Leipziger trainieren demonstrieren „Sie tun mir weh“

Erstveröffentlicht: 
09.01.2017

Leipzigs Linke sind nicht zimperlich. Dem im Connewitz beheimateten Netzwerk strömen ständig neue Mitglieder zu. Für sie werden Demonstrationstrainings organisiert.

 

Rund 60 Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren sind dem Aufruf des Aktionsnetzwerkes „Leipzig nimmt Platz“ gefolgt und um 19 Uhr in die Halle 5 gleich neben dem Connewitzer Kulturzentrum Werk II gekommen. Draußen herrschen minus 9 Grad; auch in der Halle ist es kühl. Einige schauen deshalb in dicker Jacke und mit Mütze auf dem Kopf auf eine Karte, die an die Wand gebeamt ist. „Das ist die geplante Route von Legida und hier sind die Treffpunkte der Gegendemonstranten vom Aktionsnetzwerk“, wird ihnen erläutert. „Die Karte findet ihr auch im Internet, sie wird aktualisiert, wenn sich die Route ändern sollte.“

 

Viele Zuhörer halten Flyer in Postkartengröße in den Händen, die stapelweise auf dem Boden liegen. Auf ihnen informiert ein „Ermittlungsausschuss Leipzig“ („EA“) über das richtige Verhalten bei Demonstrationen. „Geh nie allein auf eine Demo“, lautet ein Tipp. Denn später würden häufig Zeugen gebraucht. Auch Hinweise für den Fall einer Festnahme gibt es. „Ab diesem Moment sagst du keinen Ton mehr“, ist zu lesen. Eine Notfall-Telefonnummer ist ebenfalls abgedruckt. Denn der „EA“ kümmert sich um Festgenommene, besorgt für sie Anwälte.

 

In der Halle 5 wird jetzt ausführlich beschrieben, wie es erst gar nicht dazu kommt. „Ihr müsst Missverständnisse mit den Polizeibeamten vermeiden“, schärft der Leipziger Rechtsanwalt und Grünen-Landesvorsitzende Jürgen Kasek den Zuhörern ein. „Alle Deutschen können sich friedlich versammeln, ihr auch.“ Entscheidend sei, die eigenen Emotionen im Zaum zu halten. „Demonstrationen sind immer emotional und aufwühlend“, so Kasek. „Egal was passiert: Ruhig bleiben.“ Und: „Jede Diskussion mit Polizeibeamten auf der Straße werdet ihr verlieren.“

 

Auch die Kälte wird thematisiert. „Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt werden viele einen Schal dabei haben“, so der Anwalt. „Aber es gilt ein Vermummungsverbot.“ Wer seinen Schal über Mund und Nase ziehe, provoziere Sanktionen der Polizei. Und wenn ein Beamter dreimal die Aufforderung „Bitte entfernen Sie sich“ ausspricht, müsse dem entsprochen werden. „Sonst kostet das 100 Euro Bußgeld und 28,50 Euro Verfahrenspauschale.“ Sollte es dennoch zu einem Bußgeld kommen, könne Einspruch eingelegt und in die Akten eingesehen werden. „Jeder Mensch macht Fehler – auch Beamte“, so der Rechtsanwalt.

Gut eineinhalb Stunden geht das so – dann folgt das Praxistraining. Die Zuhörer lernen, dass bei Demos „gestanden, gesessen und gelaufen“ wird.

 

Besonders anspruchsvoll ist das Sitzen. Denn Sitzblockaden sind ziviler Ungehorsam und eine Straftat, wenn sie nicht nach Aufforderung beendet werden. Deshalb werden sie jetzt in Halle 5 geübt. Freiwillige dafür gibt es genug; sie setzen sich auf den kalten Hallenboden und verschränken ihre Hände unter den Kniekehlen. Dann kommen drei „Polizisten“ auf sie zu und versuchen, die Sitzenden wegzutragen. „Wir wenden jetzt Gewalt an“, sagen die Polizisten und ziehen den ersten aus der Blockade heraus. Das geht schnell, denn er hat sich nicht bei den anderen untergehakt. „Wer Widerstand leistet, bekommt eine Anklage – also kein Schlagen oder Treten“, wird den Demonstranten eingeschärft. Einige Blockierer lachen trotzdem und werden ermahnt. „In der Praxis werdet ihr Angst vor Hunden, Pferden oder Verletzungen haben“, heißt es. Und die Hemmschwelle der Polizei gehe auch irgendwann nach unten. „Die Polizei kennt Schmerzgriffe und schlägt auch“, ist zu hören. „Am besten schaut ihr den Polzisten in die Augen und sagt ihnen ,Sie tun mir weh’. Polizisten sind auch nur Menschen.“

 

Von Andreas Tappert