Prozess gegen Zwölfjährigen: "Ich habe Dad erschossen"

Erstveröffentlicht: 
01.11.2012

Joseph Hall war zehn Jahre alt, als er seinen Vater erschoss - einen der führenden Neonazis Amerikas. Nun hat der Prozess gegen den Jungen begonnen. Der Richter muss vor allem entscheiden: Kann ein Kind in einem rechtsradikalen, gewalttätigen Umfeld lernen, was richtig und was falsch ist?

 

Einen Tag bevor der zehnjährige Joseph seinen Vater erschießt, prahlt er mit einem Geschenk: "Schau mal, was mir mein Dad gegeben hat." In der Hand hält er einen Ledergürtel mit den silbernen Insignien der SS. Am gleichen Tag unterhält sich der Junge offenbar mit seiner kleinen Schwester, die beiden sitzen auf Schaukeln, wie der Staatsanwalt später darlegen wird. Joseph sagt, er werde seinen Vater erschießen.

 

Nur wenige Stunden nach dem Gespräch geht der Zehnjährige die Stufen ins Wohnzimmer hinunter, Jeff Hall ist dort auf der Couch eingeschlafen, er hat vermutlich getrunken. Joseph stellt sich neben ihn, richtet einen Revolver auf den großen Kopf mit den Nazi-Tattoos, er zielt direkt hinter das linke Ohr. Mit vier Fingern umklammert das Kind den Abzug, um 4.04 Uhr drückt es ab. Dann geht Joseph die Stufen wieder hinauf, die Waffe versteckt er unter seinem Bett, er legt sich hin, zieht sich die Decke über. Es ist der 1. Mai 2011. Und Jeff Hall, einer der führenden Neonazis Amerikas, ist tot.

 

Die Stiefmutter ruft die Polizei. Als die Beamten wenig später eintreffen, gesteht Joseph die Tat. Der Revolver unter seinem Bett ist noch warm. "Diese Vater-und-Sohn-Geschichte musste enden", sagt der Junge den Ermittlern, wie die Zeitung "The Independent" berichtet. Die Polizisten nehmen Joseph mit. Er passt nicht einmal in die Gefängniskleidung, so schmächtig ist sein Körper.

 

Nun, zwei Jahre später, hat der Mordprozess gegen Joseph begonnen. Richter Jean Leonard muss entscheiden, ob der Zwölfjährige schuldig ist oder nicht. Es geht vor allem um die Frage: Wenn ein Kind mit einem Vater aufwächst, der für Rechtsradikale Wahlkampf macht; der mit seinem Sohn an die mexikanische Grenze fährt, um Jagd auf illegale Einwanderer zu machen; der im Wohnzimmer die Nazi-Flagge hisst - kann ein Kind dann den Unterschied zwischen richtig und falsch kennen?

 

Sollte Joseph des Mordes schuldig gesprochen werden, würde er vermutlich im Gefängnis sitzen, bis er 23 Jahre alt ist. Er wäre der jüngste Insasse in den drei Jugendgefängnissen Kaliforniens, schreibt die "New York Times". Insgesamt sitzen dort etwa 900 Straftäter ein, sie sind dem Bericht zufolge durchschnittlich 19 Jahre alt.

 

Ein Held, ein Mörder


"Joseph dachte, der Schuss auf seinen Vater macht ihn zum Helden", sagt sein Anwalt Matthew Hardy. "Joseph dachte, dass er das Richtige tut." Das sei zwar schwer nachzuvollziehen. Aber wenn der Junge davon ausgehe, nichts Falsches zu tun - dann könne er für die Tat auch nicht verantwortlich gemacht werden.

 

Sein Klient sei in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Mord akzeptabel sei, sagte Hardy in seiner Eröffnungsrede vor Gericht. "Wenn man ein Monster erschaffen will, einen Killer, was würde man tun?" Man würde die Person in ein Zuhause stecken, in dem Gewalt, Kindesmissbrauch und Rassismus herrschen, sagte Hardy. Schuld für die psychischen Probleme Josephs sei vor allem das Nazitum seines Vaters.

 

Die Anklage hingegen argumentiert, dass Joseph bereits in der Vergangenheit durch Gewalttaten aufgefallen sei - noch bevor sein Vater zum bekennenden Neonazi wurde. Im Alter von fünf Jahren soll er einen Aufpasser im Kindergarten mit einem Bleistift angegriffen haben. Später habe er versucht, einen Lehrer mit einem Telefonkabel zu erdrosseln, sagte Staatsanwalt Michael Soccio.

 

"Der Junge hätte seinen Vater auch erschossen, wenn der Mitglied einer Friedens- und Freiheitspartei gewesen wäre", sagte Soccio. Es gebe zwar eine herzliche Seite an Joseph, dennoch zweifle er nicht daran, dass der Junge ein Mörder sei, sagte der Staatsanwalt der "New York Times". "Es war geplant. Es war vorsätzlich. Es war Mord." Joseph sei ein gewalttätiges, wütendes Kind gewesen, unabhängig von den politischen Überzeugungen seines Vaters. Die Familie habe ein relativ normales Leben geführt.

 

Josephs "normales" Leben


Dieses "normale Leben" fand in einem pastellfarbenen Haus am Ostrand von Riverside statt, 5416 Lauder Court. Dort lebte Joseph mit seinen vier jüngeren Geschwistern, seinem Vater und dessen Ehefrau Krista McCary. Josephs leibliche Mutter wollte vor Gericht das Sorgerecht für ihre zwei Kinder erstreiten, unterlag aber ihrem Ex-Mann. Die Eltern hatten sich gegenseitig vorgeworfen, den Nachwuchs zu misshandeln. Fest steht, dass die beiden Hall-Kinder ihre frühen Jahre hungrig und vernachlässigt verbracht haben.

 

Zum "normalen Leben" gehörten auch die regelmäßigen Treffen des National Socialist Movement (NSM) im Wohnzimmer der Familie Hall. NSM ist eine der größten Neonazi-Bewegungen der USA, Jeff Hall war ihr "Sergeant und Regionaldirektor".

 

"Ich will eine weiße Gesellschaft", sagte Hall einst der "New York Times", deren Kalifornien-Korrespondent Jesse McKinley ihn zwei Monate lang begleitet hatte, bis zum letzten Tag. "Ich glaube an die Rassentrennung. Ich würde mein Leben für die Rassentrennung geben", sagte Hall.

 

Auch am Abend vor Halls Tod fand ein NSM-Treffen im Wohnzimmer statt. Der Reporter der "New York Times" war anwesend. Ihm zufolge sprach die Gruppe über bewaffnete Patrouillen an der mexikanischen Grenze, Joseph habe am Tisch gesessen und zugehört.

 

Später am Abend soll es dann zum Streit zwischen Jeff Hall und seiner Ehefrau gekommen sein. Krista McCary sagte aus, ihr Mann habe eine Affäre gehabt und an Scheidung gedacht. Sie sei nach dem Streit zu Bett gegangen und erst durch ein lautes Geräusch geweckt worden. Durch den Revolverknall. "Ich habe Dad erschossen", habe Joseph ihr gesagt. "Warum?", entgegnete McCary eigenen Angaben zufolge. Der Junge habe nicht geantwortet.