Rustikaler Einsatz

Aktenvermerk des Landespolizeipräsidenten am Tag vor der Eskalation
Erstveröffentlicht: 
20.06.2011

Stuttgart hat eine offene Wunde. Sie schmerzt nicht jeden. Sie tut denen nicht mehr weh, die ihre Ruhe und Stuttgart 21 wollen. Jener Rentner, der vergangenen September im Schlosspark von einem Wasserwerfer fast blind geschossen wurde, spürt sie noch. Auch jene, die sich am 30. September teils verprügelt fühlten, als wären sie Gegner eines autoritären Regimes. Niemand hat diese Wunde wirklich verarztet. Die Justiz könnte, wenn sie wollte.

 

Es gab 158 Strafanzeigen gegen Polizisten und Demonstranten zum Schwarzen Donnerstag und ein einziges Verfahren gegen einen Polizeibeamten, das abgeschlossen ist. Seit dem 25. März 2011 gibt es einen rechtskräftigen Strafbefehl gegen einen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt. Der Beamte hatte bei der Eskalation vom Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlosspark einer bereits am Boden sitzenden Frau Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Er kam per Strafbefehl mit einer Geldstrafe davon. Mehr hat die Justiz bis dato nicht zu vermelden. (Korrektur: in einer ersten Textversion war von 1088 Anzeigen die Rede. Diese Zahl bezieht sich jedoch auf den gesamten S-21-Komplex, ohne den Schwarzen Donnerstag).


Bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart werden exakt 24 Anzeigen gegen bekannte Polizeibeamte, 13 gegen unbekannte Polizisten sowie 48 gegen namentlich bekannte S-21-Gegner und 73 gegen unbekannte S-21-Gegner bearbeitet. Neun Monate, einen Untersuchungsausschuss und eine Landtagswahl nach der gewaltigen Eskalation vom Schlosspark ist die Staatsanwaltschaft Stuttgart "immer noch in der Phase des Aufbereitens", sagt ihre Sprecherin Claudia Krauth auf Anfrage.

 

Sie bereitet auf, was ein Untersuchungsausschuss zum Teil schon öffentlich aufbereitet hat. Die Behörde weiß, dass die Parkschützer an jenem Donnerstag schneller gewesen waren, als die Polizei womöglich erlaubt. Sie hatten den polizeilichen Einsatzbefehl zur Durchsetzung der ersten Baumfällarbeiten mitbekommen. Um sich einen Überraschungseffekt zu sichern, hatte Stuttgarts Polizeichef Siegfried Stumpf den Einsatz fünf Stunden vorverlegen lassen. Dann fehlte an jenem Morgen zum geplanten Beginn der Absperrung eine Hundertschaft aus Bayern, eine andere kam später wegen einer Panne auf der Autobahn. Die Parkschützer lösten ihren SMS-Alarm aus, mobilisierten in Windeseile über 1000 Menschen in den Schlosspark, und der Überraschungseffekt war dahin.

 

Verschieben "taktisch günstiger"


Ein Worst-Case-Szenario ergab sich an jenem Donnerstag womöglich nicht erst, als Pfefferspray, Schlagstöcke und Wasserwerfer ab 11:53 Uhr freigegeben und eingesetzt wurden, sondern war zuvor eingetreten, weil mehr als hundert dringend benötigte Polizeibeamte schlicht zu spät kamen. Ein solches Szenario mag Landespolizeipräsident Hamann im Sinn gehabt haben, als er am 29. September, nachdem der Zeitpunkt durchgesickert war, dazu riet, den Einsatz "auf einen taktisch günstigeren Zeitpunkt zu verschieben". Denn der "Überraschungseffekt" war "hinfällig", und sollten ein paar Tausend Gegner im Park sein, wäre "mit verhältnismäßigen Mitteln eine Räumung und damit ein Beginn der Fällarbeiten nicht möglich".

 

Mit dieser Verhältnismäßigkeit beschäftigt sich die Justiz seit neun Monaten. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart prüft diese Frage, wie auch das Verwaltungsgericht Stuttgart. Noch zwei Tage vor dem Schwarzen Donnerstag hieß es in einer "Notiz an den Ministerpräsidenten", dass am 30. September mit "erheblichem u. U. gewalttätigem Widerstand" zu rechnen sei. Aber nach Beginn der Polizeiaktion kam für die Behörden "ein Abbruch nur im Notfall in Betracht". Vorher jedoch müsste geklärt sein, ob "mit äußerstem Widerstand gerechnet werden müsste". Und danach sah es für die Polizei nicht aus.

 

Juristen legen ihre Worte und die der anderen gerne auf die Goldwaage. Sie werden in Tausenden von Seiten Aktenmaterial vielleicht klären, wann wer was wusste, vielleicht auch ahnte, und sie werden vielleicht solche Begrifflichkeiten erläutern, was ein erheblicher, ein gewalttätiger oder ein äußerster Widerstand ist und welcher dieser Widerstände zum Einsatz der äußersten Gegenmittel berechtigt.

