Was die Polizei im Schanzenviertel erwartet hatte

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Erstveröffentlicht: 
13.07.2017

Brennenden Barrikaden, Menschen in Panik, eine Polizei in Lauerstellung: Was in der Nacht geschah, als die Schanze brannte, ist auch eine Woche später noch nicht vollends geklärt.

 

Als die Zivilfahnder eindringlich baten, aus Selbstschutz aus dem Schulterblatt abgezogen zu werden, die Festung verlassen zu dürfen, in die sich das Schanzenviertel verwandelt hatte, war der Moment der Wahrheit gekommen. „Geht da nicht rein, wir gehen raus!“, war die unmissverständliche Warnung an alle Kollegen.

 

Es war der Punkt, an dem die Erkenntnis reifte, dass dies ein Einsatz werden würde, wie ihn die Polizei nie zuvor in Hamburg zu bewältigen hatte. Die Nacht auf Sonnabend vergangener Woche, die Nacht, als die Schanze brannte, wurde zur Bewährungsprobe für die Einsatzkräfte. Erstmals berichtet ein Einsatzführer, der in der Nacht vor Ort war, in der WELT über die Schwierigkeiten vor Ort, das Vorgehen der Polizei und die Entscheidung, dass nur noch Spezialeinsatzkräfte Herr der Lage würden. 

 

Schwerverletzte, gar Tote befürchtet


Der Hilferuf der Aufklärer, die die Polizei im Viertel eingesetzt hatte, die Warnung der einsatzerprobten operativen Kräfte, die sonst schon so vielen heiklen Situationen getrotzt hatten, erreichte an jenem Abend nicht nur die Einsatzleitung. Er erreichte auch die zahlreichen Hundertschaften aus Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE), die rund um das Schanzenviertel immer wieder versucht hatten, über Nebenstraßen in das Viertel vorzudringen und doch immer wieder zurückgedrängt wurden.

 

Die für Demo-Lagen spezialisierten Einheiten der Bereitschaftspolizei, in diesem Einsatzabschnitt allein 1500 Beamte, waren bereits schwer getroffen: 200 Kollegen waren in den beiden Vortagen schon verletzt worden. Die Zahl der Verletzten sollte später fast auf das Doppelte ansteigen – auf 370 insgesamt. Die BFE-Truppen von Landespolizei, Bundespolizei und zehn weiteren Bundesländern hatten in den G-20-Tagen die Hauptlast der Auseinandersetzungen mit militanten Gipfel-Gegnern getragen. An diesem Abend befürchteten sie Schwerverletzte, gar Tote – und rieten, wie die Zivilfahnder, von einem weiteren Vordringen ins Viertel ab.

 

„Es war ein absolutes Dilemma“, berichtet der Einsatzführer: Auf der einen Seite erreichten die Polizei die Hilferufe verzweifelter Anwohner, die sich nicht aus dem Haus trauten, in ihren Wohnungen verbarrikadiert hatten, die befürchteten, die Flammen der brennenden Barrikaden würden auf Häuser überspringen. Menschen in Panik. Auf der anderen Seite standen die Befürchtungen der Einsatzkräfte: Vom Neuen Pferdemarkt, von der Lippmann- und der Altonaer Straße aus hatten die Einheiten Vorstöße gewagt und waren im Böller-, Stein- und Flaschenhagel zurückgeworfen worden.

 

Allein die beiden 10.000 Liter fassenden Wasserwerfer, die sich fast bis zum Eingang zum Schulterblatt vorgekämpft hatten, mussten zwei Mal ausgetauscht werden, weil ihnen das Wasser ausgegangen war. So etwas hatte es noch nicht gegeben. Ebenso wenig den Einsatz von Gasgranaten, die die Beamten abfeuerten, um nicht überrannt zu werden, als die Wasserwerfer zum Betanken abdrehten und sie unter Druck gerieten. Ein absolutes Novum in Hamburg. Den Einsatz von Gummigeschossen hatte die Einsatzleitung untersagt, wegen des Querschlägerrisikos. Mehrfach zogen Beamte ihre Waffen, ein Warnschuss fiel. 

 

Eindringliche Warnung vom Verfassungsschutz


„Die Schanze war zur Festung geworden“, sagt der Einsatzleiter. Auf den Straßen wurden Zwillen verteilt, Menschen rannten mit Eisenstangen umher, brachen das Steinpflaster auf, Gullydeckel wurden herausgelöst und die Sielgruben Fallen gleich überdeckt, erfuhr die WELT. Geschäfte wurden angegriffen, geplündert.

Auf den meisten Dächern und dem Gerüst des Hauses am Schulterblatt 1 entdeckten die Polizisten Bewaffnete, die die Polizisten unentwegt bewarfen. Hinzu kam eine eindringliche Warnung vom Verfassungsschutz, dass Polizisten an diesem Abend Zielscheibe werden sollten. Die Waffenfunde, die die Polizei bei Durchsuchungen in den Vorwochen, aber auch in den Stunden zuvor bei Festnahmen gemacht hatten, ließen nichts Gutes erahnen: Die Polizei befürchtete Molotowcocktails, verbaute Sprengsätze, Steinsperren, an denen selbst die Schützenpanzer stecken bleiben. Sie befürchtete, dass lange Drahtschlingen über das Schulterblatt gespannt würden, um die Einheiten aufzuhalten und sie dann mit Gehwegplatten von Dächern aus zu bewerfen. Sie befürchtete, das Schulterblatt sei ein einziger Hinterhalt.

 

„Wir hatten die Befürchtung, dass wir stecken bleiben, wenn wir einen typischen Hamburger Durchmarsch wagen“, sagt der Einsatzführer. Er betont allerdings auch: „Für uns bestand zu keinem Zeitpunkt die Option, nicht hineinzugehen.“ Solange jedoch keine Menschenleben direkt in Gefahr waren, sondern es bei Sachbeschädigungen blieb, war es eine Frage der Rechtsgüterabwägung – die letztlich in einer Entscheidung mündete: „Die Tatsache, dass wir die Dächer unter der Notwendigkeit des Schusswaffengebrauchs räumen mussten, ließ nur den Einsatz von Spezialeinsatzkräften zu.“

 

45 Minuten nach ihrer Alarmierung standen die österreichischen Cobra und sächsische SEK-Beamte am Schulterblatt, tasteten sich im Schutze eines Wasserwerfers vor und stürmten sieben Häuser mit gezogenen Waffen: „Wir haben Ablenkungspyrotechnik in den Gebäuden eingesetzt und geschlossene Türen mittels Schusswaffen mit spezieller Munition geöffnet“, erklärte SEK-Führer Sven Mewes der dpa. „Alle, die wir angetroffen haben, haben wir sofort auf den Boden gelegt, gefesselt und anschließend abführen lassen.“ Gegenwehr gab es keine. Während die SEK-Einheiten die Dächer räumen, rückten die BFE-Truppen am Boden vor, wo sie weiterhin heftigst attackiert wurden. Erst nach zwei Stunden war die Schanze geräumt. Ein Hubschrauber begleitete die Einheiten in Sichtkontakt in der Luft, suchte Dach für Dach mit seiner Wärmebildkamera ab. „Mit den Auseinandersetzungen am Boden konnten wir umgehen“, sagt der Einsatzführer. Doch die Gefahr von oben blieb. „Der Hubschrauber, das war unsere Lebensversicherung.“