Fragwürdige Praktiken der Polizei bei der Demonstration am 4. August in Marburg

Erstveröffentlicht: 
07.08.2012

Marburg 7.8.2012 (yb) Der erste Augustsamstag in Marburg steht für einen klaren und denkwürdigen Tag für demokratische Praxis und Kultur und für aufrechtes Flaggezeigen Hunderter Menschen in der Stadt. Die starke Gegendemonstration zum ebenso provokativen wie völlig isolierten Auftreten von NPD-Funktionären auf dem Messeplatz Afföller war beeindruckend und beruhigend. Das Verhalten der Polizei weicht davon allerdings deutlich ab und hat zu Recht eine öffentliche Diskussion ausgelöst.

 

 Unübersehbar haben Polizisten von Anfang an Maßnahmen an und gegen friedlich Demonstrierende durchgezogen, die Kopfschütteln auslösen müssen und grundsätzliche Fragen aufwerfen. So wurden zahlreiche jüngere frühzeitig eingetroffene Demonstranten durchsucht. Neben Leibesvisitation mussten sie eine gründliche Durchsuchung ihre Gepäcks, meistens Rucksäcke, über sich ergehen lassen. Die Demonstranten haben dies über sich ergehen lassen und waren damit Opfer eines Generalverdachts im Rahmen sogenannter präventiver Polizeimaßnahmen. Demokratisch gesinnte Bürgerinnen und Bürger werden (trotz oder wegen) der Inanspruchnahme eines Grundrechts ein Stück weit wie Kriminelle behandelt – was für eine ungeheure Anmaßung von ‘Sicherheitsorganen’.

Selbstverständlich wurden nicht alle Demonstranten untersucht, schon gar nicht die große Zahl der später vom Bahnhof dazu kommenden Demonstranten. Vorher war Zeit, und da meinten Polizisten vor allem Jüngere durchsuchen zu dürfen oder gar müssen. Die Willkürlichkeit dieser – eben nicht durchgängigen – Maßnahmen ohne konkrete Veranlassung soll hier dokumentiert und veröffentlicht werden.

Unübersehbar war, dass mehrere Polizisten mit Videokameras ausgerüstet Position bezogen. Teilweise waren sie mit erhöhtem Standpunkt am Rand positioniert, von wo später mit klarem Fokus auf die Gegendemonstranten gefilmt wurde. Zugleich war für jeden Anwesenden die positive, gelassene und friedliche Stimmung der Versammelten spürbar und unübersehbar. Auf dem Messeplatz Afföller drohte keine Gewalt, es wäre völlig abwegig hier irgendwelche Präventivgründe anführen zu wollen. Zudem hatte die Polizei mit weiträumigen Absperrungen für eine übersichtliche Situation gesorgt. Als Kette postierte Polizisten und Zig Polizisten in Reserve sorgten für nicht wenig Eindruck massiver Präsens, um nicht zu sagen für eine martialische Einschüchterung und Abschreckung.

So ist dann gekommen, was kommen musste. Polizisten unter Beobachtung von Teilnehmern zeigten genau wegen eigener überzogener Kontrollmaßnahmen – etwa in Gestalt allgegenwärtigen Videofilmens inmitten der Demonstranten – willkürliches Verhalten. Ein Mitglied der Humanistischen Union, von Beruf Rechtsanwalt, der filmende Polizisten zur Dokumentation dieses Verhaltens selbst per Videokamera gefilmt hatte, musste den Datenträger seiner Kamera trotz deutlichen Protests abgeben. Die Polizeimaßnahmen selbst wurden zum Auslöser polizeilichen Handelns gegen einen Anwesenden und zeichnete sich durch hohe Willkür aus. Zudem ist fraglich, ob es dafür überhaupt eine Rechtsgrundlage gegeben hat.
Zu den Geschehnissen aus Sicht der Polizei

Zunächst soll hier die Polizei selbst zu Wort kommen. Die Redaktion hat dem Marburger Presseprecher Martin Ahlich dazu einige Fragen schriftlich übermittelt, die Herr Ahlich freundlicherweise umgehend beantwortet hat:

