Göppingen/Waiblingen - Was ist da eigentlich in Göppingen los? Selbst bei der links-alternativen Tageszeitung „taz“ im fernen Berlin stellt man sich mittlerweile diese Frage und hat einen Reporter mit Recherchen beauftragt. Die schwäbische Arbeiterstadt mit ihren 55 000 Einwohnern hat in manchen Straßenzügen ein Stadtbild, wie man es aus der ehemaligen DDR kennt. Doch als Hochburg des Rechtsextremismus, wie es sie heute in Orten im Osten der Republik gibt, war sie bislang nicht bekannt.
Das hat sich dieses Jahr gründlich geändert. An Schulen tauchten Plakate und Flugblätter mit rechtsradikalen Parolen auf. Es folgten fünf Kundgebungen und Demonstrationen. Bei der vergangenen und auch bislang größten Anfang Oktober marschierten 150 Neonazis, beschützt durch 2000 Polizisten vor Übergriffen linksautonomer Randalierer, durch die Innenstadt. Warum ausgerechnet Göppingen zum Aufmarschgebiet geworden ist, darüber sei es müßig, zu spekulieren, sagt die Sozialbürgermeisterin Gabriele Zull (parteilos). „Als Stadt setzen wir keinen Grund. Aber wir müssen damit umgehen.“ Gerade mal auf ein Dutzend Beteiligte schätzt der Staatsschutz die örtliche Naziszene. Doch diese wenigen, sie sind gut vernetzt. Für die vergangene Demonstration waren aus dem gesamten Bundesgebiet Neonazis angereist, wie die Polizei anhand rigoroser Ausweiskontrollen feststellte. Dennoch blieb die Teilnehmerzahl deutlich hinter den Prognosen zurück.
Rems-Murr-Kreis galt bislang als Hochburg
Eigentlich galt all die Jahre der benachbarte Rems-Murr-Kreis als braune Hochburg der Region Stuttgart. Im August 2000 war in Waiblingen ein Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim verübt worden, im November desselben Jahres überfielen Skinheads in Schorndorf einen griechischen Geschäftsmann, weitere ausländerfeindliche Taten folgten. Die lokale Politik reagierte darauf. Um den bösen Ruf abzuschütteln, gründeten das Landratsamt und die Polizei je eine Fach- und Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus (Korex). Die eine sollte Prävention betreiben und die andere straffällig gewordene Szenemitglieder überwachen und bestenfalls eines Besseren belehren.
Immer wieder waren es vor allem Skinheads, die im Rems-Murr-Kreis auffällig wurden. Die örtliche Polizei spricht von rund 70 bekannten Gesichtern, die man der Szene zuordnet. In Göppingen taucht hingegen eine noch recht neue Form des Rechtsextremismus auf. Im aktuellen Bericht des baden-württembergischen Verfassungsschutzes ist ihr ein ganzes Kapitel gewidmet: Autonome Nationalisten nennen sich diese Leute, und sie unterscheiden sich von den Skinheads nicht nur in der Länge ihrer Haare. Sowohl in ihrer Organisationsform als auch im Äußerlichen ähnelten sie eher dem linksautonomen Schwarzen Block, sagen die Verfassungsschützer. Bei Demos treten sie bevorzugt in Kapuzenshirts und Baseballkappen auf.
Wer einschlägige Internetseiten liest, den fröstelt
Wichtigste Propagandaplattform ist das Internet. Wer die Seite von Göppingens Autonomen Nationalisten liest, den fröstelt. Ein einschlägig vorbestrafter junger Mann, der nach Informationen des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Göppingen aus gutem Hause stammen und für ein großes Softwareunternehmen arbeiten soll, verbreitet dort seine Hetze gegen das „System der Bundesrepublik“, agitiert, bewusst die aktuelle Euro-Debatte nutzend, gegen den „volksfeindlichen Kapitalismus“ und tritt für einen „Nationalen Sozialismus“ ein. Der Polizei ist es bisher nicht gelungen, die Seiten zu sperren. Zwar ist den Autonomen Nationalisten Multikulti verhasst. Ihre Homepage haben sie aber im südpazifischen Inselstaat Vanuatu registrieren lassen.
Die äußerliche Anbiederung an Linksautonome sei nicht nur eine Mode-Erscheinung, glaubt man beim Verfassungsschutz. Offenbar gehe es darum, sich gegenüber dem politischen Gegner und den Sicherheitsbehörden zu tarnen. An der Militanz der Gruppe gebe es keinen Zweifel, auch wenn es in Göppingen bisher nicht zu größeren Gewaltakten kam – sieht man mal von Morddrohungen gegen den Göppinger Linken-Stadtrat Christian Stähle ab, an dessen Auto auch schon die Bremsen manipuliert worden sein sollen. Im Rems-Murr-Kreis fühlte man sich mit seiner Präventionsarbeit längst auf dem richtigen Weg. Die hohe Zahl rechtsmotivierter Straftaten, welche die Polizei immer damit begründete, dass sie den Braunen so genau auf die Finger schaue, wie nirgends sonst im Land, ging kontinuierlich zurück. Und überhaupt sei der Rems-Murr-Kreis nicht übermäßig auffällig. Das bestätigen auch Verfassungsschützer, die den Großraum Stuttgart als braunen Fleck ausmachen – ebenso wie Karlsruhe, Pforzheim, Schwäbisch Hall oder die Region Mannheim-Heidelberg.Doch dann kam der Brandanschlag von Winterbach. Im April 2011 starteten Gäste einer zuvor von der Polizei kontrollierten Gartenparty eine Hetzjagd auf neun junge Männer mit Migrationshintergrund. Bereits der zweite Prozess in dieser Sache, diesmal gegen elf Männer und eine Frau aus dem rechten Milieu, wird aktuell vor dem Stuttgarter Landgericht verhandelt.
Polizei und Politik verheimlichten Aktivitäten der braunen Szene
Die Recherchen zu dem Fall brachten weitere, offenkundig von der Politik und Polizei verheimlichte, Aktivitäten der Rechten Szene zu Tage: In einem Wirtshaus in Korb waren Landesparteitage der NPD sowie ein Bundeskongress ihrer Jugendorganisation abgehalten worden. Der Polizeichef, der Landrat und der Bürgermeister der Remstal-Kommune hatten davon gewusst – und geschwiegen. Der Bevölkerung war somit keine Möglichkeit zum Widerstand oder Protest gegeben worden. Ob dieser aufgekommen wäre, ist freilich offen.
Der Tübinger Sozial- und Verhaltenswissenschaftler Josef Held jedenfalls behauptet in der Studie „Rechtsextremismus und sein Umfeld“, die eine Forschungsgruppe unter seiner Federführung für den Rems-Murr-Kreis erstellt hat, dass die zum Teil gut in der Gesellschaft integrierten Rechten in einer „ausgeprägten lokalen Orientierung, die sich in Übereinstimmung befindet mit den eher dörflichen und kleinstädtischen Milieus“, einen besonders guten Nährboden fänden.