Strafen für häusliche Gewalt sollen in Russland milder werden

Erstveröffentlicht: 
26.01.2017

Russische Abgeordnete wollen die Strafen für Schläge gegen Familienangehörige mildern. Bereits jetzt reagiert die Polizei auf viele Fälle nicht. Menschenrechtler fürchten um das Leben vieler Frauen.

 

Konservative russische Abgeordnete sehen sich selbst gerne als Schützer von „traditionellen Familienwerten“. Russland sei nicht das „schwule Europa“ mit seinen liberalen Werten, lautet oft das Argument. Die traditionelle Ehe soll um jeden Preis verteidigt werden, sie steht in dieser Logik manchmal sogar über Kinder- und Menschenrechten. Als das Parlament im vergangenen Sommer eine Haftstrafe von zwei Jahren für Gewalt gegen nahe Verwandte einführte, empörte sich die Abgeordnete Jelena Misulina, das Gesetz sei „gegen Familien“ gerichtet. Jetzt wird diese Regel wieder abgeschafft.

 

Am Dienstag stimmte das Parlament in der zweiten Lesung darüber ab, bestimmte Formen der häuslichen Gewalt zu entkriminalisieren und Haftstrafen durch Ordnungsstrafen zu ersetzen. Falls Schläge keinen erheblichen Schaden für die Gesundheit der Opfer zur Folge haben, wird Ersttätern künftig nur eine Geldstrafe oder bis zu 15 Tage Haft drohen. Es besteht kein Zweifel, dass die Änderungen am kommenden Freitag in der dritten Lesung endgültig beschlossen werden.

 

„Die Folgen werden schlimm sein“, fürchtet Julia Antonowa. Die Juristin der Organisation „Russische rechtliche Initiative“, setzt sich für Opfer häuslicher Gewalt ein. Denn bereits jetzt sei die Reaktion der russischen Polizei und der Gerichte auf das Problem nicht adäquat. „Manche Frauen müssen zehn bis 20 Mal zur Polizei gehen. Ihre Anzeigen werden immer wieder abgelehnt, bis sich Menschenrechtsorganisationen oder Anwälte einmischen“, weiß sie aus Erfahrung. Schläge in der Familie würden nicht als ernstes Problem wahrgenommen. 

 

Opfer müssten selbst Beweise sammeln


Das Gesetz muss noch in einer dritten Lesung und vom Föderationsrat gebilligt werden. Kommt es durch, hätte das zur Folge, dass die Polizei nicht mehr dazu verpflichtet wäre, gegen Ersttäter zu ermitteln, falls Opfer „nur“ Kratzer oder blaue Flecken aufweisen. Die Fälle würden wie eine privatrechtliche Angelegenheit gehandelt. Das heißt, Opfer werden selbst dafür verantwortlich sein, Beweise gegen Täter zu sammeln und sich an ein Gericht zu wenden. Viele Frauen wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, andere fürchten sich. „Von der häuslichen Gewalt sind die Schwächsten betroffen, in den meisten Fällen besteht eine Abhängigkeit von Opfern und Tätern“, sagt der Anwalt Aleksej Parschin, der oft im Gericht Interessen betroffener Frauen vertritt.

 

Untätigkeit der Polizei führte bereits zu schlimmen Vorfällen, einer sorgte im vergangenen Jahr für besonders große Empörung: Eine Frau aus der Stadt Orjol rief im November die Polizei, weil ihr Ex-Freund, von dem sie sich gerade getrennt hatte, sie bedrohte. Die Polizei kam, wollte sich aber nicht in den Konflikt einmischen. „Machen Sie sich keine Sorgen, wenn er Sie umbringt, kommen wir, um die Leiche zu begutachten“, sagte ihr die Polizistin. Als die Patrouille weg war, prügelte der Mann seine Ex-Freundin zu Tode. Die Aufnahme des Gesprächs mit der Polizei landete später bei den Medien.

 

Nach UN-Angaben sterben jedes Jahr rund 14.000 Frauen in Russland durch Gewalt ihrer Ehemänner oder anderer Verwandter. Es gibt aber keine zuverlässige offizielle Statistik zur häuslichen Gewalt im Land. „Denn in den meisten Fällen wird das Problem verschwiegen“, sagt die Juristin Antonowa. Es gebe nicht genug Zentren und Organisationen, an die sich Opfer wenden können. „Oft verstehen Frauen nicht, dass gegen sie Gewalt angewendet wird“, sagt sie. „Viele Frauen haben Angst, dass sie die Familie zerstören, wenn sie den Gewalttäter, ihren Mann, anzeigen.“ 

 

„Der Staat schafft die Voraussetzung für stabile Familien“


Umso befremdlicher wirken für Antonowa angesichts dessen Kommentare von Abgeordneten, die die Entkriminalisierung der häuslichen Gewalt verteidigen: „Wenn Gewalttäter das hören, bekommen sie das Gefühl der Straflosigkeit.“ Etwa wenn der Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin am Dienstag sagte, mit dem neuen Gesetz „schafft der Staat die Voraussetzung für stabile Familien“, in deren Angelegenheiten man sich nicht einmischen wolle. Oder wenn die Abgeordnete Jelena Misulina im Parlament sagt: „So fürchterlich das Wort ‚Prügel‘ klingen mag, ist es in Wirklichkeit Gewalt ohne Schaden für die Gesundheit und sogar Gewalt ohne Gewalt.“

 

Andere Parlamentarier versuchten, das Gesetz zu verharmlosen und zu betonten, dass Eltern, die ihren Kinder als Erziehungsmaßnahme einen Klaps geben, nicht mit Haft bestraft werden dürfen. Ausgerechnet die Vorsitzende des Komitees für Familienangelegenheiten, Tamara Pletnjowa, erzählte dem Staatsfernsehen, sie habe einmal ihre beiden Töchter geschlagen. „Eine dafür, dass sie sich mit einem aus meiner Sicht schlechten Jungen traf. Die andere, weil sie nicht auf mich hörte. Ich quäle mich deshalb bis jetzt. Natürlich darf man Kinder nicht schlagen.“ Doch man müsse Verständnis haben, wenn „schlecht gebildete“ Eltern ihre Kinder mit Prügeln erziehen.

 

Die Parlamentarier beziehen sich auf eine Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, die extra durchgeführt wurde, nachdem das umstrittene Gesetz in der ersten Lesung gebilligt wurde. Angeblich befürworten 59 Prozent der Russen die Entkriminalisierung. Im Staatsfernsehen kamen in den vergangenen Wochen aber vor allem Befürworter des Gesetzes zu Wort. Und als die Gegner des neuen Gesetzes diese Woche eine Demo in der Moskauer Innenstadt organisieren wollten, erhielten sie von Behörden eine Absage. Die Begründung: Auf dem Bolotnaja-Platz, auf dem vor fünf Jahren Zehntausende protestierten, gebe es nicht genug Platz für die angekündigten tausend Teilnehmer.