BERLIN (Eigener Bericht) - Am morgigen Dienstag beginnen
EU-Polizeitrupps unter deutscher Beteiligung mit der Jagd auf
Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze. Der erste Einsatz der
sogenannten Schnellen Grenz-Eingreifgruppen (Rapid Border Intervention
Teams, RABITs) wird eingeleitet, nachdem das Asylsystem Griechenlands
praktisch kollabiert ist: Die Regularien der EU übertragen die Aufnahme
von Flüchtlingen de facto den Staaten an der europäischen Außengrenze;
Athen ist damit inzwischen völlig überlastet. Dabei führen die
Abschottung des Mittelmeers sowie die italienischen Massenabschiebungen
nach Libyen dazu, dass die Zahl der Flüchtlinge, die auf dem Landweg
über Griechenland in die EU einzureisen suchen, deutlich zunimmt. Zur
weiteren Abschottung errichtet Libyen jetzt an seiner Seegrenze mit
EU-Mitteln ein Radarsystem, das selbst kleinste Flüchtlingsboote penibel
aufspüren kann. Die Proteste von Menschenrechtsorganisationen gegen die
deutsch-europäische Flüchtlingsabwehr dauern an: Berlin und Brüssel
handelten nicht nach Erfordernissen des Flüchtlingsschutzes, sondern
nach dem Motto "abschotten, abwälzen, abschieben", urteilt etwa Amnesty
International. Auch die UNO erhebt Beschwerde.
RABITs
Wie die EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex mitteilt,
wird sie am morgigen Dienstag mit der Entsendung von "Schnellen
Grenz-Eingreifgruppen" (Rapid Border Intervention Teams, RABITs) an die
griechisch-türkische Grenze beginnen. Insgesamt werden 175
Grenzkontrollspezialisten im Einsatz sein, um gemeinsam mit dem
zuständigen griechischen Personal Flüchtlinge aufzugreifen und sie an
der Einreise in die EU zu hindern. Neben dem für das Aufspüren und den
Abtransport der Flüchtlinge nötigen Gerät, darunter Busse,
Patrouillenfahrzeuge und ein Hubschrauber, sorgt Frontex unter anderem
für Experten zur Identifizierung gefälschter Papiere, für Hundeführer
und für Interviewspezialisten, die geschult sind, die Herkunftsländer
von Flüchtlingen zu überprüfen. Bei dem Einsatz handelt es sich um die
erste Entsendung von RABITs überhaupt. Diese wurden schon vor einiger
Zeit aufgestellt, um an den Außengrenzen der EU einzugreifen, sobald die
nationale Flüchtlingsabwehr nicht die gewünschten Erfolge erzielt. Rein
formell unterstehen die entsandten Beamten dem Einsatzland; tatsächlich
halten sie aber auch Kontakt zu den jeweiligen nationalen
Entsendebehörden. Deutschland beteiligt sich mit Personal und mit
Material an der aktuellen Intervention.[1]
Dublin II
Der Einsatz an der Außengrenze Griechenlands folgt dem
faktischen Zusammenbruch des griechischen Asylsystems. Aufgrund von
EU-Regularien, die Deutschland durchgesetzt hat, um selbst eine
möglichst große Zahl Flüchtlinge abschieben zu können, sind für deren
Aufnahme und für die Bearbeitung etwaiger Asylanträge diejenigen Staaten
zuständig, über die die Flüchtlinge in die EU eingereist sind ("Dublin
II-Verordnung", german-foreign-policy.com berichtete [2]). Nach Lage der
Dinge sind dies insbesondere die Länder an den Außengrenzen der EU,
unter ihnen etwa Griechenland. Die sogenannten Übernahmeersuchen
Deutschlands an Griechenland, also die Fälle, in denen die deutschen
Behörden Flüchtlinge wegen der Dublin II-Verordnung nach Griechenland
abzuschieben suchten, stiegen von 512 Fällen im Jahr 2007 über 800 im
Jahr 2008 auf 2.288 2009. Im ersten Halbjahr 2010 behaupteten deutsche
Stellen, sie seien für 4.541 von 15.579 bei ihnen gestellten
Asylerstanträgen nicht zuständig; mindestens 1.252 davon habe Athen zu
bearbeiten.[3] Die Lage in Athen, das die Flüchtlinge aus den
westeuropäischen Wohlstandszentren übernehmen muss, ist desolat, zumal
der griechische Staatshaushalt ohnehin stark zusammengestrichen werden
soll. Wie die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl urteilt, ist die
"fortdauernde humanitäre Krise" und der "völlige(...) Kollaps des
griechischen Asylsystems" "vor allem auch ein Resultat fehlender
Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme innerhalb der Europäischen
Union".[4]
Die Abschottung wirkt
Erschwerend kommt für Griechenland hinzu, dass die
