Dmitrij Kapitelman ist für vier Wochen von Berlin-Neukölln in die sächsische Kleinstadt Bautzen gezogen. Folge 6: Im Kulturcafé treffen sich meine Mitbürger zur Party. Am Holzmarkt schlagen Nazis auf Flüchtlinge ein. Zum ersten Mal habe ich richtig Angst.
Von Dmitrij Kapitelman, Bautzen
Bürgerforum im Kulturcafé Steinhaus. Ich bin einer von dreizehn Teilnehmern in einem sterilen Seminarraum, in dem es nach Filzstift und abgestandenen Durchhalteparolen riecht. Ein Vertreter der Stadt ist gekommen, drei Studenten, drei Mittvierziger, sonst Senioren. Alle wollen Bautzen verbessern, keinem ist klar, wie. Vor allem die Angst vor rechter Gewalt soll aufhören. "Es kann doch nicht sein, dass 80 Extreme 40.000 Bürger in Geiselhaft halten!", klagt eine ältere Frau. Einer der Studenten fügt hinzu: "Viele trauen sich nicht, gegen Rechtsextremismus Farbe zu bekennen, weil wir keine funktionierenden staatlichen Sicherheitsbehörden haben!" Und ich frage mich, wo diese rechte Gewalt in den vergangenen elf Tagen eigentlich war. Jedenfalls nicht in meiner Nähe.
Bei der Halloweenparty (ebenfalls im Steinhaus) saß ich gelangweilt neben ein paar Flüchtlingen und als Vampire verkleideten Bautzenern, die sich über Bildungswege zum Informatiker austauschten. Und Sasha, der swingende Sorbe (den Spitznamen habe ich ihm beim Tanzen verpasst), quatschte von kultureller Kongruenz. Fast albern, dass zwei Mannschaftswagen der Polizei diese Veranstaltung absicherten. Unter den informatikaffinen Partygästen saß auch Moha. Als ich Moha das erste Mal traf, hockte er mit düsterer Miene am Korni und hörte harten Rap. Beim zweiten Mal Schnulzen von Sean Paul. Da redeten wir freundlich miteinander. Moha ist ein Neunzehnjähriger, der allein von Tripolis nach Bautzen kam. Kein Kind von Traurigkeit und doch ein trauriges Kind. Mit einem abgebrochenen alten und einem noch nicht begonnenen neuen Leben. Was er mit einer Musikbox und Beck’s vor dem Korni versucht auszutarieren.
Der Gesprächsleiter des Bürgerforums hat am Ende etwa fünfzig Stichwortkärtchen vollnotiert. Keine Ahnung, ob das Treffen produktiv war. Auf jeden Fall war es anstrengend. Eigentlich bin ich noch mit Viet zum Fußballschauen verabredet. Aber Viet stand heute schon um zwölf mit einer Bierflasche vor dem Edeka und dürfte inzwischen noch postfaktischer als sonst auf die Welt blicken. Sieht alles nach einem Dumm-Internet-Abend allein in meinem WG-Zimmer aus.
Als ich gegen neun Uhr abends nach Hause fahre, vorbei am Korni, sehe ich Moha zum vierten Mal. Er gestikuliert aufgeregt vor einem Polizeibeamten. Die zwei blonden Mädchen neben Moha weinen. Auch die fünf Teenager-Flüchtlinge, die danebenstehen, wirken verstört. Die Beamten nehmen von allen Personalien auf und laufen zurück zu den drei Streifenwagen, die in der Mitte des Kornmarktes parken. Hinter der Streifenwagenstaffel steht eine weitere Gruppe, etwa zwölf Personen, die deutsche Rockmusik hören und zwei Kampfhunde dabeihaben. Erst jetzt erkenne ich, dass auch Sasha bei den Flüchtlingen steht.
"Hast du gesehen, was hier passiert ist, Sasha?"
"Zwei Nazis haben die Asylis mit einer Pistole bedroht. Gab wohl einen kleinen Kampf."
Sasha schaut rüber zum anderen Ende des Platzes: "Die Asylis sollten echt bald heim. Drüben sammeln sich immer mehr Faschos."