 

In welcher Atmosphäre diese Gegenmittel eingesetzt wurden, verdeutlichen einige Fetzen aus Hunderten von Polizeifunkprotokollen, die gegenüber einer breiten Öffentlichkeit bislang noch als "Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch" eingestuft sind. Da ist zwischen Polizeiführung und Einsatzkräften live vor Ort die Rede davon, dass die Gitterabsperrung für die Fällarbeiten in einem "sehr rustikalen" und "sehr harten Einsatz" ausdrücklich "konsequent" durchgesetzt werden muss.

 

(Zur Erklärung: Das Rufzeichen Halde 100 oder nur 100 stand am 30. September 2010 für Polizeipräsident Siegfried Stumpf oder seine Vertreter, 202 war der leitende Beamte "Raumschutz/Demo", 303 der Chef der sogenannten Sonderlagen.)


Zeitraum von 12:54:14 bis 12:56:33 Uhr


100: Halde 303 von Halde 100.

303: Halde 303 hört.

100: Ja, geben Sie doch bitte noch mal eine Lage.

303: Ja, und zwar, ähm, ah, sind einzelne Personen jetzt durch den Wasserwerfer, ah, benetzt worden. Ein Großteil der Personen ist jetzt auch nass. Wir führen jetzt Kräfte zu und, äh, und machen dann den Weg für den Wasserwerfer frei.

100: Verstanden, und wie sieht es mit dem Auftrag der Gitterlinie aus?

303: Da kommt jetzt eine weitere Hundertschaft, die uns Gitter vom Innenbereich aus dem Bereich ZOB in die Absperrung stellt. Aufseiten des Ferdinand-Leitner-Stegs stehen sie schon soweit. Jetzt müssen wir die Gitterlinie von der anderen Seite, vom Biergarten her, äh, voll schieben.

100: Also, der Aufbau der Gitterlinie und Absperrung hat oberste Priorität.

303: Ja, klar.

100: Wie viel Meter Gitterlinie fehlen jetzt noch?

303: 100, wie viel Gitter wir noch stellen müssen, ist das richtig?

100: Die Frage war, wie viel Meter Gitterlinie fehlen?

303: Einen Moment.

303: Halde 100 von 303.

100: 100 hört.

303: Ja, ein Drittel der Gitter sind gestellt.

 

13:16:19 bis 13:17:34 Uhr


202: 100 für 202.

100: 202 ... mir Halde.

202: Ja, folgende Lage hier im Biergarten: ca. 1400 Personen, die wir jetzt beiseite räumen müssen, damit wir die Lkw mit den Gittern in den sicheren Bereich bekommen.

100: Verstanden.

100: Frage: Ist Ihnen das möglich, durchaus in einem konsequenten Einsatz, gegebenenfalls unter Anordnung eines WaWe-Einsatzes?

202: WaWe spritzt schon.

100: Verstanden.

202: Er sprüht, er spritzt nicht, er sprüht.

100: Ja, aber er soll Wirkung erzielen.

 

13:17:34 bis 13:18:56 Uhr


202: Halde 100 für 202.

100: 100 hört.

202: Ja, bekannt ist, also die Störer teilen sich in drei Blöcke auf, ca. 200 sind in der Außenbewirtschaftung des Biergartens, ca. 800 stehen auf dem Weg aus Richtung Hauptbahnhof, ca. 400 stehen vor unseren Gitterfahrzeugen und Wasserwerfer. Wir kämpfen uns durch die ersten 400 hindurch, damit wir die Gitter im gesicherten Bereich haben.

100: Ja, verstanden.

202: Ihnen zur Kenntnis: das wird sehr rustikal.

100: 202 von 100: Sie wurden unterbrochen.

202: Ihnen zur Kenntnis, das wird ein sehr harter Einsatz.

100: Frage 202: Gibt es eine Alternative der Gitterabsperrung oder nicht? Wenn nicht, dann müssen wir sie versuchen mit allen den zur Verfügung stehenden Kräften durchzusetzen, weil die Gitterlinie für uns das A und O ist. Wir müssen konsequent durchsetzen.

 

14:00:52 bis 14:08:28 Uhr


202: 100 für 202.

100: 100 hört.

202: Ja, wir haben jetzt soweit eine Absperrungslinie gebildet, unten beim Biergarten. Momentan genügend Kräfte. Wir tun jetzt die Kette etwas expandieren.

100: Ja, verstanden. Frage: Bedingt das einen weiteren WaWe-Einsatz? Nur zur meiner Information.

202: Dies bedingt auf jeden Fall einen weiteren WaWe-Einsatz, weil, auf dem Weg stehen jetzt ca. 1000 Personen, die sich uns in den Weg stellen in Richtung Orgelpfeifen hoch.

202: 100 für 202, haben Sie ge ...

100: Hier 100, ich hatte keinen Funk drauf, wiederholen Sie kurz.

202: Ja, wir haben jetzt die Menge zurückgedrängt in den Biergarten und den Platz vor dem Biergarten für unsere Kräfte zum Ausbauen genommen. Wir drängen jetzt hoch in Richtung Orgelpfeifen.

