende Wirkung erzielen. Die Einwohner von Dresden seien es leid, dass das Gedenken "von beiden Seiten, Rechten und Linken" ausgenutzt werde, sagte er bei der Urteilsverkündung im Januar.

 

Nun liegt die schriftliche Begründung des Urteils vor. Und man hätte erwartet, dass das Gericht seine umstrittene Entscheidung dezidiert und in allen Einzelheiten begründet. Doch auffällig ist, dass sich aus ihr nicht ergibt, aufgrund welcher Äußerung Tim H. verurteilt wurde - obwohl ihm ein angeblicher "Aufruf" vorgeworfen wurde. Laut Staatsanwaltschaft soll er die Ansagen gemacht haben: "Durchbrechen!" und "Nicht abdrängen lassen!"

 

Auf einem Polizeivideo ist jedoch zu hören, dass die Person am Megafon ruft: "Kommt nach vorne!" Selbst, wenn es Tim H. gewesen wäre: Ist das schon ein Aufruf zum Gewaltexzess?

 

"Für das Gericht bestand keine Verwechslungsgefahr"

 

In der schriftlichen Urteilsbegründung wird dieses Video nun mehrfach angeführt, mehrmals sei es "in Augenschein genommen" worden, heißt es. Doch Tim H. wurde von keinem Zeugen darauf identifiziert - selbst die Polizeibeamten konnten sich nicht im Konkreten an Tim H. erinnern. So steht es zwar auch in der Begründung, und trotzdem heißt es dort: "Allein aufgrund der Videoaufzeichnungen ist das Gericht von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt."

 

Dabei hatte in der Verhandlung sogar der Hauptbelastungszeuge der Staatsanwaltschaft - ein Anwohner, der die Situation von seinem Balkon aus beobachtete - betont, dass der Mann, der ins Megafon gebrüllt habe, nicht Tim H. gewesen sei.

 

Das Gericht aber blieb dabei: Tim H. sei "eine überdurchschnittlich große Person und ragt aus der Masse hervor", heißt es in der Urteilsbegründung. "Er ist von kräftiger Statur. Sein Gesicht ist, als die Beleidigung fällt, gut zu erkennen. Für das Gericht bestand keine Verwechslungsgefahr."

 

Auch wenn Tim H. selbst keine Gegenstände geworfen oder Körperverletzungshandlungen begangen habe, sei er mit einem Megafon ausgestattet gewesen. "Er wollte die Menschenmenge steuern und aufwiegeln. Die Gewalttätigkeiten sind offenkundig. Der Angeklagte hat durch aktives Tun gezeigt, dass er die feindselige Stimmung und die Aktivitäten der Menschenmenge billigt und sich damit solidarisiert", heißt es in der Begründung des Schöffengerichts.

 

Der Angeklagte sei zudem aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Organisator bzw. Koordinator in die Aktionen gegen Rechtsextreme eingebunden. Tim H. arbeitet derzeit bei der Bundesgeschäftsstelle der Linken. "Er trug eine schwarze Jacke, welche bei einer Hausdurchsuchung in der Wohnung des Angeklagten vorgefunden und beschlagnahmt wurde. Dass das Megafon nicht aufgefunden wurde, ist nicht entscheidungsrelevant", urteilt das Gericht.

 

Sven Richwin, Tim H.s Rechtsanwalt, bezeichnet die Urteilsbegründung als "verblüffend unscharf". An einer Begründung des "besonders schweren Falles des Landfriedensbruchs" fehle es völlig. "Nebulös bleiben auch die 'strafverschärfenden Umstände', die die Milderungsgründe überwiegen sollen", sagt Richwin. "Letztlich ging es dem Gericht darum, pauschal die Auseinandersetzungen am 19. Februar 2011 abzuurteilen, ohne sich mit den störenden Umständen des Einzellfalls zu beschäftigen. Diese Urteilsbegründung ist keine."

 

Als nächstes wird die Berufungsverhandlung geführt werden. Der Staatsanwaltschaft Dresden war die Strafe zu niedrig. "Das Urteil ist hinter dem von uns geforderten Strafmaß von zwei Jahren und sechs Monaten zurückgeblieben", sagte ein Sprecher SPIEGEL ONLINE im Januar.