Gestern hielten wir eine Rede zum Thema Antisemitismus im Rahmen der Demonstration zum Tag der Befreiung vom Faschismus in Witten. Eine Erstfassung dieser Rede hielten wir bereits auf einer Kundgebung zum Gedenken an die Befreiung des KZ Auschwitz.
Liebe Passantinnen und Passanten,
liebe Mitdemonstrantinnen und Mitdemonstranten,
in unserer Rede soll es um die zentrale Ideologie des Nationalsozialismus gehen. Die Ideologie, die die Ermordung von Millionen von Menschen in Konzentrationslagern ermöglichte. Es geht um den Antisemitismus. Darum, wie er als Ideologie funktioniert und wirkt, auf welchen Dynamiken er aufbaut und welche er erzeugt. Allein das Thema unserer Rede ist ein zweischneidiges Schwert. Wie sollen wir über ein historisch einmaliges Verbrechen gegen die Menschlichkeit reden, indem wir es rationalisieren, das heißt, erklärbar machen. Liegt darin nicht immer schon ein Ansatz von Entschuldigung und Entlastung der Täterinnen und Täter?
Andererseits: das in der BRD staatlich zelebrierte Gedenken an den Holocaust klammert die Suche nach Ursachen aus. Die unbeantwortete Frage „Wie konnte das passieren?“ reicht in keiner Weise aus und entlastet eben auch die Verantwortlichen Menschen und Verhältnisse, indem sie sie eben nicht thematisiert. Es reicht auch nicht einfach nach „mehr Toleranz“ zu verlangen, wenn man sich nicht einmal im Ernst mit den historischen, sozialen und ideologischen Entstehungsbedingungen des deutschen Faschismus auseinandergesetzt hat. Versucht man es nicht, argumentiert man Geschichtslos. Dann wird der Holocaust qualitativ das Gleiche wie alle möglichen anderen Massenmorde der Weltgeschichte. Und dass er das definitiv nicht ist, soll hier unbestritten sein.
Diese Rede wird es nicht schaffen auf die zahlreichen und komplexen Entstehungsbedingungen des Nationalsozialismus einzugehen. Sie soll einen Beitrag zu dieser Auseinandersetzung leisten, indem sie hier und heute einen zentralen Teil nationalsozialistischer und dumpfdeutscher Ideologie beleuchtet.
Der Antisemitismus bot der NSDAP ein Propagandamittel die Massen so zu mobilisieren, dass sie ihr 1932 tatsächlich zur parlamentarischen Mehrheit verhalfen. Aber war mehr als ein eine „propagandistische Nebelkerze“ mit der ein Sündenbock benannt werden sollte und die Massen verarscht wurden. Antisemitismus hatte bereits zu diesem Zeitpunkt eine lange Tradition. Ob nach der Gründerzeitkrise von 1873, der Niederlage im ersten Weltkrieg oder dann eben bei der Weltwirtschaftskrise von 1929 – die deutschen Massen macht Jüdinnen und Juden in hetzerischer Weise verantwortlich.
Jüdinnen und Juden wurden bereits seit Jahrhunderten in Europa verfolgt. Die antisemitische Dynamik, die sich im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte ist jedoch mit dem mittelalterlichen Antijudaismus nicht vergleichbar. Um der Frage nachzugehen, wie denn diese Dynamik funktioniert, beginnen wir beim bürgerlichen Individuum. In kapitalistischen Gesellschaften sind alle Individuen universell zueinander in Konkurrenz gesetzt. Die große Masse der Bevölkerung hat kein, oder sehr geringes Eigentum, an Produktionsmitteln und ist somit gezwungen ihre Arbeitskraft als Ware auf den Markt zu tragen. Was man genau produziert, wie es einem dabei geht und welchen Zweck das Ganze hat, spielt hierbei keine Rolle. Für den Kapitalisten geht es nur um die Akkumulation von Kapital, für den Arbeit nur darum seinen Lohn zu erhalten. Arbeit ist mit Gängelung, Stress, oftmals geringer Bezahlung verbunden. Die Verarbeitung dieses Arbeitsleides ist auf verschiedene Weisen möglich. Denkt man nicht konformistisch, könnte man seinen Chef, oder ein wenig fundierter, das Klassenverhältnis, die Wertvergesellschaftung, den Kapitalismus verantwortlich machen. Damit wäre auch verbunden, dass man ein kritisches, wenn nicht feindseliges, Verhältnis zu seiner eigenen Arbeit, die einem aufgezwungen ist, entwickelt. Das Bewusstsein der Massen im Kapitalismus ist jedoch meist ein konformistisches. Soll es das bleiben, so darf die Gesellschaftsordnung an sich nicht als Problem angesehen werden. Die Wut über die sozialen Probleme im Kapitalismus darf sich nicht auf die herrschende Klasse richten. Wer konform bleiben will identifiziert sich positiv mit seiner Arbeit, sieht sie selbstzweckhaft als moralischen Wert an. Der Kapitalist erscheint so ideologisch als Arbeitgeber, als jemand, der Arbeitsplätze schafft. Die Ursache für soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen, etc. muss also woanders liegen. Ein von außen kommendes personifizierbares Übel.