100: Verstanden.

202: 100 für 202.

100: Frage, wurde 100 gerufen?

202: Hier Halde 202 mit einer Durchsage: Ein verletzter Kollege, und zwar durch Pfefferspray-Einsatz von Gegenüber.

100: Verstanden 202.

202: 100 für 202.

100: 100 hört.

202: Nächster verletzter Kollege durch Pfefferspray-Einsatz von Gegenüber.

100: Verstanden.

202: Frage für 202 an 100: Dürfen wir auch Pfefferspray einsetzen? ... Ich wiederhole: Wir dürfen Pfefferspray einsetzen?

100: Richtig. Wenn das Gegenüber so vorgeht, dann ist es auch bei uns frei.

202: Ich habe klar.

202: 100 für 202.

100: 100 hört.

202: Ja, wir gehen jetzt mit Wasserwerfer vor, in Richtung Orgelpfeifen, und schieben die Menge vor uns her. Die lockert sich jetzt etwas auf im Wasserstrahl.

100: Verstanden.

202: 100 für 202.

100: 100 hört.

202: Ihnen zu Kenntnis, es wird nicht gesprüht, sondern richtig gestrahlt.

100: Verstanden.

 

Als diese Funksequenz um 14:08 Uhr endete, war Dietrich Wagner schon auf dem Weg ins Krankenhaus. Dietrich Wagner, der heute nur noch acht Prozent Sehfähigkeit besitzt und den damals um 13:47 Uhr ein Wasserstrahl aus kürzester Entfernung mit einem Druck von 16 bar ins Gesicht traf. Sein Bild ging um die Welt. Seine blutenden Augen haben sich so sehr ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, dass dieses Bild nicht mehr gezeigt werden muss. Es erscheint in der Sekunde in den Köpfen, in der man davon spricht.

 

Alle Aufforderungen, den Platz zu verlassen, nicht beachtet


Wie es zu dieser Katastrophe kam, ist ungeklärt. Dass der Rentner Dietrich Wagner alle Aufforderungen, den Platz zu verlassen, alle Hinweise, sich selbst zu gefährden, wenn er bliebe, missachtet habe, reicht nicht als Erklärung. 16 bar Wasserdruck sind wie eine Waffe. Wenn sich der Rentner und manch andere tatsächlich einer strafbaren Nötigung oder Widerstands gegenüber Polizeibeamten schuldig gemacht hätten und wenn dies gerichtsfest bewiesen wäre, verdienten sie eine vom Gericht ausgesprochene Strafe. Es gibt – außer einer möglichen Fahrlässigkeit in der Fahrerkabine des Wasserwerfers – keinen Grund, einen Menschen mit 16 bar aus kürzester Entfernung im Gesicht zu treffen. Es darf keinen geben. Es gibt aber hunderte von Stunden Filmmaterial, aus allen Winkeln, von allen Seiten und von allen Zeiten. Es liegt an der Justiz zu klären und zu erklären, ob im Fall Wagner der Rentner in den Wasserstrahl lief oder ob dieser Wasserstrahl von Polizeibeamten in sein Gesicht gelenkt wurde und dann daraus strafrechtliche Konsequenzen zu ziehen sind. Bislang ist das nicht geschehen. Stattdessen war versucht worden, über angebliche Zeugen dem Rentner einen Stein in die Hand zu legen und anzudichten, den er angeblich geworfen haben soll.

 

Tatsächlich hatte er, wie andere, Kastanien geworfen. Ein Strafverfahren gegen ihn wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte hatte die Staatsanwaltschaft Stuttgart eingestellt, "weil die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre". Noch lassen die Strafverfolger offen, wer für diese "Folgen" verantwortlich ist und ob sie auf diese Frage je eine Antwort finden wollen.

 

Staatsanwalt spürt Druck aus der Bevölkerung


Denn so schnell gegen den Rentner ermittelt worden war, so langsam laufen staatsanwaltschaftliche Recherchen gegen Polizeibeamte. Es sind nicht mehr als Recherchen. Es gibt laut Sprecherin Claudia Krauth keine förmlichen Ermittlungsverfahren. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler hatte vor vielen Wochen in einem Interview erklärt, das Verhalten der Polizei am 30. September sei "nicht offensichtlich rechtswidrig" gewesen. Ein Präjudiz? Kann diese Staatsanwaltschaft noch unabhängig ermitteln?

 

Sie kann, sagt ihre Sprecherin Claudia Krauth. Das Wörtchen "offensichtlich" bedeute "auf den ersten Blick" und sei "juristisch korrekt", weswegen sich ihre Behörde mit einem zweiten Blick Monate Zeit lässt. "Wir spüren den Druck, dass die Bevölkerung Antworten sucht", sagt sie. Aber die Staatsanwaltschaft habe den Anspruch, "sauber und richtig" zu arbeiten. Wie lange das dauert, sei "im Moment nicht absehbar". Und solange heilt diese Wunde nicht.