Freie Wahl des Geschlechts in Argentinien

Erstveröffentlicht: 
11.05.2012

In Argentinien darf künftig jede und jeder selbst das eigene Geschlecht bestimmen – ganz ohne Hormonbehandlung oder Chirurgie. Es ist ein weltweit einmaliges Gesetz.

 

von Jürgen Vogt

 

BUENOS AIRES taz | „Wir sind nicht mehr die Vergessenen der Demokratie.“ Marcela Romero ist zufrieden. Mit über tausend Gleichgesinnten hatte die Vorsitzende der argentinischen Transvestiten-, Transsexuellen- und Transgeschlechtervereinigung vor dem Kongressgebäude in der Hauptstadt Buenos Aires ausgeharrt. Gewartet hatte sie auf die Abstimmung zum Gesetz über die Geschlechteridentität.

Zukünftig kann in Argentinien jede und jeder ihre und seine Geschlechtszugehörigkeit frei und selbst bestimmen. Am Mittwochabend votierte der Senat mit 55 Stimmen dafür, 17 SenatorInnen enthielten sich, Gegenstimmen gab es keine. Da das Abgeordnetenhaus bereits vergangenen November zugestimmt hatte, brandete vor dem Kongress der Jubel auf.

 

Nach dem Gesetz wird die Geschlechtszugehörigkeit allein durch das innere und individuelle Erleben des Geschlechts bestimmt, so „wie es jede Person fühlt“, unabhängig von der Geschlechtsbestimmung bei der Geburt. Auch der bisher notwendige medizinische Nachweis einer Geschlechtsumwandlung ist abgeschafft. Die nationalen Meldestellen werden jetzt angewiesen, Änderungen in Geburtsurkunden und Ausweispapieren gratis vorzunehmen.

Vorbei sind die Zeiten, in denen die Betroffenen vor Gericht ziehen mussten und in langwierigen Prozeduren die Änderung ihres Namens und der Geschlechtseintragung im Personenregister erkämpfen mussten. Zehn Jahre musste Marcela Romero juristisch um ihre Anerkennung als Frau kämpfen. „Damit ist jetzt Schluss,“ so die 48-Jährige, die mit ihrer Organisation an der Ausarbeitung des Gesetzes mitgewirkt hat.

Minderjährigen garantiert das Gesetz ebenfalls die freie Geschlechterwahl. Sollten Eltern oder andere Erziehungsberechtigten die notwendige Zustimmung verweigern, kann die minderjährige Person einen sogenannten Kinderanwalt anrufen. Zudem wurden die öffentlichen und privaten Krankenversicherungen zur Kostenübernahme von geschlechtsverändernden Behandlungen und Eingriffen verpflichtet. Damit werden auch hier jahrelange Wartezeiten und bisher notwendige richterliche Genehmigungen abgeschafft.

 

Düstere Gegenwart


Die peronistische Senatorin Sonia Escudero malte dennoch ein düsteres Bild der Gegenwart. Über 90 Prozent der Transsexuellen arbeiten in der Prostitution. Wer sich zur transsexuellen Gemeinschaft zählt, habe eine Lebenserwartung von 35 Jahren, so die Senatorin. „Die Zahlen zeigen, dass 95 Prozent der landesweit geschätzten 22.000 Personen keinen Zugang zu den fundamentalsten Menschenrechten haben,“ so die Senatorin.

 

Argentinien übernimmt damit nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Zulassung der Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren im Jahr 2010 abermals eine Vorreiterrolle in Lateinamerika. Für Justus Eisfeld von der New Yorker ‘Global Action for Trans Equality’ hat das argentinische Gesetz sogar einen weltweiten Vorbildcharakter. „Das ist dem, was in den meisten Ländern gilt, um Lichtjahre voraus,“ so Eisfeld. „Die Tatsache, dass keinerlei medizinische Anforderungen gestellt werden, wie Chirurgie, Hormonbehandlung oder auch nur eine Diagnose, ist weltweit einmalig.“

Dass die Präsidentin mit ihrer Unterschrift das Gesetz in Kraft setzt, daran zweifelt niemand. Mit Lob für Cristina Kirchner wurde denn auch nicht gespart. „Seit der Regierung Perón bis heute hat man uns weitgehend ignoriert. Diese Präsidentin ist die erste, die uns den Platz gegeben hat, der uns zusteht,“ sagt Malva, die mit ihren 90 Jahren als die älteste Transvestitin des Landes gilt.

 

Auch wenn sie politisch mit der Präsidentin in vielem nicht übereinstimme, „Cristina Kirchner war die einzige Präsidentin, die uns Transvestiten empfangen hat,“ so Malva. Sie werde ihre Ausweise jedoch nicht mehr ändern lassen. „Auf der Straße begrüßen sie mich mit Señora, am Bankschalter mit Señor.“ Ihr mache das schon lange nichts mehr aus. Dieses Gesetz sei wichtig für die kommende Generation. „Auf dass sie alles genieße, was wir nicht genießen durften.“