1. Gab es bei der Demonstration am 4.8.2012 in Marburg gegen den NPD-Auftritt irgendwelche Zwischenfälle, wenn ja welche, von wem und mit welchen Konsequenzen?
Ein junger Mann leistete bei einer Vorkontrolle Widerstand und verletzte einen Polizeibeamten leicht. Seine Entlassung von der Polizeistation Marburg erfolgte im Anschluss an alle notwendigen Maßnahmen.
Während der Demonstration flogen vereinzelt Eier, Yoghurt- und Sahnebecher in Richtung der Teilnehmer der NPD. Hierbei gingen die Geschosse teils nur knapp an den Polizeibeamten vorbei. Die Polizei ermittelte die Verantwortlichen und stellte deren Personalien fest. Die Gegenstände trafen niemanden und richteten keine Schäden an.
Ermittlungsverfahren richten sich gegen einen Teilnehmer, der eine Sturmhaube mitführte und gegen einen weiteren Teilnehmer, bei dem die Polizei ein verbotenes Springmesser sicherstellte.
Auf Hinweise eines Fotografen ermittelt die Polizei zudem gegen einen der Teilnehmer der NPD wegen des Verdachts der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Nach dem Hinweis erfolgten der sofortige Ausschluss von der Versammlung und ein Platzverweis.

2. Bei der Demonstration wurden von mehreren Polizisten Videoaufnahmen gemacht. Wer hat diese Videoaufnahmen, darunter solche von Demonstrierenden, veranlasst?
Der Einsatzleiter der Polizei veranlasste die Filmaufnahmen.
Ohne dauerhaft zu filmen, fertigte die Polizei von dem Ereignis des relativen Zeitgeschehens in erster Linie Übersichtsaufnahmen.
In Einzelfällen – hier anlässlich einer Vermummung und der Würfe mit Gegenständen – erfolgte ein zielgerichtete Beweissicherung und Dokumentation.
3. Warum wurden Videoaufnahmen gemacht?
Die Filmaufnahmen dienten wie schon erwähnt der Beweissicherung und Dokumentation.
4. Was wurde nach Ihrer Kenntnis gefilmt?
siehe Antwort zu Frage 2
5. Wozu dienen solche Aufnahmen und werden alle Demonstrationen in dieser Weise per Video aufgezeichnet?
Die Antwort ergibt sich aus den Antworten zu den übrigen Fragen.
6. Was passiert mit den Videoaufnahmen?
Im Falle eines friedlichen Verlaufs einer Veranstaltung erfolgt die Vernichtung der Filmaufnahmen.
 Ansonsten dienen die Aufnahmen bis zum Abschluss des Verfahrens/ der Verfahren als Beweismittel. Danach erfolgt die Vernichtung.

In Marburg gab es also ein “Ereignis des relativen Zeitgeschehens” von dem “in erster Linie Übersichtsaufnahmen” polizeilicherseits gemacht wurden. Dazu sei in “Einzelfällen – hier anlässlich einer Vermummung und der Würfe mit Gegenständen - … zielgerichtete Beweissicherung und Dokumentation” erfolgt. So kann sich jetzt jeder ein Bild von Polizeiarbeit machen. Massenhaftes Anrücken zu einer Demonstration und Dokumentation. Wenn dann schon so viele Polizisten vor Ort sind und wenig bis gar nichts zu tun haben, ordnet der Einsatzleiter an zu filmen, was das Zeug hält. Wenn es dann zu einzelnen ‘Vorkommnissen’ in einer unübersichtlichen Menge von rund 500 Menschen kommt, ist die Polizei direkt dabei und filmt. Zugleich hat solches Polizeiauftreten eine deutlich einschüchternde, aus Polizeisicht gar pädagogische Wirkung. Dank Generalverdacht vorab konnte zudem eine ‘Beweissicherung’ für relativ nichtige Vorkommnisse mit erledigt werden. Ein Schelm, der an Böses – an einen Polizeistaat – dabei dächte. Es reicht ein simpler Einsatzleiter und schon wird gefilmt. So einfach geht das also – nicht!

