Radikale Ratlosigkeit

Der Freitag 13/2017: Radikale Ratlosigkeit
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Erstveröffentlicht: 
30.03.2017

Gewalt Brennende Autos und zerschlagene Scheiben sind Taten linker „Chaoten“, heißt es. Doch die Militanz hat einen ernsthaften Kern

 

Von Christopher Wimmer

 

Wenn bei einer Demonstration Mülltonnen rauchen oder Schaufenster einer Bank zu Bruch gehen, wenn ein Castor blockiert oder zivile Mittelklassewagen angezündet werden, sind die Kommentatoren sich meist sofort einig: ein Akt von sinn- und zielloser Zerstörung, Gewalt, die im politischen Raum nichts zu suchen habe. Erst vor wenigen Tagen haben die Sicherheitsbehörden in Hamburg Alarm geschlagen: Zum G20-Gipfel am 7. und 8. Juli in der Hansestadt rechnet die Polizei mit 4.000 gewaltbereiten Autonomen und stellt für das Konferenzwochenende 14.000 Beamte bereit. In Blogs der radikallinken Szene wird unterdessen gar über 8.000 Demons­tranten spekuliert, von denen manche an­geblich auch aus dem Ausland, aus Frank­reich, Griechenland, Italien und Skandina­vien anreisen wollen, um die „rote Zone“ des Hamburger Gipfels gegebenenfalls mit Gewalt zu stürmen.

Bei der Schelte gegen – tatsächlich aus­geübte oder nur behauptete – linke Mili­tanz geht es um die klare Abgrenzung der Werte von Toleranz und Gewaltfreiheit von sogenannten Chaoten, die den libera­len Rechtsstaat und die freiheitlich-demo­kratische Grundordnung zerstören woll­ten. Wobei man zwischen Angriffen auf Menschen und auf Sachen unterscheiden muss. Denn Gewalt gegen Sachen gibt es im strengen Sinne nicht, der angemessene Begriff und der Straftatbestand lauten Sachbeschädigung. In der allgemeinen Me­dien- und Behördenrhetorik wird Gewalt jedweder Art jedenfalls immer als etwas verstanden, das mit Demokratie und Rechtsstaat unvereinbar ist.

Doch dieser idealistischen Vorstellung einer Gesellschaft, die ohne Gewalt aus­ kommt, steht die Gewalt der Polizei, des Militärs, der Justiz oder der Psychiatrie ge­genüber. Alle, die schon mehrmals die Mie­te nicht bezahlen konnten und aufmerk­sam verfolgt haben, wie Zwangsräumun­gen vonstatten gehen können, alle, die bei einer Demonstration schon einmal das Tränengas der Polizei in die Augen beka­men, wissen, dass auch der demokratische Rechtsstaat regelmäßig auf Gewalt zurück­greift, um die bestehenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten.

Das gespannte Verhältnis von strukturel­ler Gewalt des Staates auf der einen und dem gewaltsamen Widerstand auf der an­deren Seite ist nicht neu. In der politischen Linken wird es seit langem diskutiert. So haben sich etwa Walter Benjamin und Her­bert Marcuse ausgiebig mit der Frage der Gewalt als legitimes oder fragliches politi­sches Mittel beschäftigt, mit unterschiedli­chen Ergebnissen. Nachdem kürzlich eine linksautonome griechische Gruppe, die sich „Verschwörung der Feuerzellen“ nennt, Briefbomben an das Finanzministerium in Berlin und den IWF in Paris geschickt hatte und eine dortige Mitarbeiterin im Gesicht verletzt wurde, nimmt die alte Diskussion nun wieder Fahrt auf.

Von den 68ern und der RAF ...

