Ein Kommentar zur Debatte 20 Jahre nach den Pogromen in Rostock/Lichtenhagen
Vor 20 Jahren loderten Flammen aus dem Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee. Ein rassistischer Mob versuchte in das Haus einzudringen, während über 100 Vietnames_innen im obersten Stockwerk zusammen mit einigen Reportern um ihr Leben fürchten mussten. Die zuständigen Polizeidienststellen und die hiesige Politik wollten oder konnten sich den Pogromen nicht wirkungsvoll entgegenstellen. Nur wenige Monate nach der vermeintlichen Wiedervereinigung beider deutschen Teilstaaten wurde das brennende Hochhaus zu einem weltweit bekannten Symbol für das neue Gesamtdeutschland. Der Begriff „Lichtenhagen“ war auf Jahre hinaus mit Rassismus und Gewalt verbunden.
Scheindebatten, Eitelkeiten und das Verdrängen der Verantwortung
Seit Monaten laufen die Vorbereitungen zum Gedenken und zur Mahnung an die Pogrome, darunter eine bundesweit beworbene Demonstration durch den Nordwesten Rostocks. Einige Politiker_innen sträuben sich gegen die offensive Erinnerung an die Angriffe. Doch warum eigentlich? Wenn mensch nach den Gründen für die Ablehnung fragt, kommen die gleichen „Bedenken“, wie schon vor 20 Jahren, als nur wenige Tage nach den Pogromen am Sonnenblumenhaus etwa 10.000 Menschen gegen Ausländerfeindlichkeit auf die Straße traten.
Zunächst wird das Bild des vermeintlich gewaltbereiten Linksextremisten gemalt. Vernebelt von der Springerpresse, die Artikeln wie „BILD erklärt den Schwarzen Block“ zum G8 Gipfel 2007 in Rostock Heiligendamm verbreitet, glauben viele Menschen dem Schreckgespenst. Auch Politiker demokratischer Parteien, angefangen von CDU und FDP, über SPD und Grünen, bis hin zu vereinzelten Vertretern der Linken, üben sich im einhelligen Gekreische „bloß nichts Großes“. Kleinere Kultureinlagen, wie ein singender Gerhard Schöne mit etwa 300 Kindern sind dagegen gern gesehen. Die gleichen Parlamentarier haben dennoch kein Problem, dem lokalen Fußballclub F.C. Hansa Rostock, bei dessen Spielen es regelmäßig zu Gewaltexzessen kommt, eine städtische Finanzspritze über Millionen Euros zu gewähren. Die Diskussion um mögliche Gewalt am Rande eines antirassistischen Aufzuges scheint vor diesem Hintergrund geradezu scheinheilig.
Als nächste Begründung, weshalb eine Demonstration „unpassend“ sei, sind angeblich die Lichtenhäger selbst. Diese wollen nichts mehr von den Pogromen hören und überhaupt lebt heute dort doch eine ganz andere Generation. Beides ist sicher richtig, aber genau deshalb ist das Aufmerksam machen auf die rassistischen Ausschreitungen doch eigentlich nötiger als früher. Auch hier wird – wie schon vor 20 Jahren – die Politik ihrer Verantwortung nicht gerecht. Rassistischen und neofaschistischen Tendenzen gilt es ständig entgegenzuwirken, es ist die Auflage eines selbst erklärten demokratischen Staates. Leider sehen viele Politiker_innen aktuell lediglich die Bundestagswahlen, die Ende 2013 anstehen und fürchten um die Wähler_innenstimmen aus der Stadt.
„No-go-Area Lichtenhagen“ und andere Mythen
Richtig ist, dass bundes- wenn nicht sogar weltweit der Eindruck besteht, Lichtenhagen sei eine Nazi-Hochburg, ähnlich wie das Dorf Jamel in Mecklenburg-Vorpommern, das mit zwei Ausnahmen ausschließlich von Rechten bewohnt wird. Fakt ist, der NPD-Wähler_innenanteil ist in Lichtenhagen nicht höher als im städtischen Durchschnitt. In Stadtteilen wie Evershagen oder Toitenwinkel hat die NPD sogar noch größeren Zulauf. Dennoch gibt es in Lichtenhagen eine aktive Nazi-Szene, entsprechende Graffitis und Aufkleber finden sich in fast jeder Straße. Zur Bekämpfung eines schlechten Ansehens reicht eine bloße Image Kampagne, wie sie das bürgerliche Bündnis „Lichtenhagen bewegt sich“ aktuell veranstalten will, nicht aus. Ein konsequentes Vorgehen gegen neonazistische Untriebe dürfte erfolgreicher sein als dumpfer Selbstbetrug. Selbst der Ortsbeirat ist gegen eine Demonstration, beklagt aber ebenfalls das schlechte Image des Stadtteils in der Öffentlichkeit. Anstatt Probleme totzuschweigen, sollte der Ortsbeirat seiner Verantwortung bewusst werden und sich ehrlich in die Vorbereitungen zu einer Demonstration einbringen. Das wäre ein echtes Zeichen gegen Rassismus. Die Ablehnung von antirassistischen Initiativen führt nur zu weiterer Stigmatisierung des Stadtteils.