Ein Betroffener wird Ziel weiterer Polizeimaßnahmen zur Vertuschung

Ganz anders stellt sich die Situation aus Sicht eines Betroffenen dar. Rechtsanwalt Tronje Döhmer, zugleich Mitglied der Humanistischen Union, beobachtete mehrere videofilmende Polizisten. Versammlungsleiter Ulf Immelt vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) forderte die Polizei über Lautsprecher auf, das Filmen zu unterlassen. Döhmer sprach einzelne Polizisten an und wies sie darauf hin, dass eine anlasslose Videoaufzeichnung rechtswidrig ist. Um dieses rechtswidrige Vorgehen zu dokumentieren, machte der Anwalt seinerseits Aufnahmen von den filmenden Polizisten.

Daraufhin forderten Polizeibeamte ihn schließlich auf, seine Kamera herauszugeben. Als er sich weigerte, wurde der Chip beschlagnahmt. Zur Begründung gaben die Polizisten an, der Bürgerrechtler habe Portraitaufnahmen von ihnen angefertigt und damit gegen den Paragraphen 33 des Kunsturhebergesetzes verstoßen.

“Das Vorgehen der Polizeiführung gegen mich bewerte ich als einen Angriff auf mich als Kundgebungsteilnehmer und als Rechtsanwalt, der an der Ausübung seines Berufes gehindert werden sollte” sagt Rechtsanwalt Döhmer. “Dazu gehört nämlich auch die Sicherung von Beweisen für rechtswidriges Verhalten von Polizeikräften anlässlich von Versammlungen, die unter dem Schutz von Artikel 8 des Grundgesetzes stehen. Der Vorwurf, ich hätte im Rahmen meiner Beweise sichernden Tätigkeit eine Straftat nach § 33 Kunsturhebergesetz begangen, entbehrt jeder tatsächlichen und rechtlichen Grundlage.”


In dem Vorgehen der Polizeikräfte sieht die Humanistische Union (HU) Marburg vielmehr einen weiteren Versuch einer deutschen “Sicherheitsbehörde”, eigenes rechtswidriges Verhalten zu vertuschen.

So steht die Beschwerde einer jungen Demonstrantin am Samstag gegenüber dem Fotografen von das Marburger. in ganz anderem Licht. Die junge Frau wollte keinesfalls auf Bildern erscheinen. Ihre Begründung war, dass solche veröffentlichten Fotos von der NPD ausgewertet werden könnten, um Demonstranten zu verfolgen. Was mit den Filmaufnahmen der Polizei geschieht, bleibt abzuwarten.

Das Polizeihandeln selbst ist am 4. August 2012 in Marburg zur Quelle und Ursache von Problemen geworden. Für die massive Präsenz der Polizei, siehe dazu Bericht in das Marburger., mögen sich Gründe finden lassen. Polizeiliche Maßnahmen gegen friedliche Demonstranten, wie Durchsuchungen, müssen bereits als willkürlich kritisiert werden. Das Vorgehen gegen den Rechtsanwalt erscheint übergriffig. Damit bedarf es weiterer Aufklärung. Diese Angelegenheit kann die Polizeiführung nicht erfreuen und bedarf zunächst einer seriösen rechtlichen Würdigung. Politisch muss das Geschehen beunruhigen – im Land der ungesühnten NSU-Morde und abstrus untätig gewesenen und völlig überforderten Sicherheitsorgane.

Die Redaktion hat entschieden alle Fotos in diesem Bericht ohne Bearbeitung, also Unscharfmachen, zu veröffentlichen. Das öffentliche Interesse an seriöser Information und die journalistische Sorgfaltspflicht machen dies erforderlich. Die Fotos wurden nun einmal während einer öffentlichen Veranstaltung gemacht. 

So steht der erste Augustsamstag zugleich für einen schwierigen Tag in Marburg.