Das neue Paradigma – Demokratischer Konföderalismus in Europa

Dies sind die Aufzeichnungen eines Gesprächs mit Riza Altun. Er ist Gründungsmitglied der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, Arbeiter_innenpartei Kurdistans) und war jahrelang für die kurdische Freiheitsbewegung in Europa aktiv.

Das Gespräch wurde in den Qandil-Bergen Kurdistans im September 2012 mit kurdischen Jugendlichen aus Europa geführt. Es handelt sich bei dem vorliegenden Text um im Nachhinein ausformulierte Gesprächsnotizen. Somit sind die Formulierungen nicht als Originalaussagen von Riza Altun zitierfähig. Die Mitschrift ist durchgängig in einer geschlechtersensiblen Schreibweise formuliert, die der geschlechtsunspezifichen Form im Türkischen entspricht.

Frage: Welche Analysen sind grundlegend, um eine zielführende politische Organisierung in Europa – und Deutschland im Speziellen – zu entwickeln?

Riza Altun: Zunächst ist es notwendig, sich der herausragenden Rolle Deutschlands bewusst zu werden. Zu verstehen, welche politische Kultur dort vorherrscht und woher sie ihre Ursprünge hat. Deutschland ist als eines der letzten europäischen Länder zum Nationalstaat geworden und es gibt dort eine sehr dynamische, ständige Weiterentwicklung des Geistes des Kapitalismus. Mit Hegels ideologischer Legitimation für den Nationalstaat und Kants Argumentation für Rechtsstaatlichkeit sind im deutschsprachigen Gebiet grundlegende Beiträge für die Ideologie des Kapitalismus verwurzelt. Was der politischen Kultur dort zu Grunde liegt ist die Überzeugung vom Staat als Souverän, der durch den Rechtsstaat legitimiert ist. Das folgt einem ideologischen Muster, in dem der Staat als Gott funktioniert, dessen Prophet das Recht ist. Die Rolle Deutschlands im Kapitalismus ist seit Bismarck beständig wichtiger geworden und führte zu zwei Weltkriegen und zum Faschismus. Der historische Werdungsprozess ist sehr wichtig um die Ideologie hinter der Politik Deutschlands zu verstehen. Dort ist es am wenigsten möglich, als freie Menschen zu leben.
Was wir bezüglich der kurdischen Freiheitsbewegung beobachten ist, dass seit Abdullah Öcalans Verhaftung Deutschland Vorreiter der Kriminalisierung der Bewegung ist.

Frage: Welche modernen Entwicklungen sind in der politischen Kultur zu beobachten?

Riza Altun: Das Ende des Realsozialismus hat die Wege für ein radikales Neudenken geebnet. Es gibt Strömungen, die ein Neudenken vorantreiben und die eurozentrische Sicht reflektieren, wie anarchistische Ansätze, Postmodernismus (Dekonstruktivismus) und Postkolonialismus. Diese Strömungen müssen zusammengedacht werden, sodass eine produktive Synthese entstehen kann. Es ist sehr wichtig zu reflektieren, dass die bestehenden politischen Bewegungen in Wohlstandsgesellschaften geboren sind und vieles überwinden müssen.

Jede_r politische Aktivist_in muss die aktuellen soziopolitischen Zustände analysieren, ihre historische Einordnung verstehen und die eigene politische Praxis dementsprechend überdenken. Bei Betrachtung der politischen Kultur in Deutschland wird deutlich, dass die bestehenden Rahmen keine Motivation, keine Anreize bieten um sich zu engagieren. Die Festgefahrenheit der politischen Organisierung bieten nicht den Reiz zur eigenen Initiative. Und was besonders für die Organisierung der Jugend zu betonen ist: Wo bieten die bestehenden Rahmen eine alternative Lebensperspektive? Hier setzt die Bewusstwerdung der eigenen gesellschaftlichen Rolle ein. Die eigene gesellschaftliche Rolle bei der Entwicklung einer persönlichen Zukunftsperspektive wird erkannt und anerkannt. Eine politische Jugend kann in dieser Gesellschaft nicht nur auf äußere Einflüsse und Angriffe reagieren, sondern sie muss ihre eigenen Ziele und ihre eigene Impulsivität entwickeln. Diese sollten nicht unverbindlich und wechselhaft umgesetzt werden, sondern in einer neuen Zielstrebigkeit.

Frage: Wie ist die politische Kultur in Europa und Deutschland bezüglich des neuen Paradigmas zu betrachten?

Riza Altun: Die politische Organisierung nach dem neuen Paradigma ist auf jede Gesellschaft übertragbar. So lassen sich die Prinzipien des Demokratischen Konföderalismus auch für Europa denken. Die politische Tradition einer Partei, die alle eint, muss grundsätzlich überwunden werden. Im neuen Paradigma organisieren sich alle selbst. Jede Schicht der Gesellschaft bildet ein selbstorganisiertes politisches Organ, das sich nach seiner selbstbestimmten ideologischen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen Zugehörigkeit selbst verwaltet. Es gibt viele Zentren; die Unterschiedlichkeiten organisieren sich dezentral. Kein politischer Organisierungsprozess sollte sich demnach auf die Zentren konzentrieren. So sollte eine politische Kraft, die das neue Paradigma vorantreiben will, sich als Initiatorin einer breiten Selbstorganisierung der gesellschaftlichen Gruppen sehen, zum Beispiel sollte eine Studierendenorganisation sich als Initiatorin der breiten Selbstorganisierung der Studierenden verstehen. Dabei geht es darum, sie zur autonomen Selbstorganisierung zu leiten und keinesfalls an sich selbst zu binden. Das ist das konföderale Paradigma. Und durch meine Erfahrung der letzten Jahre bei der Umsetzung dieser Form von gesellschaftlicher Selbstverwaltung frage ich mich heute nur noch: Wie soll das denn sonst funktionieren? Dabei ist es bei der anleitenden Funktion durch eine Initiatorin wichtig zu beachten, dass die Selbstorganisierung anderer nicht vorgeplant werden kann, die Selbstorganisierung und Selbststrukturierung muss von vornherein nach den Bedürfnissen der Mitglieder der gesellschaftlichen Gruppe geformt werden.

