Institutionelles Wegschauen

Erstveröffentlicht: 
23.12.2016

Fall Jalloh erinnert an den NSU-Skandal

 

Von Susan Bonath

 

Verschwundene und manipulierte Beweismittel; zwei Prozesse, die zusammen fast vier Jahre währten und ein Verbrechen nicht einmal in Erwägung zogen; Mordermittlungen, die seit Jahren trotz vielfältiger Indizien und eines überschaubaren Verdächtigenkreises kontinuierlich ins Leere laufen: Der Fall Oury Jalloh erinnert in all seinen Facetten an den NSU-Skandal.

 

Dass die Sache vor Gericht ging, ja, überhaupt ermittelt wurde und wieder wird, ist maßgeblich der Oury-Jalloh-Initiative zu verdanken. Das lässt an den Mordfall Yangjie Li denken: Ob das tatverdächtige Paar, das die Studentin am 11. Mai grausam misshandelt und getötet haben soll, seit November vor Gericht säße, wenn chinesische Medien und die Botschaft der Volksrepublik keine Welle geschlagen hätten? Das darf bezweifelt werden. Denn die Eltern des Angeklagten sind Polizisten. Der Stiefvater leitete bis Juni das Dessauer Revier.

 

So wurde in zwei weiteren Todesfällen anders verfahren: Hans-Jürgen Rose starb 1997 kurz nach der Entlassung aus dem Dessauer Revier an inneren Verletzungen. Mario Bichtemann erlag in diesem Ende 2002 einem Schädelbruch. Interne Ermittlungen hatte die Polizei nach dem Feuertod Oury Jallohs eingestellt. Und auch im Fall Jalloh gilt: Wo der Staat nicht aufklären will, wird er nichts finden.

 

Dabei geben Tausende Seiten Ermittlungsakten eine lange Indizienkette her, die die offizielle Version von der Selbstanzündung ad absurdum führt: Ein Feuerzeug, das nie in der Zelle gewesen sein kann sowie Mediziner und Toxikologen, die von einem explosionsartigen Brandausbruch sprechen, sind nur zwei Beispiele dafür. Auch das langjährige Gebaren der Dessauer Staatsanwälte gegenüber jW zeugt von ihrem Unwillen, aufzuklären. Nur mit Druck sind der Behörde Standardsätze abzuringen. Anfragen werden regelmäßig ignoriert. Kaum anders geht die Staatsanwaltschaft mit den Anwältinnen der Opferfamilie um. Dabei gibt es einen schrecklichen Verdacht: Haben Polizisten den Geflüchteten misshandelt und anschließend verbrannt?

 

Die Trägheit verwundert dennoch nicht. Sollte sich herausstellen, was mehrere Experten nahelegten, schlüge der Skandal international Wellen. Zu klären wäre dann: Warum wies der Generalbundesanwalt Strafanzeigen wiederholt ab? Weshalb übten sich auch übergeordnete Landes- und Bundesministerien im institutionellen Wegschauen? Nach Attentaten, wie aktuell in Berlin, wird laut nach Sicherheit gerufen. Doch kaum jemand mag sich vorstellen, dass Beamte, die fähig sind, auf brutalste Weise ein Leben auszulöschen, weiterhin den »Freund und Helfer« mimen. Genau das ist in Sachsen-Anhalt aber sehr gut möglich.