Die "Asylis" weigern sich aber. Moha fuchtelt mit seiner Bierflasche, klopft sich auf die Brust. Inzwischen bin ich mir sicher, dass das da drüben Nazis sind. Einige tragen "Division Bautzen"-Pullover – eine bekannte rechtsradikale Vereinigung. Obwohl ihre Gruppe immer größer wird, fährt die Polizei weg. Zum ersten Mal habe ich richtig Angst in Bautzen. Die Flüchtlinge lassen sich von ihren deutschen Freunden überzeugen, dass es wirklich besser wäre, sich schnell in ihre bewachte Unterkunft zurückzuziehen. Als die Nazis registrieren, dass die Flüchtlinge gehen, teilen sie sich in kleinere Grüppchen auf und verschwinden in verschiedene Richtungen. "Wahrscheinlich peilen sie den Holzmarkt von beiden Seiten an, da müssen die Asylis lang, um zum Heim zu kommen", sagt Sasha. Wir beschließen, mit den Rädern hinterherzufahren.
Am Holzmarkt, gleich um die Ecke, ist ein Lidl. Die Flüchtlinge sind in den Lidl gegangen. Drei Streifenwagen stehen auf dem Parkplatz davor. Zum Glück, weil dort auch etwa 30 Nazis warten. "Bloß gut, dass die Polizei das alles im Blick hat, denn die Nazis werden ja nicht vor den Augen der Bullen ...", denke ich noch, als die Nazis sich auf die rauskommenden Flüchtlinge stürzen. Viele martialische und wenige panische Schreie. Etwas stürzt um, Steine fliegen. Alles geht zu schnell, als dass ich die Jagdszenen mit meinem klapprigen Nokia filmen könnte.
Den Flüchtlingen gelingt die Flucht. Auch weil die Polizei eingreift und nun ihrerseits den Nazis hinterherrennt. Die sich daraufhin schnell zerstreuen und in Hauseingängen, Nebenstraßen, Autos oder Büschen verstecken. Und plötzlich sind die Straßen menschenleer. Nur die blauen Sirenen bewegen sich offen. Sasha und ich suchen auf unseren Rädern die Gassen ab. Finden ein verbogenes Fahrrad, neben dem eine ausgelaufene Zweiliterpackung grünen Tees liegt. Etwas weiter treffen wir Mohas hysterisch weinende deutsche Freundin. Die wimmert, dass sie von zwei Männern geschlagen wurde, bevor sich der Mob auf Moha und seine Freunde stürzte. 400 Meter weiter treffen wir zwei der Gejagten. Sie stehen, noch heftig vom Sprint schnaufend, beim Auto zweier Zivilpolizisten. Moha ist verschwunden. Einer der Entkommenen ist ein 17-jähriger Afrikaner und nah am Zusammenbruch: "Wir kamen raus, und schon haben sie sich auf uns gestürzt. Mich vom Rad gerissen und beim Wegrennen mit einem Stein am Bein getroffen."
"Und Moha?"
"Moha versteckt sich irgendwo im Park."
Die meisten Nazis kehren innerhalb der nächsten Stunde zum Korni zurück. Sitzen und saufen ungestört. Andere stolzieren durch die Stadt. Ein Trio kommt mir direkt entgegen. Sie hören Reichsmarschmusik und johlen: "Wir haben die Bimbos allegemacht!" Sie sind sich offenbar sicher, dass die Stadt in dieser Nacht ihnen gehört.
Wieder in der WG, mutiere ich vom Gelegenheitsraucher zum Kettenqualmer. Und kann meine Verstörtheit kaum vor Katja und Knut verbergen. Katja kommt gerade glücklich strahlend vom Integrationsgassi mit Ernest. Deswegen erzähle ich ihr nichts. Knut schildere ich den ganzen Abend. "Das war leider nur eine Frage der Zeit", sagt er, seltsam beschämt, als wäre die Jagd seine Schuld. Wir versuchen gegen ein Uhr morgens Simpsons zu schauen, um den Abend zu desinfizieren. Mit mäßigem Erfolg.