Grundlegend für ein demokratisches konföderales Verständnis ist, dass Unterschiede als gesellschaftliche Realität anerkannt werden. Vereinheitlichend zu organisieren widerspricht der Dynamik der Gesellschaft und besonders der Impulsivität der Jugend. Hier muss ein Umdenken stattfinden; das abgrenzende Betonen der Unterschiede gesellschaftlicher Gruppen muss überwunden werden um statt dessen eine kollektivierende Strukturierung nach Gemeinsamkeiten zu entwickeln. Eine gemeinsame Philosophie organisiert gesellschaftliche Unterschiede, dementsprechend kann ein Dach gebildet werden, unter dem sich die Unterschiede organisieren: Die Austauschplattform gesellschaftlicher Gruppen, in der Gemeinsamkeiten produktiv genutzt werden können. Gesellschaftliche Dynamiken werden durch enge Rahmen eingeschränkt, jede_r muss sich selbst unter dem Dach wieder finden, diese Struktur darf niemals aufgedrückt sein. Grundlage demokratischer Politik ist es, wirklich selbst wählen zu können und für die Wahlen anderer Verständnis zu entwickeln und sie verstehen zu lernen. Bei der gesellschaftlichen Organisierung ist es wichtig, eine moderne Mentalität zu entwickeln, die der Zeit entsprechende Vernetzungen anstrebt, wobei ich auch explizit auf das Internet verweisen will.

Ich möchte noch auf die Grundlage der autonomen Initiative für eine demokratisch konföderale Organisierung eingehen. Wir sollten freiheitlich und undogmatisch denken, autonome Initiative entwickeln. Niemandem sollte die Identität einer Gruppe aufgedrückt werden, wie es die Ideologie des Nationalstaats und sein assimilierender Charakter vorsieht. Persönlichkeiten gliedern sich nicht in eine Partei ein, sondern sie bilden sie. Eine gemeinsame Weltanschauung, ein gemeinsames Wertegerüst und Ziele binden Persönlichkeiten. Dabei möchte ich die Wichtigkeit der Selbst_bildung betonen.

Die Entwicklung von Eigeninitiative ist nötig. Ein_e Sympathisant_in ohne Eigeninitiative ist nur Aufgabenerfüller_in der Bewegung. Es sollen revolutionäre Persönlichkeiten aus der Selbstorganisierung heraus entstehen. Wichtig ist es, persönliche Impulse zu setzen. Eine intensive Selbstbildung muss stattfinden, um ein Selbstbewusstsein im Denken und Handeln zu entwickeln. Eine Selbstorganisierung lebt von den Einzelnen, die selbstbewusst initiativ sind und Verantwortung mutig übernehmen. Nur so kann eine Organisierung gesund und organisch wachsen und eine eigene Produktivität entwickeln. Niemand sollte einer bestehenden Bewegung „beitreten“ um den Herausforderungen der Selbstorganisierung zu entgehen, denn die Bewegung sollte für jede_n einzelne_n Ansporn zur Selbstorganisierung sein. Eine revolutionäre Persönlichkeit sollte selbstbewusst grenzüberschreitend handeln.

Jede_r sollte ihr_sein demokratisches Bewusstsein analysieren und im eigenen Leben weiterentwickeln. Antipathie entsteht, wenn Theorie und Praxis auseinander gleiten. Daher muss die Analyse ehrlich und schonungslos sein und die Praxis selbstkritisch weiterentwickelt werden. Das Außenbild und die Außenwirkung wie Name, Flagge und „Programm“ können nicht für sich sprechen: sie müssen immer wieder aktiv mit Inhalt gefüllt werden. Es kommt auf die Selbstbildung der Persönlichkeiten einer Bewegung an. Entscheidend ist ein politisches Selbstbewusstsein, ohne Selbstbewusstsein ist ein politisches Bewusstsein abstakt und konsequenzlos, da die eigene Rolle nicht erkannt wird. Das ist der Unterschied zwischen einer potentiell revolutionären politischen Persönlichkeit und einer vermeintlich politischen Identität.

 

Die Dynamik der Jugend widerspricht der klassischen Parteiorganisierung, mit diesem Rahmen und Denkmuster müssen wir brechen. Entscheidend ist das intellektuelle Potential einer suchenden Jugend bei der Entwicklung einer demokratischen Moderne. Wir müssen die Potentiale einer Gesellschaft genau analysieren. Die Jugend ist auf der Suche und auf vielfältige Weise rebellisch gegenüber dem Bestehenden und seinen Zukunftsperspektiven. Intellektuelle hinterfragen das Bestehende und erforschen seine Systematik. Intellektuell und militant, das sind die Potentiale, mit denen eine neue Gesellschaft erkämpft werden kann, wie es auch seit den Anfängen in der PKK der Fall ist. Maßgeblich für die Entwicklung eines Selbstbewusstseins der Jugend ist ein Bewusstwerden der Geschichte der Jugend. Mit der Geschichte der Jugend erkennen wir das Potential der Dynamik der Jugend, wie es z.B. 1929, 1968 sowie heute unter anderem im United Kingdom, in Chile, Griechenland und den nordafrikanischen Ländern der Fall ist.

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