Wie man sieht werden grundlegende Denkformen des Antisemitismus durch die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebracht und müssen nicht von oben in das Denken implementiert werden. Auch wenn dies im Nationalsozialismus natürlich ebenfalls passiert ist.
In der Krise werden nicht die dem Kapitalismus immanenten Krisentendenzen für den aktuellen ökonomischen Einbruch verantwortlich gemacht. Es gibt einige fundierte Krisentheorien. Offensichtlich ist, dass Krisen im Kapitalismus Überproduktionskrisen sind, die Ursache also in der Realwirtschaft liegt. Trotzdem wird in der bürgerlichen Öffentlichkeit immer wieder das böse Finanzkapital als Krisenursache herangezogen. Individuelle Fehler einzelner Banker und Manager sollen es gewesen sein, die den Einbruch herbeigeführt haben. In dieser Rede soll es nicht um Krisentheorie gehen, sondern vielmehr um die ideologische Verkehrung von Ursache und Wirkung in der bürgerlichen Ideologie. Während man die eigene Gesellschaftsordnung unangetastet lässt, möchte man das „schaffende Kapital“ gegen das „raffende Kapital“ aus der Finanzwirtschaft verteidigen. Dass das sogenannte „schaffende Kapital“ ohne das Finanzkapital gar nicht – und sogar zunehmend weniger – auskommt, wird nicht mehr bedacht. Auf diesem Versuch der Identifikation von Krisenursachen als moralische Schwäche von einzelnen baut der Antisemitismus auf. Der Jude, so sagt der Antisemit, verdient Geld ohne zu abeiten, er rafft, er ist gierig und er kontrolliert durch seine Macht an der Börse die Weltwirtschaft.
Der Antisemitismus ist jedoch kein ökonomisches Phänomen. Der Jude ist für den Antisemiten die Figur des Dritten. Des Heimatlosen, der in der ganzen Welt sich unter die Völker mischt und sie gegeneinander aufhetzt. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion wurden in der NS-Ideologie insgeheim von den Juden kontrolliert. Auch die Kriegsniederlage im ersten Weltkrieg wurde in weiten Teilen Deutschlands und später durch die Nazis antisemitisch erklärt. Der Antisemitismus baut auf einem biologisch und kulturell rassistischen Weltbild auf. Der Jude in seinen Eigenschaften muss rassisch von den anderen Menschen unterscheidbar sein, um als absolutes, äußeres Übel erscheinen zu können. Gleichzeitig ist er eben der Dritte, jenseits der verschiedenen sogenannten Kulturkreisen stehende Unruhestifter und Volkszersetzer. Gleichzeitig läd ein kulturell rassistisches Weltbild zum Antisemitismus ein. Wer die Welt in saubere, angeblich natürlich gewachsene Kulturkreise einteilt, wird Probleme mit Jüdinnen und Juden haben, die jahrhunderte lang kein eigenes Gebiet hatten und deren aktuellen Staat Israel er als künstlich geschaffen diffamieren wird.