Die Opfer nicht aus den Augen verlieren
Viel wird über die Anwohner_innen von Lichtenhagen gesprochen. Oft werden ihre Sorgen über die Außendarstellung ihres Stadtteils vorgebracht und damit versucht, antirassistische Öffentlichkeitsarbeit zu sabotieren oder gänzlich zu verhindern. „Dann glauben wieder alle, wir sind Nazis“, heißt es oft, wenn mensch mit Lichtenhäger über das Gedenken an die Pogrome spricht. Dabei vergessen Politik und Anwohner_innen eines: niemand, der sich ernsthaft mit den Pogromen beschäftigt, beschuldigt alle Lichtenhäger und schon gar nicht sie allein. Von den etwa 370 Festnahmen an dem Wochenende im August 1992, kamen 110 aus den westlichen Bundesländern, 37 aus anderen ostdeutschen Ländern und die restlichen 217 aus verschiedenen Teilen Mecklenburg-Vorpommerns.
Manchmal bekommt mensch das Gefühl, die eigentlichen Opfer der Pogrome waren die Anwohner_innen. Doch tatsächlich geht es bei dem Gedenken gar nicht um die Lichtenhäger. Rassistische Pogrome fanden überall in der Bundesrepublik statt, Rassismus ist also ein gesamtdeutsches Problem. Doch bei aller Täter_innensuche wird oft eins vergessen: die eigentlichen Opfer. Die Vertragsarbeiter_innen, die in der ehemaligen DDR gearbeitet haben und die Menschen, die aus ihren Ländern vor Krieg und/oder Hunger fliehen mussten. Und so geht es bei dem Gedenken 2012 – so wie die Jahre davor auch – nicht hauptsächlich um die Täter. Es geht um die Menschen, die in der Hoffnung auf Frieden quer durch die Welt gereist sind und in Deutschland wieder um ihr Leben fürchten mussten.
Was bleibt sonst noch zu sagen?
Angst und damit verbundener Hass gegenüber vermeintlich Fremdem ist eine menschliche Eigenschaft, die nicht spezifisch deutsch und schon gar nicht spezifisch lichtenhäger ist. Wir begreifen uns und unsere Gesellschaft als aufgeklärt, dennoch leben wir nach wie vor mit unseren tief verwurzelten Urinstinkten. Das soll und kann Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht entschuldigen. Aber die Menschen, die sich zu Unrecht stigmatisiert fühlen, nur weil sie in einem bestimmten Stadtteil wohnen, haben die letzten Jahre vielleicht einen kleinen Einblick in Verzweiflung der Menschen bekommen, die aus ihren Ländern hier her kamen unddann wieder um ihr Leben fürchten mussten. Natürlich sind die Relationen völlig andere und instinktiv versucht mensch sich dagegen zu verwehren, beides zu vergleichen. Dennoch fühlt jeder Mensch Angst und die Erfahrung kann zumindest den Lichtenhägern helfen zu begreifen, dass es gar nicht um sie geht und dass sie eben nicht das Zentrum in dieser Auseinandersetzung darstellen. Ihre Sorgen sind nur ein Bruchteil von dem, was die Flüchtlinge teilweise seit Jahrzehnten durchmachen müssen.
Am 25. August 2012 findet in Rostock eine Demonstration unter dem Motto „Grenzenlose Solidarität“ statt. Los geht es um 14Uhr am Bahnhof in Rostock/Lütten Klein. Viele Organisationen und Einzelpersonen bringen sich bereits in die Vorbereitungen mit ein und bereichern den antirassistischen Konsens.
Macht mit! Kommt zur Demo! Alerta, altera, antifascista!
Mehr Infos zur Demo gibt es unter http://lichtenhagen.blogsport.de/ und unter http://ino.blogsport.de/lichtenhagen/