Abschotten, abwälzen, abschieben

Erstveröffentlicht: 
01.11.2010

BERLIN (Eigener Bericht) - Am morgigen Dienstag beginnen EU-Polizeitrupps unter deutscher Beteiligung mit der Jagd auf Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze. Der erste Einsatz der sogenannten Schnellen Grenz-Eingreifgruppen (Rapid Border Intervention Teams, RABITs) wird eingeleitet, nachdem das Asylsystem Griechenlands praktisch kollabiert ist: Die Regularien der EU übertragen die Aufnahme von Flüchtlingen de facto den Staaten an der europäischen Außengrenze; Athen ist damit inzwischen völlig überlastet. Dabei führen die Abschottung des Mittelmeers sowie die italienischen Massenabschiebungen nach Libyen dazu, dass die Zahl der Flüchtlinge, die auf dem Landweg über Griechenland in die EU einzureisen suchen, deutlich zunimmt. Zur weiteren Abschottung errichtet Libyen jetzt an seiner Seegrenze mit EU-Mitteln ein Radarsystem, das selbst kleinste Flüchtlingsboote penibel aufspüren kann. Die Proteste von Menschenrechtsorganisationen gegen die deutsch-europäische Flüchtlingsabwehr dauern an: Berlin und Brüssel handelten nicht nach Erfordernissen des Flüchtlingsschutzes, sondern nach dem Motto "abschotten, abwälzen, abschieben", urteilt etwa Amnesty International. Auch die UNO erhebt Beschwerde.

 

RABITs
Wie die EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex mitteilt, wird sie am morgigen Dienstag mit der Entsendung von "Schnellen Grenz-Eingreifgruppen" (Rapid Border Intervention Teams, RABITs) an die griechisch-türkische Grenze beginnen. Insgesamt werden 175 Grenzkontrollspezialisten im Einsatz sein, um gemeinsam mit dem zuständigen griechischen Personal Flüchtlinge aufzugreifen und sie an der Einreise in die EU zu hindern. Neben dem für das Aufspüren und den Abtransport der Flüchtlinge nötigen Gerät, darunter Busse, Patrouillenfahrzeuge und ein Hubschrauber, sorgt Frontex unter anderem für Experten zur Identifizierung gefälschter Papiere, für Hundeführer und für Interviewspezialisten, die geschult sind, die Herkunftsländer von Flüchtlingen zu überprüfen. Bei dem Einsatz handelt es sich um die erste Entsendung von RABITs überhaupt. Diese wurden schon vor einiger Zeit aufgestellt, um an den Außengrenzen der EU einzugreifen, sobald die nationale Flüchtlingsabwehr nicht die gewünschten Erfolge erzielt. Rein formell unterstehen die entsandten Beamten dem Einsatzland; tatsächlich halten sie aber auch Kontakt zu den jeweiligen nationalen Entsendebehörden. Deutschland beteiligt sich mit Personal und mit Material an der aktuellen Intervention.[1]

Dublin II
Der Einsatz an der Außengrenze Griechenlands folgt dem faktischen Zusammenbruch des griechischen Asylsystems. Aufgrund von EU-Regularien, die Deutschland durchgesetzt hat, um selbst eine möglichst große Zahl Flüchtlinge abschieben zu können, sind für deren Aufnahme und für die Bearbeitung etwaiger Asylanträge diejenigen Staaten zuständig, über die die Flüchtlinge in die EU eingereist sind ("Dublin II-Verordnung", german-foreign-policy.com berichtete [2]). Nach Lage der Dinge sind dies insbesondere die Länder an den Außengrenzen der EU, unter ihnen etwa Griechenland. Die sogenannten Übernahmeersuchen Deutschlands an Griechenland, also die Fälle, in denen die deutschen Behörden Flüchtlinge wegen der Dublin II-Verordnung nach Griechenland abzuschieben suchten, stiegen von 512 Fällen im Jahr 2007 über 800 im Jahr 2008 auf 2.288 2009. Im ersten Halbjahr 2010 behaupteten deutsche Stellen, sie seien für 4.541 von 15.579 bei ihnen gestellten Asylerstanträgen nicht zuständig; mindestens 1.252 davon habe Athen zu bearbeiten.[3] Die Lage in Athen, das die Flüchtlinge aus den westeuropäischen Wohlstandszentren übernehmen muss, ist desolat, zumal der griechische Staatshaushalt ohnehin stark zusammengestrichen werden soll. Wie die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl urteilt, ist die "fortdauernde humanitäre Krise" und der "völlige(...) Kollaps des griechischen Asylsystems" "vor allem auch ein Resultat fehlender Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme innerhalb der Europäischen Union".[4]

Die Abschottung wirkt
Erschwerend kommt für Griechenland hinzu, dass die massiven Abschottungsmaßnahmen der EU im Mittelmeer inzwischen Wirkung zu zeigen beginnen. Wie es in einem Bericht heißt, den jüngst die EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex veröffentlichte, hat zwar auch die Wirtschaftskrise mit dem Mangel an Arbeitsplätzen in Europa die Immigration leicht gebremst. Vor allem jedoch machten sich nun Übereinkünfte bemerkbar, die Italien mit Libyen und Spanien mit Senegal sowie mit Mauretanien getroffen hätten; sie hätten die "Migrationsströme" vom westlichen und zentralen ins östliche Mittelmeer umgelenkt.[5] Weil Frontex mittlerweile ihre Meerpatrouillen in der Ägäis stark ausgeweitet habe ("Operation Poseidon"), suchten immer mehr Flüchtlinge über Land in die EU einzureisen - über die griechisch-türkische Grenze. Insgesamt verzeichne Griechenland heute gut 90 Prozent der entdeckten illegalen Einreisen in die EU; täglich kämen bis zu 350 Migranten auf dem Landwege an.[6]