Walter Benjamin verwies bereits 1921 in sei­nem Essay Zur Kritik der Gewalt darauf, dass für den liberalen Rechtsstaat nicht die Ge­walt per se das Problem darstelle – sondern das Ausüben von Gewalt durch jene, die außerhalb des Gewaltmonopols des Staates handeln. Doch auch diese Gewalt, die sich außerhalb des Monopols zum Beispiel in einem Generalstreik äußern kann, bleibt, schreibt Benjamin, notwendigerweise an das jeweils gegebene Rechtssystem gekop­pelt: Entweder sie kämpft für den Erhalt des Rechts, oder sie zersetzt das bestehende Recht, etwa wenn sie in eine Revolution mündet. Jedoch sei die revolutionäre Ge­walt nicht davor gefeit, neues Recht zu set­zen. Die Linke, welche die Revolution als „Tigersprung unter dem freien Himmel der Geschichte“ vorantreiben wolle, bleibe in einem Kreislauf aus Gewalt, Rechtsetzung und Herrschaft (etwa durch die Gefahr ei­nes neuerlichen Umsturzes) verhaftet. End­gültige Gerechtigkeit könne allein durch Gewalt nicht entstehen, sagt Benjamin.

Anders interpretiert sie Herbert Marcuse vor dem Hintergrund der Umbrüche um 1968. Für ihn gibt es ein Naturrecht auf Wi­derstand und Gewalt der Unterdrückten, „nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Men­schen sein wollen“. Auch wenn Marcuse das Naturrecht in Anführungszeichen setzt, sieht er im Hass auf die Ausbeutung und in der gewaltsamen Gegenwehr ein humanistisches Element. Für ihn kann es keine Befreiung ohne Hass und die daraus folgende Gewalt geben.

Hier lassen sich dann auch – zumindestimplizite – Bezugnahmen auf Marcuse so­wohl bei den 68ern als auch im Kontext der RAF sowie in Debatten der heutigen radikalen Linken finden. Die Frage, die sich dabei gegenwärtig herauskristalli­siert: Inwieweit kann Protestgewalt legi­tim sein, wenn sie heute doch kaum noch an die Erwartung eines revolutionären Umsturzes gekoppelt ist, sondern der Wi­derstand vor allem von globalpolitischer Hoffnungslosigkeit geprägt ist?

Angriffe auf Menschen – etwa auf Asylbe­werberheime – schienen in den vergange­nen Jahren eher von rechts gekommen zu sein, oder sie werden von liberalismus­feindlichen islamistischen Terroristen ver­übt. Doch neuerdings werden Handgreif­lichkeiten auch von links öfters themati­siert und zum Beispiel in den sozialen Medien diskutiert, teils mit erstaunlich viel Verständnis. 2016 wurden Sahra Wagen­knecht, Beatrix von Storch und Thilo Sarra­zin jeweils mit einer Torte angegriffen. Et­was handfester ging es in den USA zu: Am Rande der Amtseinführung von Donald Trump wurde der Vorsitzende der rechts­extremen Alt-Right-Bewegung Richard Spencer von einem linken Demonstranten vor laufender Kamera angegriffen. Wenige Tage später machte der Schauspieler David Harbour auf sich aufmerksam. Bei einer Rede anlässlich der SAG-Awards äußerte er sich unmissverständlich: „Wir werden manchen Menschen ins Gesicht schlagen, die versuchen, die Sanftmütigen, die Ent­rechteten und die Randständigen zu ver­nichten. Und wir werden das aus ganzem Herzen und mit Freude tun.“

Der Widerspruch gegen solche verbalen Gewaltaufrufe fällt derzeit selbst in der (links-)bürgerlichen Öffentlichkeit gering aus. Woher rührt dieses aktuelle Verständ­nis von Gewalt? Womöglich aus der inhalt­lichen Defensivhaltung der Linken. Ihr Pro­test konzentriert sich seit geraumer Zeit auf reine Abwehrkämpfe. Mittlerweile geht es selbst für radikale Linke letztlich darum, einen liberalen Konsens zu verteidigen: Asylbewerberheime werden beschützt, es wird gegen Freihandelsabkommen wie TTIP demonstriert. Eine positive linke Ge­generzählung gibt es aktuell nicht.

Militante Aktionen bieten immerhin eine Möglichkeit, die Sichtbarkeit für linke Politik zu erhöhen und wenigstens für Mo­mente aus einer bloß passiven Rolle her­ auszukommen. Das geflügelte Wort „Steine sind keine Argumente“ bekommt spätes­tens bei der Verteidigung von selbstverwal­teten Hausprojekten oder der Verhinde­rung von Naziaufmärschen eine andere Tönung. Falsch wäre unter gegenwärtigen Bedingungen jedoch eine überzogene Hoff­nung auf die Gewalt. Sie kann aktuell kei­nen Bruch mit der bestehenden Ordnung darstellen – sondern verbleibt überwie­gend auf einer symbolischen Ebene, auf der Entscheidungs- und Handlungsfähig­ keit der (überwiegend männlichen) Akteu­re beweisen werden können.