massiven Abschottungsmaßnahmen der EU im Mittelmeer inzwischen Wirkung
zu zeigen beginnen. Wie es in einem Bericht heißt, den jüngst die
EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex veröffentlichte, hat zwar auch die
Wirtschaftskrise mit dem Mangel an Arbeitsplätzen in Europa die
Immigration leicht gebremst. Vor allem jedoch machten sich nun
Übereinkünfte bemerkbar, die Italien mit Libyen und Spanien mit Senegal
sowie mit Mauretanien getroffen hätten; sie hätten die
"Migrationsströme" vom westlichen und zentralen ins östliche Mittelmeer
umgelenkt.[5] Weil Frontex mittlerweile ihre Meerpatrouillen in der
Ägäis stark ausgeweitet habe ("Operation Poseidon"), suchten immer mehr
Flüchtlinge über Land in die EU einzureisen - über die
griechisch-türkische Grenze. Insgesamt verzeichne Griechenland heute gut
90 Prozent der entdeckten illegalen Einreisen in die EU; täglich kämen
bis zu 350 Migranten auf dem Landwege an.[6]
Im eigenen Wirtschaftskreislauf
Eine Umkehr dieser Tendenz ist gegenwärtig nicht in
Sicht - zumal die EU kürzlich in Grundzügen einen neuen
Flüchtlingsabwehrpakt mit Libyen geschlossen hat
(german-foreign-policy.com berichtete [7]). Demnach wird Tripolis in den
nächsten drei Jahren 50 Millionen Euro erhalten, um seine Grenzen
weiter abzuschotten und Flüchtlingslager zu bauen. Ein erstes Vorhaben
ist Mitte Oktober in die Wege geleitet worden. Demnach wird das in
Irland ansässige Unternehmen Transas Marine über seine französische
Filiale ein hochmodernes Radarsystem an der libyschen Küste
installieren, das diese auf ihrer gesamten Länge von fast 2.000
Kilometern überwachen kann. Es werde kleine Boote, wie sie Migranten oft
benutzten, ohne Schwierigkeiten entdecken, erklärt Transas Marine.[8]
Die Kosten belaufen sich auf mehr als 20 Millionen Euro; damit fließen
mehr als zwei Fünftel der europäischen
50-Millionen-Flüchtlingsabwehrhilfe an Libyen unmittelbar in den
europäischen Wirtschaftskreislauf zurück.
Frontex Operational Office
Um die Abschottung auch in Griechenland
voranzutreiben, hat die EU-Flüchtlingsabwehrbehörde am 1. Oktober im
griechischen Piräus das erste "Frontex Operational Office" (FOO)
eröffnet. Der Behörde zufolge handelt es sich dabei um ein Pilotprojekt,
das die regionalen Kapazitäten bei der Abwehr von Einwanderern ausbauen
soll. "FOO ist ein absolut notwendiges Element der Entwicklung von
Frontex", erklärt der zuständige Frontex-Abteilungsleiter: "Ein
Fehlschlag dieses Zentrums steht nicht zur Wahl." Neben dem FOO in
Piräus, das unmittelbar beim Hauptquartier der griechischen Küstenwache
angesiedelt ist, würden noch drei weitere "Operational Offices"
eingerichtet, heißt es bei der Behörde, die sich dabei auf die
"europäische Solidarität" beruft - nicht beim Flüchtlingsschutz, sondern
beim Kampf gegen Flüchtlinge.[9] Zusätzlich bemüht sich
Frontex-Exekutivdirektor Ilkka Laitinen, zusätzliche Kompetenzen für
seine Behörde zu erhalten. Er hoffe, dass seine Behörde künftig eine
noch "effizientere und effektivere Rolle spielen" dürfe, erklärte
Laitinen keine drei Wochen nach Inbetriebnahme des FOO.[10]
Kompromittiert
Bei Menschenrechtsorganisationen stoßen Berlin und
Brüssel mit ihrer brutalen Flüchtlingsabwehr weiterhin auf scharfen
Protest. "Abschotten, abwälzen, abschieben - so interpretieren die EU
und Deutschland den Flüchtlingsschutz", urteilt etwa Amnesty
International; die Bundesregierung ziele vor allem darauf ab, Migranten
abzuwehren.[11] Die jüngste Ausweitung der Frontex-Operationen bestätigt
genau dies: So wird die see- und landgestützte Jagd auf Migranten von
einer "Operation Attica" ergänzt, mit der die Abschiebung von
Flüchtlingen per Flugzeug nun deutlich beschleunigt werden soll.
Angesichts der aktuellen Entsendung der ersten Frontex-RABITs äußert
jetzt auch die UNO deutliche Kritik. Wie die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR
erklärt, dürfe das "Recht auf Asyl nicht kompromittiert werden".[12]
Dass diese Forderung bei der beginnenden EU-Flüchtlingsjagd an der
griechisch-türkischen Grenze nicht angemessen berücksichtigt werden
kann, ist offensichtlich.