Gehören die Sachsen auf die Couch?

Erstveröffentlicht: 
22.10.2016

Seit Wochen kriegen wir Sachsen überall und von allen Seiten ordentlich was auf den Deckel. Aber wie sollen wir damit umgehen, ohne in Minderwertigkeitsgefühlen zu ertrinken? Eine Handreichung.

 

Von Karin Großmann

 

Wir liegen auf der Couch und nehmen übel. Denn wir haben die Nase voll. Ständig wird auf uns Sachsen herumgehackt. Überregionale Medien tun so, als hätten sie keinen anderen Blitzableiter für aufgestaute Frustrationen und Wutgefühle. Wir sind ja nicht wehleidig und haben uns schon an manchen Schimpf gewöhnt. Es war nicht einfach, als die Preußen damals die Kreuzkirche in Dresden zusammenschossen. Und wir reagieren gelassen, wenn wieder mal ein Filmregisseur unsere weich gezeichnete Ausdrucksweise benutzt, um eine Figur ins Lächerliche zu ziehen. Mit unserer putzigen Sprachbehinderung können wir klaglos leben. Schließlich haben wir schon im Mittelalter bei der Erfindung des Meißner Kanzleideutsch ein Wörtchen mitgeredet.

 

Das macht uns stolz. Auch August der Starke macht uns stolz, der Wiederaufbau der Frauenkirche, die Erfindung des Kaffeefilters, Pulsnitzer Pfefferkuchen und die Friedliche Revolution, die ohne Sachsen sehr wahrscheinlich sehr viel weniger friedlich verlaufen wäre. Wir haben noch jeden Krieg verloren. Deshalb durften wir uns geliebt fühlen. Und deshalb empfinden wir das Beschimpftwerden jetzt umso kränkender. Wie einen Tritt vors Schienbein. Immer sind wir Sachsen an allem schuld. Das Fremdbild kollidiert mit unserem Selbstbild, und wir fragen uns: Geht es vielleicht ein wenig differenzierter? Kann nicht mal jemand unsere zwölf verschiedenen Rezepte für Eierschecke gut finden? Viel zu süß und zu weich? Na, dann eben nicht. Essen wir halt alleine auf unserer Couch, auch wenn der Kuchen nicht zur beleidigten Leberwurst passt.

 

Übelnehmerei und Trotz sind nicht die allersouveränsten Reaktionen, das weiß jeder nach einem erfolgreichen Ehekrach. So was vernebelt den Blick. Klare Gedanken sind dann nicht bei der Hand. Man fühlt sich verletzt und angegriffen in seinem Sosein und nicht nur wegen einer falsch zugeschraubten Zahnpastatube, sondern prinzipiell infrage gestellt. Das tut richtig weh. Es ruiniert die Beziehung. Herr Doktor Freud, übernehmen Sie!

 

Wir möchten gern all unseren Frust, unsere Minderwertigkeitsgefühle, die beschädigten Ichs, die Depression und den Zorn an Ihre weiße Wand projizieren. So einfach wird das nicht gehen? Da wird der Platz knapp? Wir haben es geahnt: So wenig, wie es eine kollektive Schuld gibt und einen kollektiven Stolz, so wenig gibt es ein kollektives Schuldbewusstsein. 

 

Hoffen wir ’s für die Braut


Wenn wir Sachsen jetzt pauschal angeraunzt werden als Ausländerfeinde und Nazifreunde, wenn wir verspottet werden, weil wir einen potenziellen Terroristen im Wohngebiet und danach für immer entkommen lassen, wenn wir alle verantwortlich gemacht werden für eine Regierung, die wir vielleicht nur teilweise oder gar nicht gewählt haben, dann reagieren wir darauf nicht gruppendynamisch. Selbst wenn sich manches Gleichgesinnte in den sozialen Netzwerken oder am Stammtisch zusammenklumpt: Am Ende geht jeder allein auf die Couch.

 

Mancher braucht das Analysemöbel auch gar nicht. Als Zugezogener oder Neugeborener muss man sich nicht gemeint fühlen. Wer sich für politischen Alltagskram nicht interessiert, wird auf Zuspruch oder Widerspruch sowieso verzichten. Auch junge Paare auf Hochzeitsreise haben anderes im Sinn. Aber schon bei der Anmeldung im Flitterhotel, wenn es vorwurfsvoll heißt: Ach, Sie kommen aus Dresden!?, als sei das ein unverantwortlicher Makel, dann holt sie das Problem wieder ein. Hoffentlich kann wenigstens die Braut eine harmlos-mittelfränkische Herkunft nachweisen.

 

Wir anderen Sachsen aber werden uns durch das kleine Einmaleins der Konfliktbewältigung durchbeißen: Nein, Kritik ist nie angenehm. Ja, jede Kritik enthält wichtige Informationen und also die Chance zur Veränderung. Wenn die Schimpfer von Medien wie Stern, Zeit oder taz nicht an uns interessiert wären, würden sie ihren Schimpf für sich behalten. Die zweifelhafte Aufmerksamkeit tröstet freilich nur wenig.

 

Da hilft weiter nichts als der genaue und selbstkritische Blick hinter den eigenen Gartenzaun. Da dürfte einiges zum Vorschein kommen: ein wenig Lauheit und etwas Feigheit, ein kleiner Alltagsrassismus, vage Vorbehalte und Verdächtigungen, Nichtwissen, Dünkel, falscher Nationalstolz – fortzusetzen nach Belieben. Und keine faulen Ausreden. „Die da oben“ sind nur so gut, wie „die da unten“ es wollen. Kurt Biedenkopf hat nicht an allem schuld. Er ist nicht mal ein echter Sachse.

 

Selbst wenn das „Sachsen-Bashing“ zu allgemein ist, als dass man sich als einzelner Sachse gemeint fühlen müsste – da ist offenbar ein wunder Punkt. Sonst würde nicht mancher getroffen aufjaulen. Die Reaktionen danach hängen vom Temperament ab und von der politischen Überzeugung. Einige Sachsen ziehen sich gekränkt zurück in die Defensive und hätscheln ihre Opferrolle. Andere antworten aggressiv, fordern Rache und das Recht auf Schusswaffengebrauch. Etliche fühlen sich vielleicht erst recht bestätigt und genießen sogar mit masochistischem Stolz die Rolle des Prügelknaben.

 

In jedem Genörgel und in jeder Lästerei steckt ein Körnchen Wahrheit. Das gelassen zu akzeptieren, wäre nach einem ersten Tag auf der Couch ganz schön. Es wird ja nicht der letzte sein.