Im eigenen Wirtschaftskreislauf
Eine Umkehr dieser Tendenz ist gegenwärtig nicht in Sicht - zumal die EU kürzlich in Grundzügen einen neuen Flüchtlingsabwehrpakt mit Libyen geschlossen hat (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Demnach wird Tripolis in den nächsten drei Jahren 50 Millionen Euro erhalten, um seine Grenzen weiter abzuschotten und Flüchtlingslager zu bauen. Ein erstes Vorhaben ist Mitte Oktober in die Wege geleitet worden. Demnach wird das in Irland ansässige Unternehmen Transas Marine über seine französische Filiale ein hochmodernes Radarsystem an der libyschen Küste installieren, das diese auf ihrer gesamten Länge von fast 2.000 Kilometern überwachen kann. Es werde kleine Boote, wie sie Migranten oft benutzten, ohne Schwierigkeiten entdecken, erklärt Transas Marine.[8] Die Kosten belaufen sich auf mehr als 20 Millionen Euro; damit fließen mehr als zwei Fünftel der europäischen 50-Millionen-Flüchtlingsabwehrhilfe an Libyen unmittelbar in den europäischen Wirtschaftskreislauf zurück.

Frontex Operational Office
Um die Abschottung auch in Griechenland voranzutreiben, hat die EU-Flüchtlingsabwehrbehörde am 1. Oktober im griechischen Piräus das erste "Frontex Operational Office" (FOO) eröffnet. Der Behörde zufolge handelt es sich dabei um ein Pilotprojekt, das die regionalen Kapazitäten bei der Abwehr von Einwanderern ausbauen soll. "FOO ist ein absolut notwendiges Element der Entwicklung von Frontex", erklärt der zuständige Frontex-Abteilungsleiter: "Ein Fehlschlag dieses Zentrums steht nicht zur Wahl." Neben dem FOO in Piräus, das unmittelbar beim Hauptquartier der griechischen Küstenwache angesiedelt ist, würden noch drei weitere "Operational Offices" eingerichtet, heißt es bei der Behörde, die sich dabei auf die "europäische Solidarität" beruft - nicht beim Flüchtlingsschutz, sondern beim Kampf gegen Flüchtlinge.[9] Zusätzlich bemüht sich Frontex-Exekutivdirektor Ilkka Laitinen, zusätzliche Kompetenzen für seine Behörde zu erhalten. Er hoffe, dass seine Behörde künftig eine noch "effizientere und effektivere Rolle spielen" dürfe, erklärte Laitinen keine drei Wochen nach Inbetriebnahme des FOO.[10]

Kompromittiert
Bei Menschenrechtsorganisationen stoßen Berlin und Brüssel mit ihrer brutalen Flüchtlingsabwehr weiterhin auf scharfen Protest. "Abschotten, abwälzen, abschieben - so interpretieren die EU und Deutschland den Flüchtlingsschutz", urteilt etwa Amnesty International; die Bundesregierung ziele vor allem darauf ab, Migranten abzuwehren.[11] Die jüngste Ausweitung der Frontex-Operationen bestätigt genau dies: So wird die see- und landgestützte Jagd auf Migranten von einer "Operation Attica" ergänzt, mit der die Abschiebung von Flüchtlingen per Flugzeug nun deutlich beschleunigt werden soll. Angesichts der aktuellen Entsendung der ersten Frontex-RABITs äußert jetzt auch die UNO deutliche Kritik. Wie die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR erklärt, dürfe das "Recht auf Asyl nicht kompromittiert werden".[12] Dass diese Forderung bei der beginnenden EU-Flüchtlingsjagd an der griechisch-türkischen Grenze nicht angemessen berücksichtigt werden kann, ist offensichtlich.




[1] Frontex to Deploy 175 Specialist Border Personnel to Greece; www.frontex.europa.eu 29.10.2010
[2] s. dazu Eins zu zehn, Interview mit Karl Kopp und Land ohne Flüchtlinge
[3] Zahlen zu Dublinverfahren Griechenland; www.proasyl.de 28.10.2010
[4] PRO ASYL zur aktuellen Entwicklung in Griechenland; www.proasyl.de
[5] FRAN Quarterly Issue 2, April-June 2010; www.frontex.europa.eu
[6] Frontex deploys Rapid Border Intervention Teams to Greece; www.frontex.europa.eu 25.10.2010
[7] s. dazu Erfüllungsgehilfen
[8] Libya buys coastal monitoring system; www.maltatoday.com.mt 15.10.2010
[9] Frontex Operational Office Opens in Piraeus; www.frontex.europa.eu 01.10.2010
[10] Frontex Head Calls for More Powers to Detect and Prevent Human Trafficking; www.frontex.europa.eu 18.10.2010
[11] Abschotten, abwälzen, abschieben - Europas Interpretation von Flüchtlingsschutz; www.amnesty.de 29.09.2010
[12] EU sending 175 armed guards to Greek-Turkish border; euobserver.com 30.10.2010