Wie kam es zum Pogrom von Rostock-Lichtenhagen? Aus Anlass des 20. Jahrestags der schwersten rassistischen Krawalle der Bundesrepublik lieferten Bundespräsident Gauck und die FAZ Erklärungen.
von Thomas Blum
Wem auch immer die famose Idee kam, auf dem Platz vor dem Rostocker »Sonnenblumenhaus«, in dem vor 20 Jahren vietnamesische Vertragsarbeiter beinahe von rasenden deutschen Aktivbürgern umgebracht worden waren, eine deutsche »Gedenkeiche« zu pflanzen: Respekt! Vielleicht hätte man die Symbolkraft noch erhöhen können, beispielsweise indem man einen Wehrmachtsveteranenverein darum gebeten hätte, samt Schäferhundstaffel an der Eiche strammzustehen und feierlich die erste Strophe der deutschen Nationalhymne abzusingen.
Wo der Deutsche seiner Pogrome gedenkt, indem er Eichen pflanzt, kann auch das Volksfest nicht weit sein. Bierstände, Luftballons, eine Fahrradsternfahrt, ein Konzert mit einem Chor aus 450 Kinderstimmen, ein »Liedermacher«, der »Kinderlieder aus aller Welt« zum Besten gab, und anderes Remmidemmi sorgten in Rostock für Stimmung. Dazu passend hatte man zum Zweck des Gedenkens bzw. zum Zweck dessen, was man in Deutschland dafür hält, ein Zirkuszelt aufgestellt. Mit Hüpfburgen für Toleranz und Integration! Bratwurstessen für die Menschenwürde!
Und wo es ein Zirkuszelt gibt, da darf auch der deutsche Bundespräsident mit seiner legendären Clownsnummer nicht fehlen: Faxen machen, Grimassen schneiden, dummes Zeug reden. Routiniert spulte Joachim Gauck als offizieller Redner sein Repertoire ab. Wie immer war alles dabei aus dem Phrasenbaukasten des geläuterten Deutschland: Vielfalt, friedliches Miteinander, Zuversicht, Heimatstadt, Respekt, Menschenwürde, Demokratie, Gott, unsere Heimat, mutige Bürger.
Gaucks Jubelrostocker spendeten mit fiebriger Stirn und großen Augen Beifall: Ja, da staunt ihr! Wir zünden heute Kerzen an und keine Ausländer! Wenn Bürger sich versammeln, »um unter der Anleitung des Bundespräsidenten zu versichern, man dürfe andere Menschen nicht einfach totschlagen«, gelten »derlei Äußerungen in Deutschland schon als festes Bekenntnis zur Demokratie und nicht als Beleg dafür, wie notdürftig die Barbarei im Zaum gehalten ist«, schrieb Eike Geisel 1992.
Doch Rostock, so kann man auch auf der Website der Stadt erfahren, ist heute eine »Wirtschafts-, Wissenschafts-, Tourismus- und Kulturmetropole«. Da versteht es sich von selbst, dass zu den »Menschen verschiedenster Kulturen«, die heute »Normalität und eine wichtige Bereicherung für unsere Stadt sind«, auch zwei Bürgerschaftsabgeordnete der NPD gehören. Keine Ausgrenzung! Keine Gewalt! Am Sonntag ging es deshalb auch darum, Missverständnisse der Weltöffentlichkeit im Nachhinein zu korrigieren: Nicht etwa hat ein neonazistischer Kleinbürgermob vor 20 Jahren versucht, Menschen zu ermorden. Es war ganz anders. Nämlich so: Enttäuschte Bürger, die sich »tief verunsichert fühlten, orientierungslos in der neuen Freiheit, ungeübt in der Übernahme von Verantwortung«, wie Gauck in seiner Rede zu berichten wusste, sich dafür aber umso geübter zeigten im Umgang mit Brandsätzen, haben seinerzeit hilflos ihrem Unmut Luft gemacht. Schließlich hatten sie keine andere Wahl: »Im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen war damals ein großer Teil der Bewohner arbeitslos und durch die sozialen Folgen der deutschen Vereinigung verunsichert«, klärte die Bild-Zeitung auf. Da konnte der unwiderstehliche Drang, Ausländer zu massakrieren, freilich nicht ausbleiben.
