Der Funke fliegt in das Pulverfass: Ein Mord lässt in Moskau die Spannungen zwischen russischen Nationalisten und Kaukasiern eskalieren.
Am Morgen danach ist es am Kiewer Bahnhof wie immer um diese Zeit. Die Busse nehmen ihren Rhythmus auf, Arbeiter kehren den Schnee beiseite, eine erste Traube Menschen drängt sich vor dem Europäischen Einkaufszentrum, das in wenigen Minuten öffnet. Nur die vereinzelt wachenden Elitepolizisten in ihrer blauen Uniform wirken wie Rudimente eines stürmischen Abends. Mehr als 1300 Menschen wurden in Moskau festgenommen, die meisten von ihnen in der Gegend um den Kiewer Bahnhof. Kaukasier, die sich im Internet für den Abend zu einer Großkundgebung verabredet hatten, russische Nationalisten, die ihnen die Stirn bieten wollten. Gemessen an dieser hohen Zahl ist eigentlich wenig passiert.
Es gab Schlägereien hier und dort, auch in anderen Teilen der Hauptstadt, es gab Verletzte, und doch auch ein großes Aufatmen, dass die ganz großen Straßenschlachten ausgeblieben sind. Diesmal hat die Polizei hart durchgegriffen. Denn oft genug gibt es Tote, wenn Kaukasier und nationalistische Russen aufeinandertreffen. Aber die Nowaja Gaseta befürchtet, dass sich der Konflikt umso mehr vom Zentrum in die Vororte, in die Hinterhöfe verlagern könnte. Dass Moskau sich in das Grosny von 1999 verwandelt und nur schwer kontrollierbar ist.
Seit Jahren schon haben sich die ethnischen Spannungen in der russischen Hauptstadt aufgeladen, und irgendwann fliegt eben ein Funke in das Pulverfass. Das war Anfang voriger Woche. Bei einer Schlägerei zwischen Anhängern von Spartak Moskau und einer Gruppe Kaukasier wurde Jegor Swiridow von einem Mann aus Kabardino-Balkarien erschossen. Vier weitere beteiligte Kaukasier wurden kurz nach ihrer Festnahme freigelassen. Für Tausende Russen war dies das Fanal zum Protest. "Russland den Russen", "Moskau den Moskauern", skandierten sie, und als kurz darauf die beiden Lager am zentralen Manegeplatz aufeinander losgingen, war selbst die Polizei vor ihnen nicht mehr sicher.
Russland stellte kürzlich in seiner erfolgreichen Bewerbung für die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 auch die vielen verschiedenen Ethnien heraus, die in diesem großen Land miteinander leben. Aber häufig genug tun sie es auch missliebig. Einige stolze Russen stört es, dass fliegende Händler aus dem Kaukasus die Märkte in der russischen Hauptstadt dominieren. Ein großer Teil von ihnen ist angeblich nicht in Moskau registriert. Die Kaukasier stört es wiederum, dass sie von den Behörden unter Generalverdacht gestellt werden, und fast immer sind es neben den Asiaten aus den früheren Sowjetrepubliken die Kaukasier, tschornye, die "Schwarzen", wie sie genannt werden, die an den Metrobahnhöfen von der Miliz besonders genau kontrolliert werden. Die Gewalt im Nordkaukasus auf beiden Seiten, die Erfahrungen aus zwei Tschetschenien-Kriegen, Selbstmordattentäter in der Moskauer Metro, all dies schürt seit Jahren zusätzlich Misstrauen und Ressentiments, die ihre Auswüchse immer wieder in Schlägereien, Mord und Totschlag finden.
In seinem mehrstündigen, öffentlichen Dialog mit den Bürgern Russlands versuchte Ministerpräsident Wladimir Putin am Donnerstag, den gesellschaftlichen Konflikt zu zähmen, der längst das innere Gefüge der Gesellschaft belastet und mit Blick auf die Olympischen Spiele in Sotschi und die Fußball-WM auch das Ansehen Russlands gefährden könnte. Gleich in den ersten Fragen wurde er mit den Unruhen von Moskau und "der Zügellosigkeit der Kaukasier" konfrontiert. Putin antwortete, "wir sind Kinder eines Landes und wenn wir es komfortabel haben wollen, müssen wir uns verantwortungsvoll verhalten". Man dürfe weder die Kaukasier noch die Menschen anderer Nationalitäten über einen Kamm scheren. "Dies gilt auch für die Miliz."
Aber an die Wurzeln reichte er damit noch nicht, und Gründe für die Spannungen gibt es viele. Der Soziologe Dmitrij Badowskij betonte am Donnerstag in einer Analyse der Zeitung Wedomosti, dass für eine moderne russische Politik eine unabhängige und gerechte Justiz geschaffen werden müsse und zugleich eine Polizei, die effektiv ist und das Vertrauen der Gemeinschaft habe. Denn wenn auch immer ein aserbaidschanischer Hausmeister oder ein armenischer Student von russischen Extremisten getötet wird oder aber ein Kaukasier eine Waffe zückt - die Zahl der aufgeklärten Verbrechen ist offensichtlich zu gering, als dass sie einen Gewalttäter abschrecken könnte. Der starke Staat, die Ordnung, die Putin gern proklamiert, ist für viele im Alltag oft nicht sichtbar.
Der stellvertretende Fraktionschef der Partei Gerechtes Russland, Gennadij Gudkow, hält die Proteste für den Ausfluss eines "riesigen Negativums", das sich in die Jugend grabe. Er nennt die "totale Korruption", den Anstieg der Preise, die fehlenden Möglichkeiten der Menschen, auf die Situation im Land Einfluss zu nehmen. Nicht zufällig wohl werden viele Überfälle in einer Gruppe verübt, die den Einzelnen deutlich größer macht. Die Zahl fremdenfeindlicher Nationalisten wird in Russland bereits auf mehrere Zehntausend geschätzt. Die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte von Präsident Dmitrij Medwedjew, Ella Pamfilowa, forderte nun die politische Führung dazu auf, die Perspektivlosigkeit zu beenden und eine "normale Jugendpolitik" zu betreiben. Es gebe allein die vom Kreml unterstützte regierungstreue Jugendbewegung "Naschi"; den übrigen Teil der jungen Bevölkerung aber "bildet die passive Mehrheit", um die sich der Staat nicht kümmere. Bis zum Fanatismus ist für viele der Weg dann offenbar nicht mehr weit.