In diesem Zusammenhang läuft Mili­tanz immer Gefahr, Event zu bleiben und als Spektakel genossen – oder gar als Fe­tisch verdinglicht zu werden, wie es in der Schrift Der kommende Aufstand (Nautilus 2010) geschieht, die ein französisches „Un­sichtbares Komitee“ herausgab und die auch in bürgerlichen Feuilletons von der FAZ über die taz bis zur New York Times ausführlich besprochen wurde. Zum Bei­spiel die mittlerweile ritualisierte Gewalt zum 1. Mai oder die jüngsten griechischen Briefbomben: Sie können als etwas Fe­tischhaftes gefasst werden, denn trotz al­ler berechtigten Kritik, die man an der von IWF und Bundesfinanzministerium be­triebenen Austeritätspolitik haben kann, verbleiben solche Taten auf der Ebene der Symbolik beziehungsweise des individuel­len Terrors.

... bis zur „Eventisierung“

Trotz aller gegenwärtigen „Eventisierung“ kann sich militante politische Auseinan­ dersetzung durch eine doppelte Ernsthaf­tigkeit auszeichnen. Zum einen wird durch die Gewalt die Annahme des Einverstan­denseins mit der gegenwärtigen Gesell­schaft unmissverständlich aufgebrochen: Gewalttätige Handlungen versagen jener Gesellschaft radikal die Komplizenschaft. Sie halten die Differenz zum Bestehenden aufrecht, auch um eine mögliche Integrati­on in einen erneuerten „Aufstand der An­ständigen“ zu verhindern. Zum anderen kann die Linke durch Militanz ihre in Tei­len gepflegte Opferrolle ablegen, sie kann mit der Verherrlichung der eigenen Ver­wundbarkeit brechen – und Momente ge­nerieren, die zeigen, dass die herrschenden Verhältnisse selbst verwundbar sind.

Die Ablehnung jeglicher Gewalt mit dem Argument, sie sei „moralisch böse“, ver­stärkt jedenfalls die Verschleierung der sys­temischen Gewalt, die in kapitalistischen Gesellschaften alltäglich herrscht und zahl­reiche Opfer fordert, von den Toten im Mit­telmeer bis zu Obdachlosen in den Metro­polen. Gewalt kann (oder muss) unter be­stimmten historischen Bedingungen ein Mittel im politischen Kampf darstellen. Aber: Gerechtigkeit lässt sich nicht mit ihr allein und schon gar nicht automatisch herstellen. Der Kreislauf der Herrschaft muss nicht nur unterbrochen, es muss auch eine neue, radikalere Form der Demo­kratie entwickelt werden.

Das Enfant terrible der Gegenwartsphilo­sophie, Slavoj Žižek, schreibt am Ende seines Buchs Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen (Laika 2011): „Manchmal ist nichts zutun die äußerste Gewalt.“ Der Satz kann auf zweifache Weise interpretiert werden. Zum einen muss er als Kritik an all denen ver­standen werden, die das bestehende Un­recht hinnehmen und es damit verfesti­gen. Zum anderen kann es als Kritik derer gelesen werden, die glauben, durch blin­den Aktionismus grundlegende Änderung herbeiführen zu können.

Vielleicht ist die revolutionärste Gewalt aktuell nicht in brennenden Autos oder Briefbomben zu suchen, sondern in der kollektiven Weigerung, weiter unter den gegebenen gesellschaftlichen Spielregeln mitzuspielen. Sabotage durch Verweige­rung könnte eine Stoßrichtung sein. Wenn es gelingt, dies mit den Ideen von Freiheit, sozialer Gleichheit und Demokratisierung zu verbinden, statt in eine regressive Kul­tur- und Modernekritik zu verfallen, kann Gewalt progressiv wirken.