Heutzutage will man in Rostock »zeigen, dass die Gegenwart eine ganz andere ist« (Spiegel Online), dass die tief verunsicherten, orientierungslosen Deutschen ihr liebstes Hobby, das Ausländertotschlagen, derzeit ruhen lassen. Und so war beim Rostocker »Gedenken« am Sonntag nicht nur der handelsübliche, seifige Gratisjargon zu hören, der zu solchen Anlässen aufgefahren wird (»Vielfalt« »Integration«, »friedliches Miteinander«, »Toleranz«). In lupenreinem Ekeldeutsch wurde auch die »aktive Bürgergesellschaft« beschworen. Doch konnte man im August 1992 nicht tagelang dabei zuschauen, wie es aussieht, wenn irgendwo in Deutschland eine aktive Bürgergesellschaft, wie sie zum 20. Jahrestag der Pogrome von Lichtenhagen auch von den Fraktionen der Rostocker Bürgerschaft so heftig ersehnt wird, sich zusammenrottet, um ihr Aktivbürgertum zu pflegen? Dies fiel selbstverständlich niemandem auf. Zu den heftigsten rassistischen Pogromen in der Geschichte der Bundesrepublik fiel dem Bundespräsidenten dafür folgendes ein: »Ängste vor dem Fremden« seien oft »Ausdruck von Unkenntnis, innerer Unsicherheit – und von mangelndem Selbstbewusstsein«. Aus dem Gauckschen ins Deutsche rückübersetzt heißt das: Auch der Rassist hat sein Päckchen zu tragen.
Die FAZ sieht das ähnlich. Was es gab und gibt, da ist sich das Blatt einig mit Deutschlands Chefclown, sind »Überfremdungsängste«. Zudem hat die Zeitung Kenntnis davon, wie es tatsächlich gewesen ist im August 1992. Und sie hat es – noch bevor der Bundespräsident am Sonntag in seiner Gedenkrede die Frage stellte: »Wie konnte es dazu kommen?« – bereits am Samstag erklärt: Seinerzeit habe eine »multikulturelle Gesellschaft« – einige FAZ-Leser der ersten Stunde dürften das noch unter dem Begriff »durchrasster Volkskörper« kennen –, »in der die alten, spießigen Bürger keinen Platz mehr haben sollten, im Osten doppelt fatal« gewirkt. »Denn sie kam als westdeutscher Import, als Teil der Wende daher, die nicht nur der Ausländer wegen Überfremdungsängste weckte.« Was wohl ungefähr so viel heißen soll wie: Der Westdeutsche hat dem Ostzonenbewohner die Segnungen der freien Marktwirtschaft mitgebracht und hintenrum die Ausländer eingeschleust, die der Ostler auf seiner heimatlichen Scholle genauso wenig haben wollte wie die Westler.
Wie bedrohlich es ist, wenn der altdeutsche Bürger, der soeben noch arglos in Hans Grimms »Volk ohne Raum« blätterte, massenhaft von Untermenschen überflutet wird, weiß nicht nur jeder NPD-Kreisverband, sondern auch die FAZ: »Wie lange hält es eine Gesellschaft aus, dass Monat für Monat zehn-, zwanzig- oder auch dreißigtausend Asylbewerber ins Land strömen?« Bei jenen, »die solche Fragen nicht zulassen«, handle es sich, klärt uns die FAZ auf, um »halbe Extremisten«. Wohingegen jene besorgten Demokraten, die vor 20 Jahren so tapfer waren, vor dem »Sonnenblumenhaus« nächtelang auszuharren und solche Fragen engagiert und mutig zu stellen, bis heute denunziert werden, nur weil sie ein wenig Gerstensaft auf ihrer Freizeithose verschütteten, als sie plötzlich ein unkontrolliertes Zucken im rechten Arm verspürten.
Erst als die wehrhaften Rostocker Demokraten ihrer berechtigten Sorge Ausdruck verliehen, indem sie die Vietnamesen von nebenan bei lebendigem Leib verbrennen wollten, da merkten endlich auch linkspopulistische Voll- oder Halbextremisten wie die Sozialdemokraten, dass der Ausländer raus muss – so lautet in etwa das Fazit der FAZ: »Erst ›Lichtenhagen‹ brachte manche dieser Sozialalchimisten zur Besinnung.« Und so bedankte sich die »Zeitung für Deutschland« nun bei jenen, die einen großangelegten Mordversuch unternommen hatten, zum 20. Jahrestag der glorreichen Tat dafür, dass sie als eine Art mutige Avantgarde Deutschland modernisierten: »Der Terror brachte manchen Sozialromantiker zur Besinnung und machte den Weg für eine gesteuerte Einwanderungspolitik frei.« Der Satz wurde online mittlerweile aus dem Artikel entfernt. So viel Dank ging dann offenbar doch zu weit.