So viel zu den Grundlagen der antisemitischen Ideologie. Natürlich führt ein konformistisches Bewusstsein nicht automatisch zu antisemitischem Denken. In Krisenzeiten liegt es allerdings nahe auf diese Weise Schuldige zu suchen, ohne die Gesellschaftsordnung antasten zu müssen. Dort wo Rebellion gegen soziale Ungerechtigkeiten konformistisch wird, schlägt sich schnell in rassistische und antisemitische Sündenbocksuche um. Wir als radikale Linke sollten deshalb immer genau wissen, woran wir unsere Kritik festmachen. Diese darf ruhig radikal und deutlich sein. Sie muss sich auch nicht vormachen zu 100% moralfrei und rein rational zu sein, genau so wenig, wie sie nie personalisiert sein dürfte. Natürlich übersetzt sich die abstrakte Herrschaft im Kapitalismus in persönliche Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse. Wichtig ist jedoch zum einen, dass man eben rational begründen kann, wer wo warum und über wen herrscht und zum anderen dass sich kein Bewusstsein und keine Gesellschaftsordnung ändern wird, wenn man angeblich Verantwortliche an die nächste Laterne hängt.
Noch einmal ein kurzer Exkurs. Wie bereits am Anfang erwähnt wurde, war der Holocaust ein historisch einmaliges Verbrechen. Ihm voraus ging jahrhundertelange Judenverfolgung, sowie ein in ganz Europa florierender Antisemitismus. Jüdinnen und Juden waren der Sündenbock, sie waren Freiwild in Europa. Wenn sich Holocaust überlebende Jüdinnen und Juden entschließen einen Staat zu gründen und diesen militärisch abzusichern, haben sie verdammt nochmal das Recht dazu. Das Existenzrecht keines Staates wurde in der Linken so viel in Frage gestellt, wie das von Israel. Nicht das der USA, nicht das des Iran und auch das deutsche nicht immer. Israel scheint vielen Deutschen nach wie vor ein Dorn im Auge, als nicht natürlich gewachsener Staat – wobei in Wahrheit natürlich kein Staat natürlich gewachsen ist. So erscheint im Antisemitismus nach Auschwitz Israel als der Jude unter den Staaten. Es gibt verschiedenste antizionistische Verschwörungstheorien, die de facto auch immer ins antisemitische hineinreichen. Faktenwidriger Weise wird behauptet, Israel sein ein künstlich vom Westen geschaffener Staat. Israel würde die USA und ihre Politik lenken. Dass diese Aussage antisemitisch ist, ist offensichtlich. Es wird ein Bild des Juden vorrausgesetzt, dass dieser von seiner Hochburg Israel aus die Welt regiert. Der Jude spanne ein Netz von Einflüssen um die ganze Welt und fungiere als Puppenspieler. Das Existenzrecht Israels sollte in der Linken nicht zur Debatte stehen.
2. Israel ist kein Staat wie jeder andere in der Hinsicht seiner Entstehung. Israel ist ein Staat wie jeder andere in der Hinsicht, dass es ein westlich-imperialistischer Nationalstaat ist, der Kriegsverbrechen begeht und ihm nicht zustehende Gebiete besetzt. Antiimperialistische Kritik an Israel und Solidarität mit den Palästinenserinnen und Palästinensern sollte sich jenseits von antizionistischen Positionen verorten können.
3. Wenn linke deutsche Jugendliche identitär mit Israelfahnen rumlaufen und Solidarität mit Israel gröhlen, ohne einen Bezug zu diesem Staat zu haben, ist das mehr als peinlich. Insbesondere dann, wenn man das Gefühl bekommt, hier möchten deutsche die Identität der Opfer annehmen, um sich von den kollektiv vererbten Gewissensbissen reinzuwaschen. Oder um ihre westliche, durch imperialistische Politik abgesicherte Lebensweise, unter dem Banner der Antisemitismusbekämpfung reinzuwaschen und endlich mal westliche Kriege rechtfertigen zu können. Oder um sich als den letzten Schrei der Radikalität zu fühlen und selbst in der radikalen Linken noch zu provozieren.
Zum Schluss: so rational man Erklärung für das Phänomen Antisemitismus finden kann, so sehr haben die Deutschen, die im NS mitgemacht haben individuelle Schuld und keine einzige legitime Erklärungsmöglichkeit für ihr Handeln. Zu verstehen, wie Menschen zu so etwas fähig sind, ist uns hier und heute sicher nicht möglich. Dennoch ist die aktive Auseinandersetzung mit Ursachen wichtig, um Adornos Imperativ zu folgen „alle Verhältnisse so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole“.
Gegen jeden Antisemitismus!
Für eine radikale Linke und zielgerichtete Gesellschaftskritik!
Gegen das Vergessen – im Gedenken an die Opfer des Holocaust